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ANALYSE & KRITIK/326: Wir müssen uns das Recht auf Stadt zurückerobern


ak - analyse & kritik - Ausgabe 542, 18.09.2009

Wir müssen uns das Recht auf Stadt zurückerobern
David Harvey über den neuen Imperialismus und den Kampf gegen eine neoliberale Stadtpolitik

Interview von Mary Anne Walkley und Christin Bernhold


David Harvey, Professor für Anthropologie an der City University of New York, ist durch seine Arbeiten zum Neoliberalismus, seine in Anschluss an das Werk Rosa Luxemburgs entwickelte neue Imperialismustheorie sowie seine neomarxistische Kritik an städtischen Umstrukturierungsprozessen bekannt geworden. In der letzten ak wurde Harvey zur Immobilienkrise in den USA interviewt. Im hier folgenden zweiten Interview skizziert er die Verbindungen zwischen Imperialismus und Krieg und konkretisiert seine Überlegungen zu einem Recht auf Stadt, die er im Juli bei zwei Vorträgen auf Einladung der Basisgruppe Wilhelmsburg der Linksjugend ['solid] und des Instituts für Geografie in Hamburg dargestellt hat. Das Interview führten Mary Anne Walkley und Christin Bernhold.


ak: Die Finanzkrise ist omnipräsent. Bilden imperialistische Kriege, wie z.B. der Irakkrieg, eine Möglichkeit für die Kapitalistenklasse, auf die Krise zu reagieren und sie eventuell zu lösen?

David Harvey: Nein. Ich denke, dass die Kriege im Irak und in Afghanistan eine bedeutende Rolle in der Klassenformierung spielen, weil sich die USA zur Finanzierung der nationalen Konsumption und für ihre militärischen Abenteuer hoch verschulden mussten. Einer der Gründe, warum wir uns in dieser Krise befinden, ist, dass die USA sich stark verschuldet haben und andere Staaten, die einen Überschuss erwirtschaftet haben, sie finanzierten. Die USA haben durch ihre imperialistischen Strategien im Nahen Osten die Krise aufgeblasen. Deshalb konnte diese riesige, sehr ernste Wirtschaftskrise überhaupt erst entstehen.

ak: Sind Sie der Meinung, dass imperialistische Kriege ein systemimmanentes Phänomen des Kapitalismus sind oder entspringen sie den Absichten einer böswilligen Fraktion des Kapitals?

David Harvey: Die Herrschaftsbeziehungen im interstaatlichen System sind ein Kernbestandteil des Kapitalismus. Diese Herrschaftsbeziehungen können die Form direkter militärischer Interventionen, wie im Irak, oder die Form von bilateralen Abkommen, Institutionen, wie dem IWF, der NAFTA usw. annehmen. Alle diese Vereinbarungen verschaffen der herrschenden Macht Zugang zu Märkten, Rohmaterialien, Arbeitskräften, etc. Folglich sind geographische Herrschaftsbeziehungen immer Teil des Kapitalismus. Aber ihre Ausgestaltung variiert: Mal sind es direkte koloniale oder imperialistische Okkupationen, mal Handels- oder sonstige Abkommen mit den lokalen Eliten.

Ich denke, dass die derzeitigen Kriege auf den Bedarf an Öl und günstiger Energieversorgung zurückzuführen sind. In Anschluss an die große Depression nach 1945 war klar, dass es einer Basis für eine neue Form des Kapitalismus bedurfte und für diese war der Zugang zu günstigem Öl unerlässlich. Ich glaube nicht, dass Roosevelt auf seiner Rückreise von der Konferenz in Jalta 1945 zufällig einen Zwischenstopp in Saudi Arabien einlegte und dort einen besonderen Vertrag mit der saudiarabischen Regierung abschloss. Die USA garantierten ihre Unterstützung für das Regime in Saudi Arabien im Austausch für einen sicheren Zugang zu billigem Öl. Dieser Deal war für die 1950er und 1960er Jahre wichtig, und seine Bedeutung nahm in den Folgejahren weiter zu.

Eine Sache möchte ich jedoch klarstellen: Die USA sind nicht militärisch und politisch im Nahen Osten aktiv, weil sie das Öl nur für sich alleine beanspruchen wollen. Sie wollen, dass der globale Kapitalismus mit billigem Öl arbeiten kann. Und als führende imperialistische Macht haben die USA den Auftrag, im Interesse des weltweiten Kapitals sicher zu stellen, dass die Ölpreise stabil und günstig sind und bleiben. Dementsprechend ist die stetig ausgedehnte Anwesenheit der USA in der Region nach 1945 für die Stabilisierung des Kapitalismus in den letzten 50 Jahren entscheidend. Der militaristische Imperialismus ist ein Teil des geopolitischen Kampfes, um das Überleben des Kapitals zu gewährleisten.

ak: Warum halten Sie weiterhin an Imperialismusbegriff und -theorie fest, um verschiedene Strategien territorialer Ausbeutung zu beschreiben?

David Harvey: Ich bin an spezifischen Vorgehensweisen interessiert, die z.B. die USA in den letzten 50 Jahren genutzt haben: Manchmal waren es direkte imperialistische Invasionen, manchmal Umstürze, wie z.B. in Nicaragua, oder militärische Coups, je nach Bedarf. In bestimmten Fällen kommt es zu roher imperialistischer Gewalt.

Darüber hinaus ist es aber notwendig zu erkennen, wie die USA ihre Hegemonie ausgeübt und Zustimmung zu ihr organisiert haben. Diese Zustimmung konnte während des "Kalten Krieges" leicht aufrechterhalten werden. Seit 1990 hat die Legitimation der US-Hegemonie ein wenig nachgelassen. Der "Krieg gegen den Terror" soll gegenwärtig den "Kalten Krieg" als Strategie ablösen und die USA als Führungsmacht wieder einsetzen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass viele Menschen nicht von dieser Strategie überzeugt sind. Es ist auch interessant, dass Barack Obama diesen Begriff "Krieg gegen den Terror" nicht verwendet und andere Wege nimmt, um die US-Hegemonie wiederherzustellen.

ak: Versucht Barack Obama denn die Kämpfe innerhalb der imperialistischen Kapitalistenklasse zu schlichten oder verfolgt er einen grundsätzlich neuen Weg?

David Harvey: Das außenpolitische Establishment der USA hat anerkannt, dass der "Krieg gegen den Terror" Alliierte wie Deutschland und Frankreich nicht überzeugt hat. Er ist nicht einmal in solchen Fällen wie dem Libanon-Krieg oder in Bezug auf die Hamas überzeugend gewesen. Deshalb verfolgt die Obama-Administration einen neuen Ansatz, mit dem sie aber das gleiche Ziel wie ihre Vorgänger erreichen will: die US-Hegemonie. Die aktuelle Regierung will eine Koalition zusammenbringen, die gemeinsam auf die Widersprüche gegen die Politik des Westens reagiert. Diese Widersprüche werden nicht nur durch die Politik der USA erzeugt, sondern auch durch die Europas. Obama will verhandeln, weil er und andere festgestellt haben, dass die hegemoniale Herrschaft nicht besonders gut funktioniert hat, als man die offene Konfrontation suchte. Selbst in den USA sagen die Menschen, dass der "Krieg gegen den Terror" die Welt unsicherer gemacht habe. Und ein Flügel des außenpolitischen Establishments hat das realisiert.

ak: Was ist das "Neue" am neuen Imperialismus, von dem Sie sprechen, verglichen z.B. mit den Darstellungen Luxemburgs oder Lenins?

David Harvey: Die traditionellen Imperialismustheorien handelten von den Kämpfen zwischen den führenden kapitalistischen Mächten. Sie lieferten die Erklärungen für den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, die eindeutig imperialistische Kriege waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich der Imperialismus und entsprechend auch die Imperialismustheorie gewandelt. Imperialismus bezeichnete die Ausbeutung des globalen Südens durch den globalen Norden. Folglich haben die innerimperialistischen Konflikte abgenommen und die imperialistische Bestrebungen konzentrierten sich auf die Ausbeutung des globalen Südens.

Seit 1970 und insbesondere seit dem Ende des "Kalten Krieges" konnte man den Aufstieg der Schwellenländer ebenso beobachten wie den der multinationalen Konzerne, die ohne Rücksicht auf nationale Grenzen operieren. Unter diesen Umständen macht auch das Verständnis des Imperialismus wie in der Nachkriegszeit, in der man von einer "ersten" und "dritten" Welt sprechen konnte, keinen Sinn mehr. Das Neue am neuen Imperialismus ist für mich die Art und Weise, wie territoriale Herrschaft ausgeübt wird. Sie veränderte sich um 1970 und wurde komplexer. Die Konzepte einer "ersten" und "dritten" Welt treffen nicht mehr den Gegenstand. Dennoch gibt es weiterhin komplizierte militärische und politische Herrschaftsbeziehungen, bspw. zwischen Europa, Ostasien und Nordamerika.

China z.B. schließt mit afrikanischen Staaten momentan zahlreiche Verträge und ist auch in Lateinamerika präsent. Die Handelsbeziehungen mit Lateinamerika wuchsen um das Zehnfache. Dementsprechend existieren asymmetrische Beziehungen zwischen China, Afrika und Lateinamerika, die eine imperialistische Struktur bekommen haben, obwohl sie weder durch direkte militärische Macht noch durch den Gebrauch internationaler Institutionen wie des IWF charakterisiert sind.

Im meinem Buch spreche ich von kaskadenartigen Imperialismen, die entstanden sind, als Südkorea und Taiwan Kapitalüberschüsse verzeichneten und begannen, sie in Übersee zu investieren. Taiwanische Unternehmen organisieren in Zentralamerika die Produktion für US-amerikanische Konzerne. Diese Struktur ist deutlich komplizierter als früher. Nordamerika beauftragt Taiwan, um in Zentralamerika zu produzieren.

Der Imperialismus wird heute auf eine andere Art und Weise ausgeübt und die Herrschaftsbeziehungen sind wesentlich komplexer als in der klassischen Periode, in der Lenin und Luxemburg ihre Werke schrieben. Was sie damals schrieben, war genau richtig für ihre Zeit, aber es war in der Zeit nach 1945 nicht mehr treffend. Die Wahrscheinlichkeit eines Krieges zwischen den führenden kapitalistischen Staaten ist heute gering. Die Wahrscheinlichkeit für den Einsatz von Gewalt zur Wahrung von Sicherheit und zur Unterdrückung aller Bewegungen in Asien, Lateinamerika usw., die Widerstand gegen den Kapitalismus leisten, ist hingegen sehr hoch. Mit dem "Krieg gegen den Terror" werden genau diese Ziele verfolgt. Es gibt eine neue Struktur, die wir neu interpretieren müssen, anstatt sie durch einen einfachen Rückgriff auf Lenin oder Frank (1) zu analysieren. Man muss also die gegenwärtige Situation betrachten und eine neue Interpretation der geographischen und geopolitischen Beziehungen erarbeiten.

ak: Kann man denn heute dennoch etwas von Rosa Luxemburg lernen?

David Harvey: Natürlich kann man noch zahlreiche Dinge von ihr lernen. Man kann sich von den Texten in Bezug auf ihre Entstehungszeit inspirieren lassen. Wenn Luxemburg all' diese Dinge erkennen und denken konnte, dann können wir das heute auch. Mit anderen Worten: Wir können in ihre Fußstapfen treten. Aber die derzeitige Situation ist offensichtlich eine Andere.

Ich lernte, trotz meiner vollkommen anderen Analyse des Marxschen Hauptwerkes, dem Kapital, von Luxemburg z.B., dass die so genannte "ursprüngliche Akkumulation" nicht eine einmalige Angelegenheit ist, sondern ein sich beständig wiederholender Prozess der kapitalistischen Systems. Ich dachte darüber nach und kam zu dem Ergebnis, dass sie Recht hat. Deshalb spreche ich von "Akkumulation durch Enteignung" und betrachte sie als einen fortlaufenden Aspekt der kapitalistischen Ökonomie. Als ich darüber nachdachte, untersuchte ich einige Daten und kam zu der Schlussfolgerung, dass sie ein zentraler Teil des Neoliberalismus ist. Seit den 1970er Jahren hat die "Akkumulation durch Enteignung" schrittweise zugenommen. Es hat sie immer im Kapitalismus gegeben, aber durch die Verringerung des Gemeineigentums, die Privatisierung des Wassers usw. ist sie im Neoliberalismus wesentlich bedeutender geworden.

ak: Karl-Heinz Roth z.B. geht davon aus, dass durch dieselben Prozesse, die sie mit "Akkumulation durch Enteignung" beschreiben, eine weltweite Proletarisierung forciert wird. Sie fassen mit diesem Begriff Vermögensdiebstähle der Kapitalisten am Proletariat. Lassen sich diese Auffassungen miteinander in Einklang bringen?

David Harvey: Ja und Nein. Ich denke, man muss zwei zusammenhängende Aspekte unterscheiden. Der eine ist der Prozess der "ursprünglichen Akkumulation", wie Marx ihn nannte. Wenn man z.B. die Formierung des chinesischen Proletariats betrachtet, könnte man sagen, dass es sich dabei um einen klassischen Prozess der ursprünglichen Akkumulation handelt. Die Bauern werden von ihrem Land vertrieben, ziehen in die Stadt und werden Teil des urbanen Proletariats. In diesem Sinne ist die Zerstörung der Landbevölkerung weltweit Teil der Privatisierungen und einer "ursprünglichen Akkumulation", die der in England des 15. und 16. Jahrhunderts ähnelt.

Dann gibt es allerdings noch einen zweiten Aspekt, den man am Beispiel der Zwangsverkäufe von Häusern in den USA erklären kann. Vier Millionen, überwiegend afroamerikanische Menschen mit geringem Einkommen verloren auf diesem Weg ihr Eigenheim. Das ist der größte Vermögensverlust in der gesamten Geschichte der afroamerikanischen Bevölkerung. Sie verloren ihre Wohnungen, während die Wall Street Bonuszahlungen und Gehaltszuschläge im Wert von 13 Milliarden US-Dollar ausschüttete. Auf der einen Seite am unteren Ende der Einkommensskala verlieren die Menschen ihr Vermögen und auf der anderen Seite am oberen Ende werden riesige Summen Kapital akkumuliert. Menschen, die nicht erst neuerdings dem Proletariat angehören, werden Dinge gestohlen, die sie historisch gesehen erst vor kurzem erkämpft haben. Ein anderes Beispiel sind die Rentenfonds. Menschen haben sich Renten erkämpft und dachten, dass sie eine sichere Zukunft hätten, aber plötzlich ist ihre sichere Zukunft ausradiert worden.

Genau genommen stellen diese Räubereien einen Versuch der "Akkumulation durch Enteignung" dar. Deshalb benutze ich sie auch als eigene Kategorie, um einen Prozess zu benennen, in dem die herrschende Klasse und insbesondere die Bänker andere Menschen bestehlen.

ak: In ihren Publikationen befassen Sie sich auch mit neoliberaler Stadtentwicklungspolitik. Wie sieht diese Politik aus und welchem Zweck dient sie?

David Harvey: Ein Teil der neoliberalen Taktik war die Dezentralisierung von Entscheidungen auf die Ebene der Städte. Städte sollten, wie ich es nenne, unternehmerische Einheiten werden, die miteinander konkurrieren. Der interurbane Wettkampf, den der Neoliberalismus verschärft hat, soll dazu dienen, dass Städte den Unternehmen die besten Bedingungen bereitstellen, z.B. durch Subventionierung, die die Bevölkerung bezahlt. Dieser harte ökonomische Konkurrenzkampf begann in den 1980er Jahren. Die Städte treten an Konzerne heran und sagen: Wir wollen, dass ihr in unsere Stadt investiert. Und die Konzerne fragen: Was werdet ihr uns dafür geben? Als arme Stadt antwortet man: Wir geben euch alles. Wenn man San Francisco heißt, muss man vielleicht nicht ganz so unterwürfig reagieren, aber im Prinzip ist es dasselbe.

Die Städte mussten zunehmend eigenständig handeln und erhielten beständig weniger Steuergelder von den Landes- und Bundesregierungen. Und dafür veranstalteten sie alle möglichen verrückten Dinge. In Deutschland wurde z.B. das so genannte grenzüberschreitende Leasing eingeführt. Es stellte sich heraus, dass es in den USA große Steuererleichterungen als Anerkennung für Investitionen in anderen Staaten gibt. Folglich hat die Stadt Berlin ihren gesamten Fuhrpark an US-Investoren verkauft und least ihn nun zur Nutzung wieder. Die US-Investoren erhielten ihre Steuererleichterung und teilten sie mit der Stadt Berlin. Sie bekam rund 19 Millionen US-Dollar. Aber dafür musste die Stadt einen komplizierten Vertrag unterzeichnen, auf Grund dessen sie nun 200 oder 250 Millionen US-Dollar an zusätzlichen Sicherheiten aufbringen muss. Diese Sicherheiten gewährt der Stadt Berlin und keine Bank, weil sie zuvor von AIG, Lehman Brothers und vergleichbaren Konzernen, die nun bankrott sind, gewährt worden waren. Deutsche Städte müssen nun teuer für diese grenzüberschreitenden Leasingdeals bezahlen.

ak: Stimmen Sie der These zu, dass Kriege und Stadtumstrukturierungsprozesse im Prinzip zwei Seiten derselben Strategie zur Kapitalakkumulation sind?

David Harvey: Nicht notwendigerweise. Die neoliberale Dezentralisierung ist zuerst in den USA tief greifend vollzogen worden. Es folgten Frankreich und England. Dort hat der Neoliberalismus die geographische Konkurrenz zwischen den Städten verschärft. Um nur ein Beispiel zu nennen: zwischen New York und London herrscht ein intensiver Wettkampf um Finanzdienstleistungen. Im Zuge des Deregulierungsdrucks insbesondere in den letzten 15 Jahren hat erst London Bestimmungen für den Finanzsektor teilweise dereguliert und daraufhin New York. Auf diese Weise hat das globale Kapital die beiden Finanzzentren gezielt gegeneinander ausgespielt. Es ist erst drei Jahre her, aber immer noch beeindruckend. Der Bürgermeister von New York City hat einen Bericht über die Zukunft und die Finanzdienstleistungen der Stadt herausgegeben, in dem er sich darüber beklagt, dass die Finanzdienstleistungen in den USA verglichen mit denen Londons überreguliert seien. Damit New York konkurrenzfähig bleibt, sollte der Kongress eine ganze Reihe von Gesetzen verabschieden, um die Deregulierung noch weiter zu treiben, als es bereits geschehen ist. Aber niemand würde heute behaupten, dass das funktioniert hätte.

Das ähnelt den imperialistischen Strategien, die durch internationale, von den USA und anderen führenden kapitalistischen Mächten kontrollierten Finanzorganisationen, wie dem IWF, ausgeübt werden. Die USA und andere nutzen ihre Macht, um z.B. Strukturanpassungsprogramme überall auf der Welt durchzusetzen. Und wenn man sich bspw. den Finanzcrash in Ost- und Südostasien 1997/98 anschaut, dann ist es den Finanzinstitutionen tatsächlich gelungen, eine Art kreative Zerstörung zu organisieren, von der sie enorm profitiert haben. Die erbarmungslose Konkurrenz führte dazu, dass die internationalen Institutionen viel Reichtum aus diesem Teil der Erde saugten. In Indonesien passierte ähnliches: erst wurden Kredite an Firmen vergeben, die pleite gingen, nur um dann vom US-amerikanischen, japanischen und europäischen Kapital gekauft zu werden. Einige Jahre zogen ins Land, bis sich die Wirtschaft erholt hatte, und daraufhin wurden die Unternehmen mit hohen Profiten wieder verkauft. Auf diese Weise wurde die geographische Konkurrenz 1997/98 ausgetragen, eine Menge Geld aus Indonesien abgezogen und an die Wall Street transferiert. Das ist "Akkumulation durch Enteignung" auf internationaler Ebene. Dies ist dem Wettkampf zwischen Städten sehr ähnlich.

ak: Wie kann man der neoliberalen Stadtentwicklungspolitik begegnen, die Sie als Klassenkampf von oben bezeichnen?

David Harvey: Es gibt viele Wege, die wir gehen können. Wir befinden uns mitten in einer Krise des Finanzsystems, die eine urbane Basis hat. Die Krise ist eine urbane Krise, die eine Finanzkrise verursacht hat. Diese hat wiederum eine globale Krise hervorgerufen. Ich habe von Beginn an gesagt: wenn wir etwas gegen die Krise unternehmen wollen, müssen wir die urbane Krise beheben.

Die Zwangsversteigerungen nimmt massiv zu. Der Wohnungsmarkt ist destabilisiert. Und man hört immer wieder von giftigen Wertpapieren der Banken, aber nichts passiert. Ich bin der Meinung, dass die Krise dort gelöst werden muss, wo sie entstanden ist: in der Stadt. Dafür muss aber die herrschende, neoliberale Stadtentwicklungspolitik gestürzt werden. Aus der Makroperspekive ist dies der sicherste Weg. Aber selbstverständlich wollen die Verantwortlichen das nicht, weil die Herrschaftsstrukturen den Neoliberalismus brauchen. Sie wollen die Banken und die Kapitalistenklasse retten, aber nicht die Menschen. An der Basis herrscht in einigen urbanen Gebieten der USA großer Unmut. In den USA, aber auch in anderen Staaten, beginnt die Politik, auf die urbane Krise zu reagieren. Aber die Bewegungen sind in diesem besonderen Moment nicht sehr stark. Das liegt unter anderem daran, dass die Menschen das neoliberale Ideologem der Eigenverantwortung verinnerlicht haben.

Vor einigen Tagen habe ich eine Untersuchung gelesen, für die Betroffene gefragt wurden, warum sie ihre Wohnungen verloren hätten. Sie antworteten, es sei ihre Schuld gewesen, sie hätten einfach kein Glück gehabt, ihren Job verloren, ihr Sohn sei krank geworden und andere verrückte Dinge. Sie interpretierten die Krise und ihren Vermögensverlust nicht als ein Problem des Systems, sondern machten sich selbst oder ihr Pech dafür verantwortlich. Es muss viel ideologiekritische Arbeit geleistet werden. Die Menschen müssen verstehen, dass es ein Problem des Systems und nicht ihr individuelles Problem ist. Für die Lösung dieses Problems brauchen wir auch eine Antwort auf das falsche System. Die politische Arbeit beginnt gerade in der Praxis mit einer zaghaften Besetzungsbewegung. Die Menschen, die ihre Häuser verloren haben, kehren zurück und ziehen entgegen der bestehenden Eigentumsrechte wieder in ihre Häuser ein. Aber für all' diese Dinge benötigen wir mehrere Jahre Zeit.

In vielen Städten gibt es soziale Bewegungen. Wir haben in New York City ein "Recht auf Stadt"-Bündnis, in dem viele Organisationen zusammenkommen und versuchen, eine Plattform zu verschiedenen Punkten zu erarbeiten. Z.B. schlagen wir vor, dass neu gebaute, leer stehende Wohnungen in Sozialwohnungen umgewidmet werden, damit Obdachlose dort wohnen können. Allein die Tatsache, dass dies vorgeschlagen wird, ist ein progressives Moment, weil es die Aufmerksamkeit der Menschen dafür gewinnt, dass die Obdachlosenzahl in New York City sich in den letzten drei bis vier Jahren verdoppelt hat. Das ist verrückt und irrational, denn in derselben Zeit gab es viele leer stehenden Wohnungen. Indem man solche Vorschläge macht, kann man die Leute dazu bewegen, über die Irrationalitäten des Kapitalismus nachzudenken.

ak: Was muss man sich unter dem "Recht auf Stadt" vorstellen?

David Harvey: Bei dem "Recht auf Stadt" geht es darum, dass die Menschen, die in einer Stadt leben, das Recht haben sollen zu entscheiden, wie die Zukunft ihrer Stadt und das Leben in ihr gestaltet wird. Es handelt insbesondere von der Gestaltung einer anderen Stadt, in der Entscheidungen nicht von den Stadtentwicklern, den Geldgebern und der Bourgeoisie getroffen werden, wie es heute üblich ist. Sie besitzen momentan das Recht auf die Städte. Wir wollen uns dieses Recht zurückerobern und es zu einem Recht aller Menschen machen.

ak: Wie soll dieses Recht gefüllt werden? Ist die partizipative Haushaltspolitik wie in Porto Alegre ein Modell?

David Harvey: Eine partizipative Haushaltsgestaltung ist eine Möglichkeit, das "Recht auf Stadt" zu etablieren. In der brasilianischen Verfassung gibt es eine "Recht auf Stadt"-Klausel, die aber in weiten Teilen Brasiliens nicht umgesetzt wird. Aber es gibt sie. Und die sozialen Bewegungen drängen auf ihre Implementierung. Im November wird der Stadtrat von New York City neu gewählt und die Gruppe, in der ich aktiv bin, entwickelt Forderungen für Obdachlose, wie die Umwandlung von leer stehenden Häusern in Sozialwohnungen usw. Das sind auch Möglichkeiten, das "Recht auf Stadt" inhaltlich zu füllen. Wichtig ist die Entwicklung von öffentlichen Räumen oder städtische Gemeinplätze, wie wir es nennen. Es geht dabei darum, wie städtische Einrichtungen in offene Einrichtungen und damit zu Gegenräumen umgewandelt werden können. Z.B. könnten Schulgebäude nach Schulende für das Stadtteilleben geöffnet werden und die Stadt müsste den Zugang zu den Gebäuden gewährleisten. "Das Recht auf Stadt" ist eine Dachidee. Im Falle New Yorks bringt sie Antigentrifizierungsgruppen, Obdachlosenorganisationen, Organisationen, die sich für sozialen Wohnungsbau einsetzen, sowie Schwulen- und Lesbenorganisationen, die sich für die Einrichtung von Räumen einsetzen, in denen sie nicht der Belästigung durch die Polizei ausgesetzt werden, an einen Tisch.

ak: Handelt es um ein bürgerliches "Recht auf Stadt"?

David Harvey: Nein, es ist ein kollektives Recht von Organisationen, auf das sie sich beziehen können, um gehört und aktiv an einem Aufbau einer anderen Stadtpolitik beteiligt zu werden, die sich an den Bedürfnissen der Armen, der Benachteiligten und Ausgegrenzten orientiert. Das "Recht auf Stadt" ist vor allem ein Ansatzpunkt für soziale Kämpfe.


Anmerkung:
(1) Gemeint ist der deutsche Ökonom André Gunder Frank (2005), der vor allem für seine Theorie über die "Entwicklung der Unterentwicklung" in den 1960er Jahren bekannt geworden ist.


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ak - analyse & kritik, Ausgabe 542, 18.09.2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Oktober 2009