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ANALYSE & KRITIK/419: Auf dem Weg in den Ausnahmezustand?


ak - analyse & kritik - Ausgabe 556, 17.12.2010

Auf dem Weg in den Ausnahmezustand?
Präventive Sicherheitspolitik - Interview mit Gavin Sullivan

Interview und Übersetzung von Christian Stache


Im Oktober fand an der Universität Hamburg der Internationale Antirepressionskongress 2010 "New Roads of Solidarity" statt. Diskutiert wurde über neue und alte Formen staatlicher Repression anhand praktischer Erfahrungen und vor dem Hintergrund kritischer Gesellschaftstheorie. Am Rande des Kongresses sprach ak mit Gavin Sullivan, einem der ReferentInnen und zugleich Koordinator des Antiterror- und Menschenrechtsprogramms des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) aus Berlin, über eine mögliche neue Qualität der westlichen Sicherheitspolitik nach dem 11. September 2001 und über die Notwendigkeit linker Antirepressionspolitik sowie ihre Fehler.


ak: Während des Kongresses hast du über die Entstehung eines neuen Sicherheitsparadigmas, einer neuen Form der Souveränität, gesprochen. Wie sieht diese deiner Meinung nach aus?

Gavin Sullivan: In den letzten Jahren haben sich die Antiterrorstrategien der westlichen Staaten rapide angenähert. Wenn wir nur einmal die Nationale Sicherheitsstrategie der USA aus dem Jahr 2002, die Europäische Sicherheitsstrategie von 2003 und das Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr von 2006 zu Grunde legen, sehen wir drei grundlegende Gemeinsamkeiten.

Erstens wird die Antiterrorpolitik als Teil einer breiter angelegten und umfassenderen Sicherheitspolitik konzipiert. Dieses Verständnis von Sicherheit gilt es auch im Hinterkopf zu behalten, wenn man über die produktiven Verbindungen zwischen verschiedenen Antirepressionskämpfen nachdenkt.

Zweitens spiegelt und konstituiert das aufkommende Sicherheitsparadigma eine Präventionspolitik, die sich von ihren Vorläufern wesentlich unterscheidet. Staaten intervenieren aufgrund der potenziell unbekannten Natur und netzwerkartigen Struktur "neuer Bedrohungen" vorsorglich, um Leben vor terroristischen Akten zu bewahren, statt nach einer Tat zu reagieren. Dieser präventive Schutz des Lebens und der Werte, auf deren Basis es konstruiert wird, vor unvorhersehbaren Risiken ist eine zunehmend gewichtigere Komponente gegenwärtiger Sicherheitspolitik.

Und drittens erzeugt die heutige Sicherheitspolitik neue Formen der supranationalen Autorität, die auch das politische und rechtliche Terrain innerhalb der Nationalstaaten verändern. Die neue Macht des Sanktionskomitees des UN-Sicherheitsrates, das individuelle Terrorverdächtige weltweit mit "sanften Sanktionen" belegen kann, illustriert die Rekomposition internationaler Organisation von Sicherheitspolitik.

ak: Wie sehen die Schlüsselelemente dieses Sicherheitsparadigmas aus, und wo treten sie in Erscheinung?

Gavin Sullivan: Eine Erörterung, was unter Prävention verstanden wird, erleichtert uns das Verständnis diverser Schlüsselelemente der Sicherheitspolitik. Die präventive Sicherheitspolitik basiert erstens auf der Idee, dass der Staat ein verdächtiges Individuum, eine Gruppe oder ein Netzwerk identifizieren und dessen bzw. deren Tat im Vorfeld zulassen oder verhindern kann. Der Staat soll möglichen Sicherheitsbedrohungen zuvorkommen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich materialisieren, nur ein Prozent beträgt.

Zweitens nutzen die Akteure der präventiven Sicherheitspolitik sowohl die sichtbarsten und exzessivsten Formen staatlicher Macht, z.B. Geheimgefängnisse, Überstellung von Verdächtigen oder Folter, als auch das Management des relativ profanen Alltagslebens, wie die Analyse von Finanz- und Reisedaten.

Drittens beruht die präventive Sicherheitspolitik auf Verdacht und nicht auf Schuld. Es ist zweitrangig, ob man gegen das hegemoniale Sicherheitsparadigma verstoßen hat. Entscheidend ist, ob man gegen es handeln könnte oder ob man jemanden kennt, der jemanden kennt, der etwas tun könnte, das den liberalen Kapitalismus potenziell stört. Um dies zu erfahren, Muster herauszufinden und Risikoprofile zu erstellen, die in ungewisser Zukunft eine staatliche Intervention rechtfertigen könnten, werden mit modernen Überwachungstechniken Informationen gesammelt und analysiert.

Klassische liberale Rechtssysteme, die in der Regel auf Beweisen, individuellen Grundrechten und einem fairen Prozess fußen, sind nicht ausreichend gewappnet, um Sicherheitsmaßnahmen durchzuführen, die auf Assoziation und Verdachtsmomente zurückgehen. Dementsprechend haben westliche Staaten neue Verwaltungsmaßnahmen, Bürger- und Einwanderungsgesetze erlassen, um ein schnelles Eingreifen gegen potenzielle Gefahren zu erlauben. Dazu zählen z.B. die Inhaftierung ohne Anklage und Prozess, flexible Abschiebegesetze auf der Basis charakterlicher Einstufungen des Migranten, das Einfrieren von Vermögen, das Verdächtigen zugeordnet wird, oder die Erstellung von schwarzen Listen Terrorverdächtiger. Diese Maßnahmen gründen für gewöhnlich auf Geheimdiensterkenntnissen, die besagen, eine Person stelle eine Bedrohung für die nationale Sicherheit dar. Die "Erkenntnisse" werden jedoch geheim gehalten, vor Gericht nicht zugelassen und auch nicht als Beweise für die Anklage vor Gericht verwendet.

Wir können also gerade dabei zusehen, wie ein paralleles Rechtssystem heranwächst, das auf einem niedrigeren Standard arbeitet, die "Herrschaft des Rechts", den Respekt vor den Grundrechten unterminiert und sie langfristig auflöst. Die Rechte werden durch anhaltende Rechtfertigungen extralegaler Interventionen des Staates ersetzt.

ak: Denkst du bei dieser Beschreibung an den "Ausnahmezustand", den Giorgio Agamben beschrieben hat als einen dauerhaften Zustand, in dem die Herrschaft des klassischen liberalen Rechts und die Mechanismen, die normalerweise in Ausnahmesituationen angewendet werden, gleichzeitig praktiziert werden?

Gavin Sullivan: Man muss nur die jüngsten Aktivitäten westlicher Staaten berücksichtigen - Folter, Sicherheitsverwahrungen, die Überstellung von Terrorverdächtigen, Geheimgefängnisse, gezielte Tötungen -, um die Relevanz des "Ausnahmezustandes" für das Verständnis von Gewalt moderner Staaten zu verstehen. Theorien des Ausnahmezustandes können erklären, dass die Mittel wie Folter usw. ein integrativer Bestandteil des liberalen Projekts des Friedens durch permanenten Krieg sind. Da der Ausnahmezustand zudem immer auf dem Terrain der Krise situiert ist, können sie uns auch auf produktive Verbindungen hinweisen, durch deren Aktivierung das Kapital und die Staatsmacht die Krise in ihrem Sinne eventuell bewältigen.

ak: Wen bekämpfen die westlichen Staaten? Wen bestimmen sie als Feind?

Gavin Sullivan: Ich denke nicht, dass man diese Frage leicht beantworten kann. Die europäische Sicherheitspolitik richtet sich z.B. mit Grenzsicherheitsprojekten gegen MigrantInnen, mit Antiterrormaßnahmen gegen Terrorverdächtige und mit Gesetzen zum Schutz von Infrastruktur gegen mögliche Sozialproteste. Einige Regelungen schaffen auch die Voraussetzung, potenzielle Störungen im Warenverkehr zu verhindern.

Aber wie kann ein Staat nun TerroristInnen ins Visier nehmen, die noch gar keine TerroristInnen sind - dies ist die Herausforderung präventiver Sicherheitspolitik. Einerseits haben z.B. die Initiativen für Passagiernamensregister nach dem 11. September 2001 dazu geführt, dass bei der Suche nach potenziellen TerroristInnen alle (Reisenden) zu Verdächtigen werden. Diese Fahndungsmaßnahmen sind in der Regel extrem rassistisch, weil sie unverhältnismäßig Menschen mit islamischem Hintergrund oder Menschen aus "Problemstaaten" herausfiltern.

Andererseits verfolgt die EU mit ihren jüngsten Plänen, "gewalttätige Radikalisierungsprozesse" durch Infiltration und geheime Überwachung zu kontrollieren, explizit das Ziel, alle zu kontrollieren, die "radikale Botschaften" verbreiten - die radikale Linke schließt das ebenso ein, wie die Rechte, IslamistInnen, NationalistInnen, Antiglobalisierungsbewegungen usw. Das Ziel der Sicherheitspolitik ist dementsprechend abhängig vom Kontext und der spezifischen Maßnahme, über die wir sprechen.

ak: Auf welchem Territorium wird die neue Sicherheitspolitik umgesetzt und ausgeübt?

Gavin Sullivan: Das Territorium ist global und potenziell schrankenlos. Der "Krieg gegen den Terror" soll ein Krieg ohne Ende sein, der einer permanenten Mobilisierung der Gesellschaften gegen einen Feind bedarf, der wandelbar ist und sie von innen bedroht. Der Ort, an dem Gefahren entstehen - und damit auch der Ort des Konflikts - hat keine festen Grenzen. Da transnationale Netzwerke von Politik-, Militär- und Geheimdienstbürokraten die primären Akteure der Sicherheitspolitik sind, lassen sich konventionelle Grenzen zwischen Staaten und regionalen Blöcken schlecht aufrechterhalten.

Mit der Einführung des Passagiernamensregisters in den USA und der EU kollabieren z.B. ihre operationellen Grenzen, und es entstehen neue Formen des Regierens, transatlantische Formen der Autorität und Territorien der Kontrolle. Wir können den neuen Typus der Sicherheitsmaßnahmen durch das Prisma klassischer Staatsgrenzen nicht adäquat verstehen.

Das Problem der Territorialität ist auch in den Debatten über die Legalität gezielter Tötungen durch Drohnenangriffe zentral. Vor allem die USA argumentieren, dass sie sich in einem globalen bewaffneten Konflikt mit Al Qaida, den Taliban und ihnen "assoziierten Kräften" befinden und daher das Recht besäßen, auf dem Territorium aller Staaten, z.B. im Jemen, Pakistan usw. gezielte Tötungen vorzunehmen, in denen KombattantInnen oder ZivilistInnen leben, die an Feindseligkeiten direkt teilnehmen. Wo also endet die "Kampfzone" des "Kriegs gegen den Terror"? Folgt man den umfassenden Ansätzen der EU oder der USA, gibt es kein Rückzugsgebiet.

ak: Welche Antirepressionspolitik sollte die Linke angesichts des neuen Paradigmas der Sicherheit betreiben?

Gavin Sullivan: Ich bin der Meinung, dass die Linke nicht in der Lage gewesen ist, auf die Veränderungen der Sicherheitspolitik auf europäischer Ebene angemessen zu reagieren. Einerseits ist das ein Resultat der relativen Geheimhaltung, unter deren Deckmantel sich die gegenwärtige Sicherheitspolitik entfaltet. Andererseits herrscht unter der außerparlamentarischen Linken eine Tendenz vor, die Veränderungen lediglich soweit zu analysieren, wie sie selbst von ihnen betroffen ist und wie sie für ihre Repressionsanalysen nützlich sind.

Vom Standpunkt der europäischen Bedrohungsanalysen ist die radikale Linke nur ein Risikofaktor, gegen den die westlichen Staaten sicherlich nicht mit voller Kraft vorgehen. Mit den Listen der Terrororganisationen z.B. werden MigrantInnen-Communities in Europa - insbesondere die kurdischen und Tamil-Gemeinschaften - für ihre Unterstützung in bewaffneten Konflikten und der Kämpfe für Selbstbestimmung schwer kriminalisiert. Auch die Regulation von Migration und Migrationspolitik innerhalb und außerhalb Europas ist eine weitere Arena, in der Sicherheitspolitik überwiegend in Abwesenheit der Linken gemacht wird. Antiterrormaßnahmen, die auf Al-Qaida-Verdächtige angewendet werden, schaffen neue Formen supranationaler Autorität und unterdrückender Macht, die durchaus auf andere Individuen und Organisationen ausgeweitet werden können.

Datenfahndungen und Überwachungsmaßnahmen, wie sie derzeit etabliert werden, haben tiefgreifende Auswirkungen auf die soziale Kontrolle zahlreicher Akteure und Gruppen in der Zukunft. Dennoch überlässt die Linke diese Themen weitestgehend liberalen AnwältInnen, die auf der Basis des bürgerlichen Rechts vor Gericht streiten. Dabei ist jede von mir genannte Maßnahme präventiver Sicherheitspolitik produktiv für die Staatsmacht.

Ich denke, wir benötigen ein besseres Verständnis der Autorität, wie sie heute hervorgebracht wird, der Schlüsselakteure, die verantwortlich sind, und der Notwendigkeit, die verschiedenen Gruppen und Gemeinschaften grenzüberschreitend und effektiver zu organisieren, die ins Visier der Sicherheitspolitik geraten. Erst dann haben wir die Möglichkeit, eine wirksame Kritik und Gegenmacht auf dem Feld der Sicherheitspolitik zu organisieren.


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ak - analyse & kritik, Ausgabe 556, 17.12.2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Dezember 2010