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ZUR SACHE/004: Der Anti-Tritt oder die Emanzipation vom Pferdestand (MA)


Der Anti-Tritt oder die Emanzipation vom Pferdestand

von Helmut Barthel


Foto: © by MA-Verlag

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Die Kraft kommt aus dem Boden, heißt es allenthalben und in vielen Spielarten der klassischen und modernen Kampfkunstschulen.

Im traditionellen Karate zum Beispiel vermittelt der feste Stand (Zenkutsu-Dachi, Kiba-Dachi etc.) über die Hüfte die angestrebte Schlag- oder Trittwirkung. Der amerikanische Boxer Jack Dempsey (1895-1983) erkannte die Kraftquelle seiner Schlagtechnik als Falling Step. Selbst die wunderbare Metapher, dem Jahrhundertboxer Muhammad Ali zugeschrieben: "Flattern wie ein Schmetterling und Stechen wie eine Biene", kommt ohne die Regel jener aus dem Bodenkontakt stammenden Kraft nicht aus.

Keine Schule, kein Stil und kein System traditioneller und moderner Kampfsportarten verzichtet, wenn auch in unterschiedlichster Ausführung, auf den sogenannten Pferdestand. In der didaktischen Aufbereitung der technischen Realisierung und der Anwendung in der Kampfpraxis bietet der Pferdestand die abpralldynamische Struktur für diverse Stützachsen und übertragungswirksame Endpositionen. Schläge, Tritte, Würfe, Hebel, Halte-, Stoß- und Drucktechniken suchen über achsengelenkte Schwünge und aufprallgenerierte Ketten den statischen Fokus bzw. die Brücke optimaler Übertragungswirkung. Mit federnden oder hüpfenden Schrittwechseln wird mehr oder weniger rhythmisch im Kampfverlauf die Trefferwirkung aus dem Auf- und Abprall sowie schwungachsengelenkten Fokus zufalls- oder timinggerecht erzielt. Eine stabile Brückenfunktion soll erreicht werden, welche die Kraftquelle, also den kurzfristig festen Bodenkontakt (Pferdestand), mit der Kraftübertragungskonsequenz (die Destruktion und Auflösung der gegnerischen Statik, Stabilität und seines Angriffs- oder Verteidigungsvermögens) so effektiv wie möglich verbindet. Dieser Fokus verliert auch seine Gültigkeit in der kampftypischen Gemengelage kontrollentglittener Wuchten, Bremsen oder aufschlags- sowie kompensationsnotgelenkter Reflexe nicht und wird stets taktisch, strategisch oder konditionell angestrebt, um die Kontrolle zum Zwecke wirksamer Techniken wieder auf ihren Ursprung, nämlich die Steuerung stabiler Kraft und direkter Übertragungsketten zurückzuführen, das heißt auf den Ausgangspunkt genügend fester Abprall- oder druckgelenkter finaler Funktionsverknüpfungen, also den Pferdestand in seinen unterschiedlichsten Varianten. Konstitution und Kondition sind als Aufwandsträger und Kompensationskapazitäten den unvermeidlichen Bewältigungsverlusten geschuldet, gespeist von Kräften, Wuchten, Prozessen und Entfernungen aus einer entuferten und unlenkbaren Kette von Brüchen und Verbindungen, reaktiver Integrität und Entwicklungsfolgen, welche wiederum ihre Unschärfen und Wirkgrenzen aus der wenn auch vielfältigen Spiegelung und Wiederholung dieser Physik als zufallstolerantes und wahrscheinlichkeitssteuerndes Vermögen beziehen.

Während dieses konstitutionell und konditionell begrenzte Anpassungspotential auf die wiederholungsgestützte Spiegelung der als vertraut angestrebten Kraft und ihrer Übertragungsmöglichkeiten abstellt, die kultiviert in den Körperkünsten als fester Stand (Pferdestand) ihre Verankerung findet, sucht sich die Tan Tien Tschüan-generierte Anwendung so unbelastet und ungebrochen wie möglich von dem Streben nach Befestigung zu emanzipieren. Mit dem Bemühen, durch eine sich immer feiner und in der Stetigkeit auswachsende Druckverteilung in den Grenzen des eigenen Körpers dem Aufprall bzw. der Bodenfestigkeit zusehends entgegenzutreten, tritt das mehr und mehr an jene Stelle, wo Bewegungsabläufe sonst konventionell feste Punkte und ausgeklügelte Schwung- und Funktionsachsen zum bruch- und bremsgefügten Spiel schnellstmöglicher Wirkverfügbarkeit benötigen und trainieren, um im Gegensatz dazu fortverteilend, wo auch immer sich derartige Punkte und Prallwirkungen mit der Tendenz zur Befestigung bemerkbar oder erreichbar machen, diese so verzögerungsarm wie möglich aufzulösen.

Das Aussteuerungsvermögen und die Übertragungsgewalt des eigenen Körpers allerdings wächst dann doch, wenn auch zu Beginn nicht spektakulär oder auch nur annähernd so schnell wie in konventionellen Zielsystemen, gleichwohl bei andauernder Bemühung absehbar über die konstitutionellen und konditionellen Grenzen gewöhnlicher Effizienz weit hinaus. Bewährte Arbeitshilfen und Lernmittel konnten das Tan Tien Tschüan im Laufe seines Bestehens als Kampfkunstschule bei fortlaufenden Verbesserungen und Innovationen für eine wachsende Zahl von Studierenden, logisch aufeinander abgestimmt, zu einem hochinteressanten Forschungs- und Körperselbstentwicklungssystem generieren.

24. November 2014


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