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ARBEITERSTIMME/255: Arabischer Frühling und was dann?


Arbeiterstimme, Sommer 2012, Nr. 176
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Arabischer Frühling und was dann?



In zwei Ausgaben der Arbeiterstimme wurde bisher auf die Ereignisse im nördlichen Afrika Ende 2010 und Anfang 2011 Bezug genommen. In der Ausgabe Nr. 171 vom Frühjahr 2011 wurden die Revolten in Ägypten einer ersten vorsichtigen Einschätzung unterzogen. In der Folgenummer 172 vom Sommer 2011 nahm die Gruppe Arbeiterstimme eine Positionsbestimmung im Zusammenhang mit den sich zuspitzenden Auseinandersetzungen in Libyen vor und bezog Stellung zur NATO-Intervention. Inzwischen ist seit Ausbruch der Unruhen mehr als ein Jahr vergangen. Der durch die NATO-Intervention entschiedene Bürgerkrieg in Libyen ist beendet, während sich in Syrien die Unruhen zu einem Bürgerkrieg entwickeln und ein Ende nicht absehbar ist. Das Interesse der hiesigen bürgerlichen Medien für die Konflikte im arabischen Raum ist insgesamt abgeflaut und konzentriert sich - noch - auf die Vorgänge in Syrien, wobei von einer einigermaßen objektiven Berichterstattung nicht die Rede sein kann. Doch war diese Berichterstattung seit Beginn der Unruhen in Tunesien selektiv, reißerisch in der Darstellung und wenig erhellend, was die Ursachen betrifft, die für die Rebellionen ausschlaggebend waren. Das ist allerdings verständlich, denn je schändlicher das Verhalten von arabischen Despoten dargestellt und ausgemalt wird, desto mehr kann von den objektiven ökonomischen Bedingungen abgelenkt werden. Und die Adressaten dafür sind nicht in erster Linie in arabischen Ländern zu suchen. Doch dazu später mehr.


Unruhen breiten sich auf viele arabischsprachige Länder aus

In knapper Form lassen sich die Stationen der arabischen Volkserhebungen wie folgt zusammenfassen:

Am 17. Dezember 2010 begannen die tunesischen Unruhen, die sich wellenartig über das Land ausbreiteten. Bereits am 5. Januar 2011 griffen sie auf Algerien über, ausgelöst durch den Unmut breiter Bevölkerungskreise über massiv gestiegene Grundnahrungsmittelpreise. Nur zwei Tage später löste die Islamische Aktionsfront in Jordanien Proteste aus. Diesen nahm König Abdullah II. die Spitze, indem er eine komplette Regierungsumbildung veranlasste. Ab 25. Januar verschärfte sich die Situation in Ägypten. Gleichzeitig eskalierten die Auseinandersetzungen im Jemen. Sie zogen sich über das ganze Jahr 2011 hin, kosteten etwa 800 Menschen das Leben und endeten mit dem Rücktritt des verhassten Präsidenten Ali Abdullah Salih. Am 14. Februar brachen Unruhen auf der kleinen Insel Bahrain aus. Da die Mehrheit der bahrainer Staatsbürger Schiiten sind, die von einer sunnitischen Herrscherkaste regiert werden, spielte hier von Anfang an die religiöse Komponente eine wichtige Rolle. (Über die Hälfte der Bevölkerung besteht aus ausländischen ArbeiterInnen). Als im März die Situation für das Herrscherhaus bedrohlich wurde, schickte das benachbarte Saudi-Arabien 1.000 Soldaten zur Eindämmung der Proteste, die aber nach wie vor anhalten. In Kuwait kam es im Februar und März immer wieder zu Protesten, die von den Beduinen ausgegangen sein sollen. Natürlich wurde auch Marokko von den Protesten erfasst. König Muhamad VI. gelang es mit der Ankündigung einer Verfassungsreform und vorzeitigen Neuwahlen, die von der islamisch orientierten Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, dem lokalen Ableger der Muslimbruderschaft, gewonnen wurde, eine Ausbreitung der Proteste zu verhindern.


Tunesien: Parlamentarisierung der Revolte

Warum begannen die Unruhen in Tunesien? Weil sich der arbeitslose Informatiker Mohamed Bouazizi in der Kleinstadt Sidi Bouzid, 250 km südlich von Tunis, nach einer Ohrfeige durch eine städtische Bedienstete vor dem Amtssitz des Gouverneurs am 17. Dezember 2010 mit Benzin übergossen und sich angezündet hatte? Nein, das wäre als Erklärung zu kurz gegriffen. "Solche Selbstmorde waren längst nichts Außergewöhnliches mehr. Bouazizis Selbstverbrennung war kein isolierter, individualistischer Akt, sondern Ausdruck jener Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit, die charakteristisch war und ist nicht nur für die tunesische Jugend, sondern für die Jugend in der gesamten arabischen Welt - und, betrachtet man die Protestbewegungen beispielsweise in Spanien und Griechenland, weit darüber hinaus. Im Gegensatz zu früheren Protesten kam es diesmal jedoch zu massiven Protesten der Bevölkerung wegen des Verhaltens der Sicherheitskräfte, die wahllos in die Menge schossen." (Prof. Werner Ruf) Wir kommen der Sache näher, wenn wir einige Jahre zurückgehen und einen Blick auf das Jahr 1998 werfen. Damals war Tunesien das erste "Mittelmeer-Drittland", das mit der EU ein sog. Europa-Mittelmeerabkommen abgeschlossen hat. Vereinbart war, innerhalb von zwölf Jahren eine Freihandelszone mit der EU zu realisieren. Europäische Investoren waren einige Jahre von Steuern befreit und durften die Gewinne uneingeschränkt nach Europa transferieren. Vor allem durch mangelnde Konkurrenzfähigkeit musste in den folgenden Jahren von den einheimischen etwa jeder dritte kleinere bzw. mittlere Betrieb schließen. Der Binnenmarkt wurde zugunsten der Außenorientierung vernachlässigt. Die früher unter dem Präsidenten Habib Bourguiba vorherrschenden Staatsbetriebe wurden unter Präsident Ben Ali privatisiert, was ihm vom Internationalen Währungsfond in der Bewertung Bestnoten einbrachte. Dass diese Betriebe in der Regel dem Familien- bzw. Freundeskreis des Präsidenten und dessen zweiter Ehefrau Leila Trabelsi zugeschanzt wurden, war nicht nur in Tunesien allgemein bekannt. So kontrollierte lt. Angaben des tunesischen Arbeitgeberverbandes der Trabelsi-Clan 40 Prozent der Betriebe. Die immensen Gewinne dieses kleptokratischen Systems transferierte man auf ausländische Konten. Es handelte sich von 1999 bis 2008 um über zehn Mrd. Euro, ein Betrag, der in etwa den Auslandsschulden Tunesiens entspricht. Zwei Seiten einer Medaille: Tunesien wurde über viele Jahre seiner Funktion als verlängerte Werkbank großer EU-Konzerne gerecht. Die Gewinne sprudelten. Da das aber nur mit entsprechender Repression zu haben war, durfte sich ein Teil der einheimischen Bourgeoisie schamlos bereichern. Das Regime hatte auch dafür zu sorgen, dass sich die Massen arbeitsloser Jugendlicher nicht auf den Weg nach Europa machten. Auch da kooperierte man, ähnlich wie in den benachbarten Staaten, zur vollsten Zufriedenheit der europäischen Regierungen. Es hätte also alles gepasst, wenn nicht genau im Jahr des erfolgreichen Abschlusses des Übergangsprozesses zur Freihandelszone die bisher vorherrschende Angst in Wut umgeschlagen wäre. Erst als am 14. Januar Präsident Ben Ali das Land fluchtartig verlassen musste, "entdeckten alle, dass in Tunesien über Jahrzehnte eine Diktatur, ein korruptes System, ein Polizeistaat geherrscht hatten" (Imad Garbaya).

In Tunesien versuchten inzwischen Kräfte des alten Regimes, die Proteste mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche in den Griff zu bekommen. Ministerpräsident Ghannouchi, der sich als Chef einer Übergangsregierung beauftragt wähnte, nahm neben Vertretern des alten Regimes auch Repräsentanten von Oppositionsparteien in sein Kabinett auf. Die Bewegung auf den Straßen akzeptierte diesen Kompromiss keineswegs und auch ein Verbot der bisherigen Staatspartei RCD konnte die Wut nicht besänftigen. Schließlich gab Gannouchi auf. Weitere Nachfolge-Übergangsregierungen bereiteten die Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung vor, die am 23. Oktober stattfand. Gewonnen hat die islamisch orientierte Partei Ennahda, die als einzige landesweit, vor allem auch im Süden, vertreten ist, mit über 40 Prozent der Stimmen. Sie erhielt 91 von 217 Sitzen in der verfassungsgebenden Versammlung. Damit ist sie zwar klar stärkste Kraft im Land, hat aber keine absolute Mehrheit und ist auf die Zusammenarbeit mit anderen Parteien angewiesen. Zweitplatziert ist der sozialliberale Kongress für die Republik (CPR) mit 30 Sitzen, gefolgt von der sozialdemokratischen Ettakatol-Partei (Demokratisches Forum für Arbeit und Freiheit) mit 21 Mandaten.

Mit nur drei Sitzen erreichte die Kommunistische Arbeiterpartei (PCOT) ein mageres Ergebnis. Sie hatte sich deutlich mehr erhofft. "Die Partei gilt als stärkste linke Kraft des Landes und verfügt auch über eine feste Verankerung in den ärmeren Regionen des Landes, unter den Arbeiter/innen und den Arbeitslosen." In den Gewerkschaften leiste sie "systematische Arbeit". Diese optimistische Einschätzung hatte der linke österreichische Journalist der Zeitschrift Intifada, Wilhelm Langthaler, noch vom ersten Kongress der PCOT im Juli 2011 mitgebracht Er hat sich wohl von der Begeisterung der Delegierten zu sehr mitreißen lassen. Die Verfassungsgebende Versammlung soll innerhalb eines Jahres eine neue Verfassung ausarbeiten und Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vorbereiten. Am 24. Dezember 2011 wurde der Generalsekretär der Ennahda-Partei, Hamadi Jebali, der unter Ben Ali 15 Jahre inhaftiert war, zum Ministerpräsidenten ernannt. Die neue Übergangsregierung besteht aus Ministern, die den drei Regierungsparteien Ennahda, CPR und Forum angehören oder parteilos sind. Schon nach wenigen Wochen sah sich die Regierung mit Konflikten konfrontiert, die zumeist von Salafistengruppen organisiert werden; so etwa, wenn es um die Forderung der Zulassung von Ganzkörperverschleierung bei Frauen in Bildungseinrichtungen geht. Konflikte zwischen laizistischen und fundamentalreligiösen Kräften dürften sich weiterhin zuspitzen, da die bürgerlichen Kräfte mit keinen überzeugenden Konzepten in der sozialen Frage aufwarten können. Dazu schreibt Karin Leukefeld in der jungen Welt vom 14. Januar: "An der realen Lebenssituation der einfachen Bevölkerung hat sich kaum etwas geändert. Die Arbeitslosenquote wird landesweit auf 20 Prozent geschätzt, vor allem für die Dorfbewohner gibt es kein regelmäßiges Einkommen, sie müssen als Tagelöhner ihren Unterhalt verdienen. Aus Verzweiflung zündeten sich bereits wieder Menschen an in der Hoffnung, erneut ein Fanal zu setzen." Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die Konrad-Adenauer-Stiftung in ihren Auslandsinformationen 3/2012: "Der Tourismussektor liegt darnieder (minus 33 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum), das wirtschaftliche Wachstum stagniert, ausländische Investitionen bleiben aus, die Arbeitslosenzahl steigt und die sozioökonomische Lage in den benachteiligten ländlichen Gebieten verschärft sich." Da nützt es den verarmten Massen der Bevölkerung wenig, wenn sich westliche Politiker in Tunis die Klinke in die Hand geben und Außenminister Westerwelle bei seiner Visite der Übergangsregierung eine "Transformationspartnerschaft" anbot und eine Schuldenumwandlung in Höhe von 60 Millionen Euro in Aussicht stellte. Die politischen Repräsentanten der imperialistischen Staaten sind an einer schnellstmöglichen Rückkehr zu einem business as usual interessiert und halten wenig davon, Veränderungen in der politischen Sphäre auf die ökonomischen Strukturen des Landes übergreifen zu lassen. Das gilt für Tunesien wie für alle anderen Staaten des sog. arabischen Frühlings.


Ägypten: Militärs müssen Wahlen zulassen

Kairo. Tahrirplatz. Ein Fokus, ideal für Medien, die von Bildern und spektakulären Ereignissen leben. Dass dabei viele andere Proteste unbeobachtet und weitgehend unerwähnt blieben, kann nicht überraschen. Die ägyptischen ArbeiterInnen - vor allem im Nildelta - verfügen über entwickelte Streikerfahrungen. Seit 2006 entstanden in einzelnen Branchen unabhängige Gewerkschaften. Inzwischen sollen es bereits 170 Betriebsgewerkschaften sein. Vieles sprach für eine baldmögliche Auflösung des seit 1957 existierenden regimetreuen Dachverbandes Egyptian Trade Union Federation (ETUF). Es stellte sich aber im Laufe des Jahres heraus, dass es sich viele ArbeiterInnen nicht leisten konnten, durch ihren Austritt aus dem verhassten Dachverband die Ansprüche auf die betriebliche Renten- und Krankenversicherung, die von ETUF verwaltet werden, aufs Spiel zu setzen. Lt. Bernhard Schmid habe sich "die Situation für die Lohnabhängigen in der ersten Zeit nach der Revolution zweifellos gebessert". Erfolgreiche Streiks z.B. der TextilarbeiterInnen und die Ankündigung eines Mindestlohns im Öffentlichen Dienst hätten das Selbstbewusstsein der Lohnabhängigen gestärkt. Er berichtet aber auch von einer bedrohlichen Entwicklung: "Am 23. März verabschiedete die amtierende Militärregierung ein Dekret, das es erlaubt, Streiks und auch Demonstrationen zu kriminalisieren, sofern sie die Produktion behindern. Streikteilnehmerinnen drohen demnach Gefängnis oder Geldstrafen." Am 29. Juni habe erstmals ein ägyptisches Militärgericht einjährige Haftstrafen (auf Bewährung) gegen fünf abhängig Beschäftigte der ägyptischen Erdölfirma Petrojet ausgesprochen. Die Lage der Lohnabhängigen ist trotz gewisser Erfolge schwierig. Das Militärregime kann jederzeit politische und soziale Rechte einschränken und auch die Wirtschaftsentwicklung gestaltet sich kompliziert. Wegen der Unruhen kam es zu ähnlichen und zum Teil noch drastischeren Einbrüchen im Tourismusbereich wie in Tunesien und dringend benötigte Investitionen blieben aus. Die Devisenreserven des Landes gehen zur Neige. Die für viele Haushalte unentbehrlichen Butangasflaschen sind Mangelware und die Preise für Grundnahrungsmittel steigen kontinuierlich an. Das führt vor allem in den unteren Schichten der Bevölkerung zum Wunsch nach einem Ende der Auseinandersetzungen und nach stabileren Verhältnissen. Die großen islamischen Bewegungen, die sich - zumindest was die Führungsebene betrifft - weitgehend aus den Revolten herausgehalten hatten, kennen die Stimmungslage der Volksmassen gut und reagieren auf sie.


Wie hat sich das Kräfteverhältnis durch die Unruhen verändert?

Nachdem eine Eindämmung der akuten gesellschaftlichen Krise repressiv nicht mehr zu bewerkstelligen war, sahen sich die Generäle genötigt, Dampf aus dem Kessel zu nehmen und die verhassteste Figur, Präsident Mubarak, zu opfern, um die Herrschaft der Militärs zu retten.

Das geschah in enger Absprache vor allem mit US-Regierungsstellen. De facto Nachfolger Mubaraks wurde Feldmarschall Tantawi. Statt - wie von der Opposition gefordert - einen zivilen Präsidialrat zu konstituieren, wurde ein Militärrat eingesetzt. Auch wenn man die frühere Regierungspartei NDP (Nationaldemokratische Partei) verbot, Mubarak und seine Söhne vor Gericht stellte und die Notstandsgesetzgebung weitgehend aufhob, änderte sich wenig, was die Verfolgung oppositioneller Kräfte betrifft. Ab November 2011 wurden Parlamentswahlen durchgeführt. Dabei konnten islamisch orientierte Parteien mehr als 70 % der Mandate gewinnen. Wahlsieger wurde die Partei der Muslimbrüder und ihrer Bündnispartner, die 37,5 % der Stimmen und 45,7 % der Sitze erreichte. Mit 24,6 % der Sitze folgt die radikal-islamische Partei des Lichts gemeinsam mit anderen kleineren Parteien aus dem Lager der fundamentalistischen Salafisten. Die Organisationen der AktivistInnen vom Tahrirplatz spielten bei der Wahl keine Rolle. Wie ist das zu erklären?

Zurück zu den alten Verhältnissen wollte die Mehrheit der ÄgypterInnen nicht mehr, die jungen Leute vom Tahrirplatz waren vielen auch nicht geheuer. Deren Rolle bei der Vertreibung des Mubarak-Clans bewunderte man. Doch als es darum ging, die künftigen politischen Entscheidungen in die Hände parlamentarischer Repräsentanten abzugeben, kam das dem. jahrzehntelangen Wirken vor allem der Muslimbruderschaft zugute. Karl Heinz Roth schreibt zu diesem Phänomen in seinem Buch "Der Zustand der Welt": "Die subalternen Klassen sind in bitteren alltäglichen Überlebensanstrengungen befangen. Soweit sie dem dadurch auf ihnen lastenden Druck nicht nachgeben und die erfahrene Gewalt nach innen und unten 'weiterreichen', projizieren sie ihre Bedürfnisse nach menschlicher Würde und sozialer Gerechtigkeit derzeit ganz überwiegend auf spirituelle Heilserwartungen." (S. 80) Es hängt jetzt weitgehend von den religiösen Kräften ab, wie der Übergang von der Militärdiktatur zu einer Demokratie bürgerlichen Zuschnitts vonstatten geht. Dabei ist zu berücksichtigen: Die Militärs sind in Ägypten die einflussreichste Fraktion der Bourgeoisie. Sie sollen im Besitz riesiger Ländereien sein, 45 Prozent der Wirtschaft kontrollieren, vom Suezkanal über Einkaufszentren bis zu Hotelketten in den Tourismusgebieten am Roten Meer. Das ist selbst der in Kairo vertretenen Konrad-Adenauer-Stiftung nicht ganz geheuer: So ist in ihrem Länderbericht vom 24. Januar 2012 zu lesen: "Viele Beobachter bezweifeln, dass die derzeitigen Machthaber wirklich bereit und fähig sind, die politischen Geschicke des Landes tatsächlich in die Hände einer zivilen Regierung zu übergeben. Hinter verschlossenen Türen ist stattdessen von einem Szenario die Rede, in dem sich Militärs und Muslimbrüder auf eine stillschweigende Machtteilung einigen könnten. Während die wirtschaftlichen Privilegien der Militärs weitgehend erhalten blieben und die Generäle ein Vetorecht in entscheidenden politischen Grundfragen eingeräumt bekämen, könnten die Muslimbrüder bzw. die Akteure des gemäßigt-islamistischen Lagers in diesem Szenario das politische Tagesgeschäft des Landes weitgehend bestimmen."

Drei Wochen vorher waren die Büroräume der Stiftung von Vertretern der ägyptischen Staatsanwaltschaft und bewaffneten Polizeieinheiten durchsucht, sämtliche Computer und zahlreiche Dokumente beschlagnahmt worden. Die Polizeiaktion gegen die Stiftung kam in Berlin und bei deutschen Medien nicht gut an, war man doch von deutscher Regierungsseite nach Ausbruch der Unruhen und vor allem nach dem Abgang des in allem so sehr geschätzten Partners Mubarak emsig bemüht, das neue Kräfteverhältnis auszutarieren und zu retten, was zu retten war. Entscheidend für die imperialistischen Länder ist im Fall Ägyptens die geostrategische Bedeutung des Landes. Es kontrolliert mit dem Suezkanal den Wasserweg, der Asien direkt mit Europa verbindet und den Kriegsschiffen der NATO die schnelle Verlegung nach Mittelost ermöglicht. Damit das so bleibt, könnte die traditionelle Waffenbrüderschaft zwischen dem US-Militär und dem ägyptischen weiterhin mit erheblichen Finanzspritzen gepflegt werden. Die Ernährung der 80 Millionen Ägypter ist bisher schon ohne US- Weizenlieferungen nicht mehr vorstellbar. Einer künftigen Regierung - welcher auch immer - bleiben da keine großen Spielräume.

Speziell für die Bundesrepublik, genauer "der deutschen Wirtschaft ist zudem von höchster Bedeutung, daß große Teile des gewaltig boomenden Asienhandels per Schiff abgewickelt werden müssen - ebenfalls über den Suezkanal, will man den langen und teuren Umweg am südlichen Afrika vorbei vermeiden. Der florierende Warenaustausch zwischen Deutschland und China etwa wird zu 70 Prozent über die Meere realisiert. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, welche Schäden die Konzern profite nehmen könnten, sollte der Seeweg durch den Suezkanal nicht mehr problemlos offenstehen." (J. Kronauer) Deshalb wurde man ziemlich schnell von Berlin aus bei den Militärs in Kairo vorstellig. Die Kooperation mit dem Militärregime mündete in einer "Berliner Erklärung", die im August unterzeichnet wurde. "Im PR-Teil des Dokuments war viel von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit die Rede, Phrasen, die wie üblich das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen. In der Tat - das Militärregime hat in nur neun Monaten mehr Aktivisten der Demokratiebewegung vor Gericht gestellt als Mubarak in seiner gesamten Amtszeit; unter anderem dies rief Ende November die neuen Proteste auf dem Tahrir-Platz hervor. Entscheidend an der 'Berliner Erklärung' war allerdings anderes. 'Beide Seiten', heißt es in dem Papier, 'erkannten die Notwendigkeit an, die Märkte weiter zu liberalisieren und Handelsbarrieren zu senken' - ganz im Sinne der expandierenden deutschen Industrie." (Jörg Kronauer, jW, 7.12.2011) Abschließend eine Einschätzung der Vorgänge in Ägypten, die wesentliche Aspekte zusammenfasst:

"Die USA und die europäischen Regierungen ließen ihren Beurteilungsmaßstab für die Ereignisse in Ägypten schnell erkennen: Die Sicherheit Israels und der Durchfahrt durch den Suezkanal sowie eine stabile ägyptische Regierung, welche die internationalen Verträge einhält und seine ölreichen Nachbarn nicht beunruhigt, das waren und sind ihre Hauptkriterien. Längst vorbei die Zeiten, wo die westlichen Regierungen die Muslimbrüder als Terrororganisation verunglimpften. Stattdessen werden sie von regierungsnahen Experten, wie dem Direktor der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, Volker Perthes, als stabilisierender Faktor in der künftigen bürgerlichen ägyptischen Politik vorgestellt. Die herrschenden Klassen der bedeutenden Industrienationen waren in dem Moment beruhigt und stellten sich auf die Seite der ägyptischen Rebellion, als sicher war, dass die Eigentumsfrage nicht gestellt würde. Solange es um politische Reformen geht, die die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse nicht berühren, stellen die bürgerlichen Medien in der ganzen Welt die ägyptische Opposition in ein gutes Licht. Die Interessen der lohnabhängigen Klassen spielen dabei keine Rolle." (Arbeiterpolitik, 10.5.11, S. 13)


Regime-Chance in Libyen, aber mit welcher Perspektive?

"Man muss sich unbedingt auch einmal die Frage stellen, was käme nach dem Sieg der Aufständischen, auf den Trümmern eines vom Bürgerkrieg und vom NATO-Bomben heimgesuchten Landes? Mit der Einigkeit der heterogenen Rebellen wäre es dann wohl vorbei. Kommt dann von ihnen neue Gewalt beim Kampf um das 01 und bei der Machtaufteilung? Der Sozialstaat wäre dann wohl zerstört. Es könnte auch sein, dass der libysche Staat dann auseinanderbricht." (Arsti, Nr. 172, Sommer 2011)

Nach über einem Jahr seit dem Beginn des Aufstandes der Anti-Ghaddafi-Koalition und nach Beendigung der kriegsentscheidenden NATO-Intervention am 31. Oktober 2011 kann zu den in der Arbeiterstimme angesprochenen Befürchtungen ein erstes Resümee gezogen werden; vor allem, was die Einigkeit der heterogenen Rebellen und die Möglichkeit des Auseinanderbrechens des libyschen Staates betrifft. Vorweg aber einige Zahlen und Fakten zu den unmittelbaren Auswirkungen des Krieges. Sie sind einer Analyse des Heidelberger Journalisten Joachim Guillard entnommen. Er geht von mindestens 50.000 Menschen aus, die die "Operation vereinigte Beschützer" (welch ein Zynismus!) nicht überlebt haben sollen. Wohl eine realistische Zahl. Da bei bestätigten 9.700 Luftangriffen etwa 30.000 Bomben und Raketen zum Einsatz kamen, wurden nicht nur große Teile der Infrastruktur zerstört bzw. erheblich beschädigt. Das systematische Zerbomben der libyschen Bodenstreitkräfte konnte nur mit rücksichtsloser Vernichtung von Menschen einhergehen.

"Die gesamten materiellen Schäden des Krieges werden", lt. Guillard, "auf mindestens 35 Milliarden US-Dollar geschätzt." Das Flüchtlingskommissariat der UNO zählte Ende des Jahres 172.000 Binnenflüchtlinge, die in Lagern versorgt werden müssen. Ein weiterer prekärer Aspekt der Nachkriegsverhältnisse ist die Menschenrechtslage. Es sind vor allem zwei Personengruppen, die unter den aktuellen Bedingungen sehr zu leiden haben. Wer als Ghaddafi-Anhänger galt und nicht bereits während der Auseinandersetzungen gefangen genommen und evtl. exekutiert worden war, wurde aus seiner Wohnung vertrieben, musste mit Inhaftierung rechnen und war den Schikanen der Milizen ausgesetzt. Ähnlich erging und ergeht es den schwarzen Libyern und Arbeitern aus den südlichen Nachbarländern, die pauschal als Ghaddafi-Sympathisanten verdächtigt und dementsprechend behandelt werden.

Bei Guillard heißt es: "Die UNO hatte im November 2011 Kenntnis von 7000 inhaftierten 'neuen Staatsfeinden', darunter auch Frauen und Kinder sowie viele Schwarzafrikaner, die 'vermutlich wegen ihrer Hautfarbe festgenommen wurden'. Die meisten würden illegal von Milizen festgehalten, gefoltert und systematisch mißhandelt." Wie einem Bericht des UN-Sonderbeauftragten für Libyen, Jan Martin, zu entnehmen ist, sorgen zur Zeit "bewaffnete rivalisierende Gruppen für Recht und Ordnung im Land". Davon soll es über 300 mit mehr als 120.000 Kämpfern geben. Allein in Tripolis teilen sich 50 Milizen die Einflussgebiete auf. Der "Nationale Übergangsrat", der während des Aufstands von der NATO als Führungsgremium betrachtet wurde, ersetzte den bisherigen "Exekutivrat" durch eine formelle Interimsregierung, was wiederum kaum Auswirkungen hat, denn die tatsächliche Macht liegt nach wie vor in den Händen der Milizen und der Stämme. Deren Gemeinsamkeiten endeten zumeist mit dem Ende der Ghaddafi-Herrschaft. Seit der offiziellen Beendigung des Krieges brechen regelmäßig neue Kämpfe in verschiedenen Teilen des Landes aus. Im Januar kam es in Tripolis zu einem mehrstündigen Gefecht mit Toten und vielen Verletzten zwischen Milizen aus Misrata und einer lokalen Miliz. Umstritten bei anderen Milizen ist der sog. Militärchef von Tripolis, Abdelhakim Belhadsch. Er soll auf Seiten Al Qaidas und der Taliban in Afghanistan und Irak gekämpft haben. Auf ihn, der die stärkste bewaffnete Formation in der Hauptstadt, den "Tripolis Militärrat" kommandiert, stützt sich die Interimsregierung. In der Umgebung der Hauptstadt Tripolis ist Abubaker Emhamed, Kommandeur von über 100 Milizen mit etwa 10.000 Kämpfern, dabei, den Einfluss von Belhadsch in Grenzen zu halten. Seine Leute bewachen die Ölfelder und den internationalen Flughafen von Tripolis. Mit der Einigkeit der Rebellen ist es also nicht gut bestellt. Dazu kommen regionale Konflikte. Bei Spiegel online war am 6. März zu lesen: "Das neue Libyen zerfällt. Die Region Cyrenaika hat sich für unabhängig erklärt." Und eine Woche später: "Das neue Libyen kommt nicht zur Ruhe. Während einer Kundgebung in der Stadt Bengasi sind Demonstranten von Bewaffneten mit Messern, Steinen und Schusswaffen angegriffen worden. Mindestens ein Mensch starb. Rund 2000 Libyer hatten für die Gründung einer autonomen Region protestiert." Zur selben Zeit, als sich in der Cyrenaika separatistische Bestrebungen verstärkten, kam es im Süden des Landes, etwa 700 Kilometer von Tripolis entfernt, zu heftigen Stammeskämpfen mit über 100 Toten. Der Journalist Alfred Hackensberger berichtete dazu aus Tripolis: "Zu Streitigkeiten war es zwischen Stämmen gekommen, die in der Ära nach Muammar Gaddafi ihre Machtpfründe neu sortieren." Die beiden involvierten Städte "liegen auf Schmugglerrouten, auf denen Zigaretten, Drogen, Alkohol und Waffen transportiert werden". Libyen sei "faktisch weiter aufgesplittert in große Städte und die Regionen. Diese machen, was sie wollen, und die Übergangsregierung ist auf deren Wohlwollen angewiesen". (ND, 2.4.12)

Was den Süden des Landes betrifft, ist mit der Ausrufung eines Tuareg-Staates namens Azawad in Mali eine zusätzliche Destabilisierung der Region zu erwarten. Dazu äußerte sich der SZ-Journalist Rudolph Chimelli in einem Artikel mit der Überschrift "Afrikas Afghanistan" am 14. April: "Für Gaddafi war ein großer Saharastaat einst ein Traum, einige Tausend Veteranen, die sich mit schweren Waffen aus Libyen in ihre südlichen Heimatländer abgesetzt haben, könnten ihn nun verwirklichen. Ein unabhängiger Tuareg-Staat in der Mitte der Sahara wäre damit einer der schwersten Kollateralschäden des Libyenkrieges."

Sollte es im Juni, wie geplant, zu Wahlen kommen, dürften religiöse Gruppierungen des sunnitischen Islam, darunter vor allem die Muslimbruderschaft, die meisten Sitze in der Verfassungsgebenden Versammlung bekommen. Als Kandidaten zugelassen sind letztlich nur Personen, die ihre Unterstützung für den Aufstand belegen können. Noch ist es zu früh, über das weitere Schicksal Libyens eine Prognose abzugeben. In dem gerade erst veröffentlichten Friedensgutachten 2012 kommt Jochen Hippler zu der vorsichtigen Einschätzung: "Vieles spricht dafür, dass der Sieg der NATO und der von ihr unterstützten Aufständischen über das Gaddafi-Regime nicht zu einem demokratischen Staatswesen führen wird, sondern zur Fragmentierung und zu gewaltsamen Machtkämpfen zwischen zahlreichen Stämmen und Milizen." (S. 240) Mit Sicherheit wird es sich nicht um einen fortschrittlichen Staat handeln, soweit er überhaupt Bestand haben kann. Die imperialistischen Staaten werden ihre Kriegskosten einfordern. Wenn sich die Sicherheitslage nicht schnell bessert, werden die internationalen Ölkonzerne nicht nur Freude mit dem "neuen Libyen" haben. Diejenigen Linken, die auf den Trick mit der in der UN-Resolution 1973 geforderten Flugverbotszone hereingefallen sind, sollten diese Erfahrung im Fall Syrien berücksichtigen. Wieder einmal hat sich eine prinzipielle Herangehensweise bewährt, die da lautet: "Wir lehnen scharf die Einmischung imperialistischer Mächte in die Angelegenheiten souveräner Staaten ab." (s. Arsti Nr. 172, S. 9)


Syrien in der Sackgasse

Im März 2011 war es auch in Syrien zu ersten Demonstrationen gekommen. Anlass war die Verhaftung und schikanöse Behandlung von Jugendlichen nach einer Sprayaktion - manche Quellen sprechen auch von Folter - in der südsyrischen Stadt Daraa. Bei weiteren Demonstrationen soll es Tote gegeben haben, worauf Protestierende Gebäude in Brand setzten. Am 29. März trat das Kabinett zurück. Hätte damit ähnlich wie in Jordanien wieder Ruhe einkehren können? Möglicherweise. Aber die politische Gemengelage in diesem Nahoststaat und um ihn herum ist komplizierter als anderswo. Die soziale Lage großer Teile der Bevölkerung verschlechterte sich in den letzten Jahrzehnten. "Einkommensungleichheiten und Korruption haben enorm zugenommen. Insbesondere Assads Cousin Rami Makhlouf, der in kürzester Zeit ein milliardenschweres Wirtschaftsimperium aufbauen konnte, ist für die meisten Syrer inzwischen zum Symbol für die Korruption im engsten Umfeld des Präsidenten geworden." (Volker Perthes in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/12) Fawwaz Traboulsi, libanesischer Linksintellektueller, dazu: "Im Jahr 2000 reformierte Bashar Assad, nachdem er die Nachfolge seines Vaters antrat, sofort den Finanz- und Wirtschaftssektor. Der alte Wohlfahrtsstaat, der weite Bereiche der Gesellschaft versorgte, wurde neoliberal dereguliert." Inhaltlich ähnlich äußerte sich Hunein Nemer, Erster Sekretär der Syrischen Kommunistischen Partei (vereinigt) in einem Aufruf vom 21. September:

"Diese Bewegung (die Protestbewegung) warf ein Licht auf große Probleme im politischen Leben in Syrien: den fortwährenden Ausnahmezustand, mangelnde Regelungen der politischen Betätigung und so weiter. Darüber hinaus lenkte sie die Aufmerksamkeit auf die verbreitete Unzufriedenheit über die Verschlechterung der sozialen und Lebensbedingungen in der Folge der Hinwendung Syriens zu einer 'freien Marktwirtschaft' - Reduzierung der staatlichen Unterstützung für die Armen, Zurückfahren der Subventionen für Grundbedürfnisse und für die Landwirtschaft - und freien Handel, der aber nicht von einer Weiterentwicklung der syrischen Industrie begleitet wird. Das fördert die Arbeitslosigkeit, besonders unter der Jugend." (uz, 30.9.11)

Die beschriebene Situation verschärfte sich durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise der Jahre 2008/09.

Weil aber die seit Jahrzehnten regierende Baath-Partei (Arabische sozialistische Partei der Wiedererweckung), als bestimmende Kraft im nationalen Parteienbündnis Progressive nationale Front, das gesamte zugelassene politische Spektrum - zwei KPen eingeschlossen - abdeckt, und somit auch für die immer dramatischere soziale Schieflage verantwortlich gemacht wird, musste sich der Widerstand außerhalb des erlaubten Politikbetriebs - sprich auf der Straße - manifestieren. Wie die weitere Entwicklung sehr schnell zeigte, war es mit einer Kabinettsumbildung nicht getan. Die Protestaktionen gingen weiter und dehnten sich auf andere Städte aus; vor allem in Grenznähe zum Libanon. Präsident Baschar al Assad ließ einerseits mit einem Bündel repressiver Maßnahmen antworten, was wiederum die Wut der Protestbewegung anheizte und zu weiteren Toten und Verletzten führte, andererseits hob er den seit 48 Jahren geltenden Ausnahmezustand auf. Im April meldete sich vom Ausland aus die Moslembruderschaft zu Wort, die zu einer Ausweitung der Proteste aufrief. Gleichzeitig setzte US-Präsident Obama Sanktionen gegen Mitglieder der syrischen Regierung in Kraft. Spätestens im Juni eskalierten die Unruhen zu bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen. Deserteure brachten ihre Waffen mit, aber auch über die irakische und libanesische Grenze kam Nachschub für bewaffnete Gruppen, die sich fortan als Freie syrische Armee bezeichneten und wohl den Truppen der Regierung an Grausamkeit nicht nachstehen. Der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Todenhöfer, der sich im November und im März in Syrien aufhielt und nicht als Sympathisant der Assad-Familie gelten kann, belegte diese Behauptung mit konkreten Beispielen.

Im August forderten, nachdem in einer Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats wegen Russland und China keine gemeinsame Resolution zustande gekommen war, die USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien den Rücktritt des Präsidenten Assad. Im September wurde die Zahl der Bewaffneten der Freien syrischen Armee mit 10.000 beziffert. In den Medien tauchten Meldungen auf, Kämpfer mit Afghanistan- und Libyenerfahrung seien in Syrien aktiv, nicht zuletzt Al Qaida-Strukturen. Im Oktober bezifferte der UN-Menschenrechtsrat die Zahl der Getöteten mit 3.000. Die Arabische Liga suspendierte im November die Mitgliedschaft Syriens. Im Frühjahr 2012 ernannte man den früheren UNO-Generalsekretär Kofi Annan zum Sondergesandten der UNO und der Arabischen Liga. Es gelang, einen Waffenstillstand auszuhandeln. Über die Einhaltung gibt es unterschiedliche Meldungen. Jedenfalls überwies der Golf-Kooperationsrat im April 100 Millionen Dollar an die Freie syrische Armee, kein Beitrag zu einer Deeskalation der Kämpfe. Für Überraschung sorgte unlängst der neue französische Staatschef François Hollande, der eine bewaffnete Intervention unter UN-Mandat nicht nicht mehr ausschließt. Eine herbe Enttäuschung für alle, die den sozialdemokratischen Präsidenten nach der Ankündigung des Rückzugs der französischen Truppen aus Afghanistan auf einem ganz anderen Weg sehen wollten. Die Frage, ob es ähnlich wie in Libyen zu einer bewaffneten Intervention kommt, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beantwortet werden.

Wer immer das schreckliche Massaker von Hula mit über 100 Toten und weitere Metzeleien zu verantworten hat, will eine Eskalation der militärischen Auseinandersetzungen und ein Scheitern der Annan-Mission. Ein Sprecher der Aufständischen soll am 4. Juni den Friedensplan von Kofi Annan für gescheitert erklärt und eine Verschärfung des militärischen Kampfes angekündigt haben. Die Beteiligung von über 12.000 Soldaten der USA, von Jordanien und 15 weiteren Ländern des Nahen Ostens an dem dreiwöchigen Militärmanöver Eager Lion (Eifriger Löwe), welches am 15. Mai begann und seitens der USA Eliteeinheiten der Bodentruppen, der Luftwaffe, der Marine und von Spezialeinheiten einschloss, deutet unmissverständlich darauf hin: Das Pulverfass Nahost steht vor einer Explosion.

Stand: 4.6.12 /hd

KASTEN


Wie positionieren sich Linke in Deutschland zu den
Auseinandersetzungen in Syrien?

Für Linke gelten Volksaufstände bzw. Rebellionen als Ereignisse, denen man mit Sympathie zu begegnen hat. Dabei vergisst die eine oder andere Stimme aus diesem Spektrum schon mal, genauer hinzuschauen und zu überlegen, welche Interessen von den jeweiligen Akteuren verfolgt werden bzw. mit wem man sich da ins gemeinsame Boot setzt. Beispiel "Adopt a Revolution", ein sog. Projekt, das im Herbst 2011 von syrischen und deutschen Aktivistinnen ins Leben gerufen wurde. Es wirbt mit der Aufforderung: "Unterstützen Sie die Ziele des Projekts, indem Sie RevolutionspatIn werden." Es ist eines der ganz seltenen Projekte in Deutschland, bei dem man eine Revolution unterstützen und die Ausgaben steuermindernd geltend machen kann, wie der Träger des Projekts, der Verein "about:change e.V" mit Sitz in Leipzig, betont. Die Patenkampagne werde vom Auswärtigen Amt auf Arbeitsebene unterstützt, schreibt Rüdiger Göbel in der DKP-Zeitung Berliner Anstoß. Das Projekt verdiene "Aufmerksamkeit und Unterstützung" meint die Redaktion des AK (Analyse und Kritik) in der Sonderbeilage "The people demand". Dies wiederum findet Beifall bei Ivo Bozic, der für Jungle World schreibt. Er hält es für begrüßenswert, "dass Teile der antiimperialistischen Linken anfangen umzudenken. (JuWo, 23.2.12) Die Erklärungen der Linkspartei, die eine "friedliche Lösung" und auf "Verhandlungen" zwischen den Konfliktparteien orientieren, nennt er "heuchlerisch und zynisch zugleich". Bozic befindet sich damit im Gefolge der deutschen Mainstreammedien, was ihn aber nicht zu stören scheint. Diese Medien fielen z.B. über Abgeordnete der Linkspartei her, weil sie den Aufruf "Kriegsvorbereitungen stoppen! Embargos beenden! Solidarität mit den Völkern Irans und Syriens!" unterschrieben hatten. Arno Klönne ordnete in der SOZ vom 5.2.2012 diese Kampagne "als Teil des diskurspolitischen Alltagsgeschäfts hierzulande" treffend ein. Teil dieser kämpferischen Anstrengungen sei es, so Klönne, Streit in die Linke selbst hineinzubringen. So etwas gehöre einfach dazu. Er weist aber auch auf einen Schwachpunkt des Aufrufs hin: "Allerdings hat der Text des Aufrufs es dessen demagogischen Verwertern bequem gemacht, und - weitaus wichtiger noch, weil es die Verständigung innerhalb der Linken selbst betrifft: Es wird darin nicht gesagt, was denn 'Solidarität mit den Völkern Irans und Syriens' gesellschaftspolitisch bedeutet. Das Volk als 'Volksgemeinschaft' gibt es auch dort nicht, das wäre eine die Realität verschleiernde Deutung, es existieren auch in diesen Ländern harte Konflikte zwischen sozialen Klassen, zwischen Herrschaftscliquen und Unterdrückten."

An diesem problematischen Punkt setzt auch Anton Holberg an, wenn er bei den aufbegehrenden Bewegungen unterdrückter Klassen in den arabischsprachigen Ländern "kein politisches Programm, das wesentlich über die Forderung nach bürgerlicher Demokratie und Verbesserung ihrer ökonomischen Lage im Rahmen der bestehenden Wirtschaftsordnung hinausgeht", erkennen kann. So bleibt denn vorerst nur eine Hoffnung auf politische Kräfte, die durch langjährige Kontakte beispielsweise zu finanzkräftigen Golfstaaten organisatorische Stärke entfalten können.

"Da die 'friedensbewegte' internationale Bewegung keine ausreichenden Mittel hat, dem ernsthaft etwas entgegen zu setzen, täte sie gut daran, die Finger von irgendwelchen 'Adoptions'-Versuchen. zu lassen (...) und stattdessen inhaltliche Aufklärungsarbeit über Charakter und gesellschaftliche Perspektiven der im syrischen Bürgerkrieg (und um einen solchen und keineswegs nur um den Kampf 'des syrischen Volkes' gegen die 'Assad-Diktatur' handelt es sich) aktiven Kräfte zu leisten und natürlich gegen jede Einmischung ihres je eigenen imperialistischen Staates einzutreten." (Anton Holberg, 20.4.12)

In einer etwas komplizierten Situation befindet sich die DKR. Auf der Homepage ist zu lesen: "Unter solchen Voraussetzungen und den zu Grunde liegenden inländischen Widersprüchen in Syrien ist eine klare politische Orientierung keine einfache und alltägliche Aufgabe." (kommunisten.de, 29.05.2011) Mit den Voraussetzungen bezieht man sich auf Äußerungen von NATO- und EU-Repräsentanten, die öffentlich aggressive Positionen gegen Assad bezogen haben. Und für die inländischen Widersprüche trägt auch die syrische KP als Teil der regierenden Nationalen Progressiven Front Mitverantwortung. Angesichts dieser Sachverhalte in der Tat "keine einfache und alltägliche Aufgabe".

In einer "Erklärung des Internationalen Komitees der (trotzkistischen) Vierten Internationale" werden die arabischen Rebellionen als "Revolutionen" bezeichnet. Freund und Feind scheinen auch in Syrien klar definiert zu sein, wenn es heißt: "Seit einem Jahr gehen die syrischen Massen (!) auf die Straße und haben heldenhaft (!) und friedlich den täglichen Massakern stand gehalten." Die Rede ist von der "Märtyrerstadt Homs", eine Bezeichnung, die eine marxistische Organisation nicht verwenden sollte. Immerhin spricht sich das Komitee "gegen jede Art von militärischer Intervention" aus.

hd

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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 176, Sommer 2012, S. 12-19
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2012