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ANALYSE & KRITIK/340: Der Einsatz von Web 2.0 in Unternehmen führt zu neuen Konfliktlinien


ak - analyse & kritik - Ausgabe 544, 20.11.2009

Zwischen Kooperation und alten Hierarchien
Der Einsatz von Web 2.0 in Unternehmen führt zu neuen Konfliktlinien

Von Richard Heigl


Web 2.0 meint den Durchbruch neuer kooperativer Technologien und Verfahren in allen gesellschaftlichen Sphären. (vgl. Schwerpunkt in ak 541) Unter dem programmatischen Schlagwort "Enterprise 2.0" halten Wikis, Blogs und Social Networks Einzug in die Intranets privater Unternehmen: Über 25% setzen diese Technologien bereits produktiv ein. Aus Sicht der Beschäftigten ist das oft eine kleine Revolution, denn die neuen Technologien können ihre Wirkung nur entfalten, wenn die Unternehmen Arbeitsweisen und interne Kommunikationspolitiken radikal ändern.

Offene Kommunikationsräume? Partizipation und flache Hierarchien? Nutzerorientierung und Transparenz? Das alles schließt zwar an Diskurse zum partizipativen Management, die sich seit den 1980er Jahren verbreitet haben, an, hat aber in den hierarchisch und konkurrenzförmig organisierten Unternehmen an sich keinen Platz. Hinsichtlich der Veränderungen, die durch Web 2.0 in den Unternehmen stattfinden, kommt die Online-Journalistin Christiane Schulzki-Haddouti zum Schluss: "Unternehmen müssen Top-Down-Management und traditionelle Kommunikationsstrategien aufgeben und die Rolle von Gemeinschaften bei ihren Produkten und Dienstleistungen stärker berücksichtigen. Außerdem werden die kooperativen Technologien die Organisation der Arbeitswelt entscheidend beeinflussen."

Auf der Makroebene erzeugen zwei Entwicklungen Handlungsdruck. Da sind erstens Probleme, die sich aus der digitalen Technik-Revolution selbst ergeben. Unternehmen mit großen und komplexen IT-Landschaften wächst der digitale Datenbestand längst über den Kopf. So werden z.B. wichtige Informationen über Kunden, Projekte, Richtlinien und Erfahrungswissen nicht mehr oder nur mit erheblichem Zeitaufwand gefunden.

In mittleren und kleineren Unternehmen ist die Lage etwas anders; dort ist die kommunikative Infrastruktur - Email und Telefon - völlig rückständig, und man sucht nach pragmatischen und kostengünstigen Lösungen, um sich gegen die sich ebenfalls ständig modernisierende Konkurrenz behaupten zu können.

Als Leitbilder einer Erneuerung dienen unvermeidlich Google, Wikipedia und Facebook. Diese zeigen, wie sich Daten schnell vorsortieren und erschließen lassen. Außerdem faszinieren diese Tools durch ihre Communities und deren Bereitschaft, diese Systeme und ihre Inhalte ständig zu verbessern. Web 2.0-Technologien liefern aus dieser Sicht die zentralen Werkzeuge und Verfahren, um verteilte und komplexe Datenbestände problemorientiert, effektiv und dynamisch zu verbinden.


Widersprüche einer neuen Produktionsweise

Und tatsächlich werden Wikis erfolgreich als betriebsinterne "Wikipedias" oder zur schnellen Dokumentation eingesetzt. Social Networks unterstützen kommunikativ die Integration von Unternehmenseinheiten etwa nach Fusionen. Blogs können vertrieblich die Diskussion über neue Produkte und Dienstleistungen unterstützen. "Crowdsourcing", also die Methode, ein Problem ins Netz zu stellen und die NutzerInnen nach Lösungen suchen zu lassen, mobilisiert die Kreativitätspotenziale im Unternehmen.

Und nicht zuletzt sollen Standorte und Abteilungen über den ganzen Globus hinweg reintegriert werden. Bei international aufgestellten Unternehmen wird es langsam zur Schlüsselfrage, wie sie zeit- und ortsunabhängige Kommunikation und Dokumentation organisieren und wie man MitarbeiterInnen mit unterschiedlichen Nationalitäten integriert.

Und das heißt zweitens, die neuen Kooperationstechnologien antworten hervorragend auf die Anforderungen des globalen High-Tech-Kapitalismus: dezentrale Organisation und Auflösung der Grenze zwischen Arbeit und Nichtarbeit, beides verbunden mit einer permanenten Aufforderung zur Aktivität und zur Selbstständigkeit. Das selbstständige Arbeiten im Netz, die intellektuelle Verbindung und Erschließung von Wissen durch große Gruppen macht die Web 2.0-Technologie so effektiv. Die Ordnung der Dinge durch Verteilung der Arbeit auf mehrere Köpfe sorgt für eine bessere Nutzung der intellektuellen Potenziale im Unternehmen.

Durch die Arbeit im Unternehmensnetz entstehen wiederum wertvolle Datenbestände über Interaktionen und Netzwerke. Informelle Kommunikation ist Grundlage jeder Organisation. Nun wird sie nachvollziehbar. Die Unternehmen sind dabei weniger an der direkten Überwachung renitenter MitarbeiterInnen interessiert. Diese würden schnell Gegenstrategien entwickeln, und die Kosten zentraler Kontrolle sollen ja gerade reduziert werden. Die offenen Kommunikationssysteme installieren ein ganz anderes Kontrollparadigma. Die Unternehmensberatung Nielsen Norman Group kommt zum Ergebnis: "Nutzergemeinschaften überwachen sich selbst und brauchen wenig Kontrolle von oben. Tatsächlich ist die gegenseitige Überwachung häufig effizienter als jeder 'Big Brother is watching you'-Ansatz. Dabei ist allerdings wichtig, dass keine anonymen Postings möglich sind."

Diese Entwicklung wird man auf dem Radar haben müssen. Entscheidend wird aber in Zukunft die Auswertung von Massendaten, etwa um die Informationsströme intelligenter zu steuern. Genauso wie bei amazon oder facebook Nutzerprofile und -netzwerke so ausgewertet werden, dass man genau "seine" Werbung" erhält, kann auch auf virtuelle Vorgänge in Unternehmen zurückgegriffen werden, um diese gezielt nutzbar zu machen. Durch intelligente Auswertungen lassen sich zudem Schwachstellen und Kompetenzdefizite des Unternehmens, aber auch Erfahrungswissen von (ausgeschiedenen) MitarbeiterInnen im Unternehmen ausfindig machen.

Ob die Einführung von Web 2.0 in Unternehmen zu Konflikten führt, hängt eng von ihrer Funktion ab: SchichtleiterInnen- oder Projektblogs oder Wikis als Betriebshandbücher bergen wenig Konfliktpotenzial. Konflikte ergeben sich, wenn konkurrierende oder übergeordnete Entscheidungssphären betroffen sind.

Dann entwickelt sich ein Bündel von Widersprüchen: 1. Personalpolitisch: Über Web 2.0-Technologien vermittelt, qualifiziert sich ein Teil des Personals gewissermaßen "on the flow" über die kooperative Wissensarbeit weiter. Der Rückgriff auf das im Wiki kollektiv dokumentierte Erfahrungswissen senkt die Personalkosten von der Planung bis zur Umsetzung. Wenn einE MitarbeiterIn in Korea über das Social Network schnell einE AnsprechpartnerIn mit Spezialkenntnissen in einem Schwesterunternehmen des Konzerns findet, beschleunigt das die Auslieferung.

Doch Qualität und Kooperation setzt Kontinuität, Qualifikation und Motivation der MitarbeiterInnen voraus. Dagegen stehen kurzfristige Kapitalverwertungsinteressen oder Verwertungskrisen, die Entlassungswellen provozieren. Ein Unternehmen, das MitarbeiterInnen entlässt oder schlecht behandelt, produziert keine Community-Dynamiken.


Hierarchien werden "auskooperiert"

Weiter zerstören die ständige Verkürzung von Produktentwicklungszyklen, der Kampf um Marktvorteile mit immer schneller veröffentlichten (schein-)innovativen Produkten und Dienstleistungen jede Planung. Die Belegschaft als ein sich koordinierender Zusammenhang kann den ständigen Strategiewechseln gar nicht so schnell folgen. Irrationale Entscheidungen, Überforderung und schlechte Kundenrückmeldungen demotivieren.

2. Ordnungspolitisch: Offenheit, dezentrale Kommunikation und Dokumentation über Web 2.0-Verfahren kann die Effizienz und die Wertschöpfung steigern. Dennoch bereitet der bottom-up-Ansatz den Führungsetagen Schwierigkeiten, weil unkontrollierbare Kommunikationsräume geöffnet werden. So bombardierten die MitarbeiterInnen von Siemens 2006 den CEO-Blog des Vorstandsvorsitzenden Klaus Kleinfeld mit Protest-Kommentaren, als sie aus den Medien von der Erhöhung der Vorstandsbezüge um durchschnittlich 30 Prozent erfahren hatten.

Manche ManagerInnen fürchten daneben nicht nur den user-generated content, sondern auch die user-generated structures. Die MitarbeiterInnen erhalten durch die Gestaltung zentraler Kommunikationsknoten tendenziell Zugriff auf die Definition von Prozessen und Systematiken, weil beispielsweise im Firmen-Wiki Quasistandards formuliert werden. Die Hierarchie wird mit einem Begriff von Stefan Meretz schlicht "auskooperiert".

3. Integrationspolitisch: Über Web 2.0-Technik können Vergemeinschaftungsprozesse initiiert werden, wobei sich MitarbeiterInnen wieder als Teil des Unternehmens fühlen und die Interessen des privatwirtschaftlichen Unternehmens mit den persönlichen Interessen in eins setzen. Dagegen steht, dass Abteilungen und Organisationseinheiten teilweise gewollt in Konkurrenz zueinander stehen. So wird Wissen zur Waffe: Es geht um Budgets, um Aufstiegschancen von EntscheidungsträgerInnen. Die Information, dass in einem Teilbereich Probleme auftreten, kann schnell als Argument für eine Entlassung oder Nicht-Beförderung herhalten. Nicht zuletzt Leute aus dem mittleren Management fürchten um ihre Definitionshoheit und ihre Handlungsspielräume.

Man ist also auf der einen Seite immer mehr auf qualifizierte und engagierte MitarbeiterInnen angewiesen, die selbstorganisiert redaktionelle und koordinierende Arbeit übernehmen sollen; gleichzeitig werden die dafür notwendigen sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen ständig untergraben, obwohl die Integration der Unternehmensteile zwingend notwendig ist.

Es ist wenig erstaunlich, dass die neuen Medien und Arbeitsweisen trotz der mehr oder weniger "objektiven" Zwänge gar nicht "von oben", sondern auf Druck der MitarbeiterInnen eingeführt werden. Akteure sind hier nicht die MitarbeiterInnen in der Produktion. Für diese wird der Digital Divide auch zukünftig nicht geringer; viele erhalten im Unternehmen erst gar keinen Zugang zum Netz. Vielmehr versuchen Gruppen aus dem Backoffice, die Unternehmen mit Hilfe der Einführung von Web 2.0-Technologien zu modernisieren. Für sie bedeutet die Einführung solcher Technologien und Handlungsweisen unter anderem verbesserte Arbeitsbedingungen, z.B. weniger stupide Arbeit und schnellere Suche.


Gesteigerter Rechtfertigungsdruck

Rund um das Web 2.0 tritt nicht zuletzt ein neuer Typus von WissensarbeiterInnen ins Rampenlicht. Diese wachsende Gruppe bildet sich nicht aus den schon bekannten ExpertInnen und Fachleuten. Vielmehr sind es diejenigen, die das Wissen ordnen und zugänglich machen, die Kommunikation aufrechterhalten. Sie sind gut ausgebildet und werden nicht schlecht bezahlt. Ihre Arbeit ist für sie identitätsstiftend. Sie haben gelernt zu recherchieren und zu formulieren, können sich in die organisatorischen Problemlagen des Unternehmens einarbeiten und kombinieren Leute und Themen aus unterschiedlichen Geschäftsbereichen.

Sie wissen, dass das Unternehmen nur flexibel reagiert, weil MitarbeiterInnen täglich unbürokratisch Strukturprobleme ausgleichen. Deswegen benötigen und fordern sie die technische Unterstützung informeller Kommunikationskanäle. Sie akzeptieren auf Grund ihres sozio-kulturellen Selbstverständnisses keine starren Organisationen und lange Entscheidungsprozesse. Doch damit geraten sie in den Konflikt um die Definition der Unternehmensstrategie, um Ziele und ihre Umsetzung. Dahinter steckt der Kampf gegen den Irrationalismus durch Bürokratie, Technokraten und Kapitallogik. Zur Durchsetzung ihrer Ziele brauchen sie auf die Dauer die Unterstützung anderer MitarbeiterInnengruppen.

Was heißt das alles? Zweifellos werden viele Unternehmen den grundsätzlichen kulturellen Wandel, der mit Web 2.0-Technologien notwendig verbunden ist, nicht nachvollziehen, sondern sich bestenfalls auf einzelne und unumstrittene Einsatzmöglichkeiten der neuen Medien konzentrieren; vor allem auf die effizientere Dokumentation. Dazu wird Kritik produktiv gewendet und der emanzipatorische Anteil hintan gestellt. Soweit neue Arrangements zwischen top-down- und bottom-up-Strategien entwickelt werden, geschieht dies unter Einbeziehung einzelner MitarbeiterInnen.

Welche Rolle diese internen Medien in betrieblichen Konflikten spielen werden, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt spekulativ. Auch die oben genannte Unternehmensberatung spricht zwar davon, dass die die alten Befehls- und Kontrollstrukturen nicht mehr funktionieren, wenn die Kommunikation über Instrumente des Webs 2.0 läuft.

Dass die neuen Medien zur Debatte weitergehender Alternativen genutzt werden, darf aber bezweifelt werden. Zumindest verbessert sich die allgemeine Informationslage über Vorgänge und AkteurInnen in anderen Unternehmensteilen und in anderen Ländern. Die MitarbeiterInnen sind morgen besser vernetzt denn je.

Für die politische Linke gilt es zunächst, "Sharing Information" und "Kooperation" beim Wort zu nehmen. Der Kampf um offene Kommunikationsräume, um mehr Transparenz und Reflexion entwickelt zumindest einen Rechtfertigungsdruck gegenüber den Führungspositionen. Und insgesamt benötigt Web 2.0 Vertrauensverhältnisse und sozikulturelle Rahmenbedingungen, in denen Informationsfluss und reflektierte Meinungsäußerung sanktionsfrei möglich ist. Das ist übrigens in Unternehmen nicht anders als im Web.


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ak - analyse & kritik, Ausgabe 544, 20.11.2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Dezember 2009