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ARBEITERSTIMME/257: Nordkorea - Die gefrorene Revolution, Teil 3


Arbeiterstimme, Herbst 2012, Nr. 177
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Nordkorea

Die gefrorene Revolution - Teil III und Schluss



Nordkorea im 21. Jahrhundert

Nordkoreas Gegenwart und Zukunft stehen im Fadenkreuz unterschiedlicher Interessen, die man sich vergegenwärtigen sollte, um einen Ausblick für das Land zu fundieren.


Der Staat, der auf den "geliebten Führer" ausgerichtet ist

Kim Jong-il, designierter Nachfolger, General und Vorsitzender der Nationalen Verteidigungskommission wird 1997, nach drei Jahren, tatsächlich inthronisiert. Dafür zahlt er einen hohen Preis: "ewiger Präsident" wird sein verstorbener Vater. Um im Militär Anerkennung zu finden, hat er der Armee Vorrang beim Zugriff auf öffentliche Mittel zu gewähren, die Son-gun Politik ("das Militär kommt zuerst") wird offiziell und erhält schließlich Verfassungsrang. Kim wird erst im Oktober 1997 Generalsekretär der Partei, die Prioritäten sind eindeutig gesetzt.

Der Kult um Kim Il-sung, die Errichtung und Erneuerung Tausender von Gedenkstelen, Skulpturen, Bildnissen ab 1997, die neue Zeitrechnung Nordkoreas ab seiner Geburt (das Jahr 2012 entspricht dem Jahr "Juche 101"), die "Ehrenpflicht" aller Nordkoreaner, kleine Plastikanstecker mit Kims Bildnis über dem Herzen zu tragen; alle diese Maßnahmen, einschließlich des Beschlusses, Kim Il-sungs Arbeitspalast zum "ewigen" Mausoleum umzuwidmen, rahmen die Macht des Nachfolgers ein.

Dies ist der Preis dafür, Nachfolgekämpfe zu verhindern und die Einheit der Führung zu erhalten. Kims Macht ist geliehen, in erster Linie von der Militärführung, die Instanzen der Partei verlieren an Einfluss und Bedeutung und dienen auch mal als Sündenböcke, wie im Fall der Währungsumstellung geschehen.

Hatte sein Vater den Führerkult gefördert, um die Partei auszuhöhlen und mundtot zu machen, dient der Kult jetzt vor allem dem Militär dazu, den Spielraum des Sohnes einzuhegen. Noch sind aber beide Seiten, Kim und das Militär, aufeinander angewiesen.

Der Nach-Nachfolger, Kim Jong-un, wird allerdings seine Macht unter völlig anderen Bedingungen zu sichern haben. Anders als sein Vater war er bis 2011 in der Öffentlichkeit nicht aufgetreten, er hatte kein Amt inne.

Die Nennung seines Namens verursachte wenige Monate vor dem Tod seines Vaters noch betretenes Schweigen. Am Tag nach seinem Ableben werden die ersten Ergebenheitsadressen an den neuen Führer Kim Jong-un ausgestrahlt, in denen namenlose Befragte versichern, dass die abgrundtiefe Trauer in die geschlossenste Unterstützung des jungen Führers überführt werde. Glaubwürdigkeit sieht anders aus.

Auch der Enkel muss die "Laufbahn" über die militärische Schiene wählen: nach den ersten öffentlichen Auftritten an der Seite des Vaters im Spätsommer 2011 wird er zum Vier-Sterne-General (davon gibt es viele) ernannt und er begleitet wortlos den Vater auf seinen Inspektionsreisen.

Nach Kim Jong-ils Tod wird sein Sohn umgehend Vorsitzender der Nationalen Verteidigungskommission (NVK), der zentralen Entscheiderposition im Land, dabei ist er eingerahmt von den höchstrangigen Militärs. Mit einigen Tagen Abstand wird er, der gerade erst Parlamentsdelegierter geworden war, provisorisch mit den Ämtern seines Vaters betraut. Im April 2012 wird die Einführung des geliebten Nachfolgers definitiv: Kim Jong-il bleibt "Ewiger Vorsitzender" der NVK, die Parteikonferenz bestimmt den Vater zum "Ewigen Generalsekretär" der PdAK, der Sohn wird zum "Ersten Sekretär" ernannt. Noch im Winter begann man, die Gedenkorte um Bildnisse, Mosaiken und Statuen Kim Jong-ils zu erweitern. Bekanntestes Beispiel dafür ist die Erweiterung des großen Monuments auf dem Mansu-Hügel in Pyongyang, die zwanzig Meter hohe Bronzestatue Kim Il-sungs wurde ergänzt um ein höhengleiches Abbild Kim Jong-ils.

Kim Jong-un spricht am 15. April, anlässlich des 100. Geburtstages seines Großvaters, davon, dass die Souveränität des Landes Vorrang vor allem anderen hat. Der Garant dafür, die Streitkräfte, habe dabei "die erste, die zweite und die dritte" Priorität.

Eine Übersetzung einer koreanischen Verlautbarung zu dieser Rede spricht davon, dass die "vielbeachtete Rede Kim Jong-uns ... allen Koreanern gezeigt (hat), dass dieser vollkommen identisch mit Kim Il-sung und Kim Jong-il ist..." (Schweizerische Juche-Ideologie-Studiengruppe). Die Behauptung von der (personellen) Identität aller bisherigen Führer wird in mehreren Texten dieser Wochen wiederholt, dies lässt meines Erachtens nur eine Schlussfolgerung zu: seine ersten politischen Schritte sind Kim Jong-un bis ins Kleinste vorgegeben, seine Autorität bezieht er allein aus seiner Abstammung. Sein Onkel Jang Sung taek wird ihm zur Seite gestellt, die Mutter seines Großvaters wird in die Ahnenreihe der Revolutionsheiligen aufgenommen und ist inzwischen im Kim-Mausoleum als Wachsfigur zur Verehrung freigegeben.


Die Legitimation der politischen Führung

Sie hat sich erheblich verändert: während Kim Jong-il über Jahrzehnte hinweg Interpret der Politik seines Vaters war und damit das Austarieren der Macht beeinflusste, ist Kim Jong-un nur mehr die Hülle für die Autorität seiner Vorfahren. Je identischer er damit ist und so die symbolische Position des Vaters der Nation ausfüllt, desto mehr Legitimität wird ihm zugebilligt.

Dies zeigt, dass der materialistische Ansatz zur Erklärung der Entwicklungsprozesse einer Gesellschaft (der seinen Platz vor allem in der Partei haben sollte) jenseits aller papiernen Bekundungen aufgegeben wurde. Politische und militärische Führung greifen stattdessen auf uralte Kulturmuster zurück, denen eine höhere Wirkungsmächtigkeit in Nordkorea zugetraut wird. (Notwendige) neue gesellschaftliche Aufgaben und Erfordernisse werden mit Hilfe überkommener Strukturen angegangen, die rhetorisch notdürftig als Verwirklichung des Sozialismus bemäntelt werden, aber tatsächlich auf feudalistisch grundierten Rollenmustern basieren. Dieses Muster ist geprägt vom konfuzianischen Denkmodell einer harmonischen Gesellschaft, die sich in der traditionellen Zuordnung der Aufgaben und Rollen, der Beachtung der Sitten und Gebräuche erfüllt.

Einem chinesischen Kaiser der Vergangenheit gleich steht Kim Jong-un als einziger mit den Göttern, seinen Vorfahren, in Verbindung und gewinnt daraus die einzige Autorität, auf die er sich gegenwärtig berufen kann.

Mag diese Analogie auch überzogen wirken, so ist sie doch letztlich Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, der von der nationalen Befreiung zur nationalen Isolation führt und die Ausweglosigkeit zum politischen und gesellschaftlichen Ideal der Unabhängigkeit und der Einheit im gemeinsamen Willen erklärt. An vielem herrscht in Nordkorea Mangel, aber nicht an Sinnstiftung.


Das Militär

Der schon erwähnte privilegierte Zugang zu staatlichen Ressourcen jeglicher Art in Verbindung mit der Entwicklung atomarer Waffenkapazitäten geben der Militärführung eine einzigartige Position in Nordkorea.

Eingeteilt ist die Armee in regionale Militärkommandanturen auf der Ebene der elf Provinzen und Stadtgebiete. Elf Militärkommandanten besitzen also Zugriff auf jeweils drei Jahrgänge junger Männer und, geschätzt, 10 - 20% der jungen Frauen in den Regionen. Nach der elfjährigen Schulausbildung werden sie zum Militärdienst eingezogen, werden dort in vielen Fällen ausgebildet (was die geschlossenen, verfallenden Zivilbetriebe nicht mehr leisten können), selbstverständlich auch militärisch gedrillt. Sie werden aber häufig, wie täglich zu sehen war, für alle möglichen Zwecke außerhalb von Kasernen eingesetzt: Lastwagen mit Militärkennzeichen transportieren, ebenso wie zivile Fahrzeuge, Baumaterial und Arbeitskräfte. Militärische Baubrigaden ziehen zivile Bauten hoch und tragen 2011 zur Verschönerung des Stadtbildes von Pyongyang bei (Fahrbahnarbeiten, Baumpflanzungen u.ä. anlässlich der großen Gedenkfeierlichkeiten 2012), Militär arbeitet auf den Feldern und in eigenen Werkstätten und Fabriken. Militär sichert an vielen Orten zumindest eine ärztliche Minimalversorgung, es wird im Katastrophenschutz eingesetzt, es baut Autobahnen, sichert Bahnhöfe und wird in die Bergwerke geschickt. Das Funktionieren des öffentlichen Lebens ist ohne militärische Hilfe nicht mehr denkbar.

Die Militärhierarchie lässt sich diese Stützung von der politischen Führung vergelten. Was in den Betrieben, Kraftwerken und Bergwerken, die das Militär kontrolliert, erzeugt und verkauft wird, entzieht sich, wenigstens zum Teil und vor allem dort, wo die politische Zentrale weit weg ist und die chinesischen Abnehmer dafür umso näher sind, der ökonomischen Planung und der Besteuerung.

Die Erfordernisse einer militärischen Hochtechnologie in einem schwach entwickelten Umfeld bindet die wenigen Spezialisten, die zivile Forschung, gar Produktion hochwertiger Güter und Verfahren findet nicht mehr statt. Solange diese Fehlentwicklungen durch die falsche Son-gun-Politik nicht nur bemäntelt, sondern gefördert werden, steht das Militär hinter dieser Politik. Familien, speziell aus den Gebirgsregionen und abseits der großen Städte erhoffen sich für die Söhne ein besseres Leben, wenn sie zum Militär gehen.

Vor der Reise nach Korea habe ich Videos mit erschreckenden Aufnahmen von hungernden Rekruten in Militärlagern gesehen. Ich war sehr skeptisch, weil man zwangsläufig bei allen Informationen über Nordkorea, ob aus Druckmedien, Fernsehen oder dem Internet, äußerst zurückhaltend wird. Das Land und seine Führung im Besonderen sind eine ideale Projektionsfläche für Spinner und ideologische Schnäppchenjäger jeder Couleur. Entsprechend "bunt" leben viele ihre Machtsehnsüchte, Gewaltinstinkte, ihren diktaturökologisch fundierten Pessimismus, ihr Helfersyndrom oder auch ihren Stellvertreter-Antiimperialismus aus. Viele Informationen sind von südkoreanischen Diensten eingestellt, werden über bestimmte (japanische) Journalisten oder (russische) Wissenschaftler transportiert, deren Geldgeber ganz spezielle Interessen vertreten.

Dies alles einberechnet war ich doch erschüttert, als wir im Mausoleum auch Militärabordnungen begegneten, zu denen in ihrer Entwicklung körperlich stark zurückgebliebene junge Männer gehörten. Die Unterernährung in den Provinzen hat bleibende Schäden an einigen Alterskohorten hinterlassen.

Sollte aber der Hunger auch im Militärdienst auftreten, dürfte die Einigkeit der Armee Vergangenheit sein und damit würde die Machtfrage neu gestellt.


Die Interessen der Nachbarn

Südkorea

Kim Dae-jung nahm für den Süden einen gewissen Schwenk der Koreapolitik vor. Er wollte sich damit von seinen US-gestützten Vorgängern stärker abgrenzen, außerdem war die asiatische Finanzkrise der 1990er Jahre ein deutliches Signal dafür, die eigenen strategischen Optionen zu erweitern.

Im Jahr 2000 vereinbarten beide Staatsführer eine "Gemeinsame Erklärung", die eigenständige Wiedervereinigungsgespräche als Absicht enthielt und einige für den Norden wichtige und interessante Möglichkeiten eröffnete. Ein Industriepark in der unmittelbaren Grenzregion Kaesong sollte Arbeitsplätze für Montagetätigkeiten und einfachere Produktion schaffen und südkoreanische Touristen unter eigenem Management in das Geumgang-Gebirge im Norden bringen.

Die Folgejahre zeigten, dass beide Seiten die Investitionen unter politischen Prämissen sahen. Jede Verstimmung, jeder politische Wechsel auf beiden Seiten führte zur Unterbrechung der Produktion und der Reisetätigkeit und schließlich bis heute zum Abbruch. Beide Koreas stehen sich heute so fremd und feindlich gegenüber wie eh und je.

Zum Allgemeinplatz wurde die Vermutung, das südkoreanische Interesse an einer Vereinigung sei spätestens seit dem deutschen Exempel keine wünschenswerte Option mehr. Richtig daran ist vor allem, dass der Süden weder auf die Arbeitskräfte des Nordens angewiesen ist, die mühsam und mit hohem Kostenaufwand nachqualifiziert werden müssten, noch auf seine Bodenschätze. Südkorea baut die größten Fracht- und Containerschiffe der Welt, die jeden gewünschten Rohstoff billigst aus den Minen Papua-Neuguineas, Indonesiens oder Australiens heranschaffen.

Die Teilung des Landes ist längst in eine historische Distanz gerückt und die politische wie ökonomische Elite Südkoreas hat kein Interesse daran, das historische Unrecht wie die Grundlagen der eigenen Herrschaft zu thematisieren.

Die Koreaner beider Teile wissen nichts voneinander, kennen nur die Geschichtsinterpretation der eigenen Seite.

Deshalb kann auch die Analogie zur deutschen Vereinigung nicht greifen, auch wenn, anders als im Fall BRD und DDR, offiziell beide Staaten die Vereinigung anstreben. Es stehen sich hier bis heute unverändert militärische Feinde gegenüber, deren Abschreckungspotenzial die Teilung verfestigt hat. Da alle Voraussetzungen für eine "Versöhnung" fehlen, ist eine Art kontrollierter Annäherung nicht vorstellbar. Diese Situation schränkt beide Staaten in ihren Handlungsmöglichkeiten stärker ein, als ihnen lieb sein kann. Südkorea wird letztlich nicht von den Vorgaben und Interessen der USA abweichen, will es keine Unabwägbarkeiten provozieren. Nordkorea ist in seiner Unabhängigkeit weiter auf seine Beziehungen mit China beschränkt, es gelingt nicht, den Aktionsradius zu erweitern.


China

Die Beziehungen zur Volksrepublik China sind gegenwärtig und weit in die Zukunft gerichtet für Nordkorea entscheidend. Das war sicherlich auch Kim Jong-il klar, als er in seinem Testament vor einem wachsenden Einfluss des nördlichen Nachbarn warnte. Bloß hat Korea keine andere Option, so unabhängig man sich auch geben mag.

Welche Interessen verfolgt China in Nordkorea? Die koreanische Politik bezieht sich, mit stark schwankender Intensität, positiv auf China. Zu keinem anderen Land pflegt man nur annähernd so enge Beziehungen. Für China gilt dies nicht.

Koreanische Staatsführer sprechen in Peking vor, nicht umgekehrt. Und nicht bei jeder Chinareise erhält einer der Kims einen Gesprächstermin.

Im Westen wird häufig darüber spekuliert, wie weit der chinesische Einfluss auf die koreanische Politik reicht. Die Frage sollte eher dahin gerichtet sein, wie weit sich China in nordkoreanische Angelegenheiten einmischen kann, ohne von anderen Verhandlungs- und Wirtschaftspartnern, also Südkorea, Japan und den USA, dafür in Haftung genommen zu werden. Diese Außenbeziehungen sind für China um ein Vielfaches wichtiger, darauf gilt es Rücksicht zu nehmen. Beispielsweise gelten UNO-Sanktionen gegen Korea nach dessen Atomwaffenversuchen, die von China nicht verhindert wurden.

Auf der anderen Seite war die "Vorstellung" Kim Jong-uns durch seinen Vater 2011 in Peking Voraussetzung eines möglichen Machtwechsels und der erste offizielle Staatsbesuch wird Kim mit Sicherheit nach China führen. Sein Spielraum besteht sozusagen darin, den Termin für diese Reise zu wählen.

Die wirtschaftlichen Beziehungen sind für Nordkorea nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten existenziell wichtig geworden. Importe aus China müssen die Energieversorgung sichern, neue Fahrzeuge und Maschinen stammen fast ausschließlich vom Nachbarn im Norden. Diese Lieferungen sind aus chinesischer Sicht kein Verlustgeschäft, sondern sie sind Garantie für den weiteren Einfluss. Da Nordkorea im Wesentlichen und auf nicht absehbare Zeit nur mit Gegenlieferungen bezahlen kann, sichert sich China Zugriffsrechte auf die Rohstoffe des Landes. Es profitieren von diesen Handelsbeziehungen vor allem die drei mandschurischen Provinzen, von denen zwei die Grenze mit Korea teilen.

Die Mandschurei ist als traditionelle Industrieregion vor allem auf den chinesischen Binnenmarkt ausgerichtet; Kohleförderung und -verarbeitung haben das Wirtschaftswachstum der Provinzen in den letzten Jahren deutlich über den chinesischen Durchschnitt getrieben, zwischen 12 und 15% Jahreszuwachs waren die Norm. Das hat mit koreanischen Rohstoffen und Arbeitskräften nur zu einem kleinen Teil zu tun. Was in Korea gefördert werden kann, wird auch in der Mandschurei abgebaut. Die Gewichte sind überdeutlich verteilt, allein die südliche Grenzprovinz Liaoning hat die doppelte Einwohnerzahl Nordkoreas und ein Inlandsprodukt, das ca. 15 mal höher liegt.

Deshalb wird sich China verstärkten Handelsbeziehungen nicht verweigern, es ist aber nicht in dem Maß darauf angewiesen, wie dies umgekehrt der Fall ist. Das strategische Argument, China würde es nicht zulassen, dass im Fall eines Zusammenbruchs Nordkoreas amerikanische Truppen an die eigenen Grenzen heranrücken, ist meines Erachtens nicht stichhaltig.

Eine "Waffenbrüderschaft" wie 1950 wird sich nicht mehr wiederholen, die Erinnerung daran wird in China auch nicht weiter gepflegt. Pekings Interesse richtet sich vielmehr darauf, dass die Entwicklung der Mandschurei nicht gefährdet wird. Diesem Ziel sind die unablässigen Energielieferungen geschuldet, die eine notdürftige Versorgung der Kraftwerke gewährleisten.

Wünschenswert wäre es aus der Sicht Chinas, das atomare Potenzial Koreas stärker unter Kontrolle zu bekommen. Die Atomfrage birgt bei allen künftigen Entwicklungen in Nordkorea das größte Risiko.

2003 initiierte die chinesische Regierung die Sechsergespräche mit Nord- und Südkorea, Japan, Russland und den USA mit dem Ziel einer atomwaffenfreien koeanischen Halbinsel. Die Gespräche führten bis heute zu keinen Fortschritten in der Abrüstungsfrage. Dies zeigt die überragende Bedeutung der Atomwaffe für die Selbstbehauptung der koreanischen Regierung. Diese Bewaffnung, die unter gewaltigen politischen und wirtschaftlichen Opfern durchgesetzt wurde, wird als "Überlebensgarantie" angesehen und verteidigt. Hier sind die Grenzen des chinesischen Einflusses spürbar.


Fazit

Die Trümpfe, mit denen Nordkorea noch wuchern könnte, sind rar geworden. Die beabsichtigte Doppelung des Personenkults soll die Einheit des Landes festigen, den Verlust der Substanz in diesem Land verschmerzbar machen. Ob damit noch einmal Zeit gewonnen werden kann, hängt nicht mehr von der Staatsführung ab. Eine weitere, länger anhaltende Hungerkrise würde die gesellschaftliche Erosion im Land weiter beschleunigen, dies betrifft nicht nur die Bevölkerung, sie wird auch die Geschlossenheit der Führung zerstören. Die Wirtschaftsbeziehungen mit China fördern, auch unter nicht kapitalistischen Bedingungen, die Herausbildung "verlässlicher Handelspartner", sprich koreanischer Betriebsleiter, die mehr und mehr zu Besitzern werden. Der Widerstand gegen solche Aneignungen, sei es durch Militäreinheiten, einflussreiche Familienclans oder einzelne Betriebsführer, der jetzt noch in Form von befohlenen Auswechslungen und Rotationen geleistet wird, wird in neuen Zeiten der Not zerbrechen.

Ist also die Atombombe der letzte Kitt, der dieses Hybridsystem aus sozialistischen Versatzstücken in der gesellschaftlichen Organisation und einer exzessiv überzeichneten Fortführung traditionsgebundener Herrschaftsmuster zusammenhält? Wir wissen längst, dass der Besitz der Bombe einen Systemwechsel nicht verhindert. Die extremen Kosten für diese Waffensysteme, die Folgekosten (man denke an die - bisher gescheiterten - Starts der Trägerraketen) werden das Land auch in Zukunft belasten und die bitter notwendigen Infrastrukturmaßnahmen verhindern.

Und so wird dieses Land, nach Selbsteinschätzung "das unabhängigste Land der Welt", seine wenigen Spielräume verlieren. Denn die Verfügung über die Atombombe ist nur dann eine Waffe, wenn die Fähigkeit und Bereitschaft zum Einsatz glaubwürdig bleiben. Wenn aber jede Krise zwischen Nord und Süd zur finalen Drohung führen kann, bewegt sich die Politik nur mehr in einer Endlosschleife, die zwanghaft den nie verarbeiteten Krieg wiederholt und so das eigene Scheitern bei der nationalen Befreiung verewigt.


Schlusswort

Zugegeben, der gegenwärtigen Führung Nordkoreas würde ich keine Träne nachweinen, auch der Enkel Kim, der "Marschall" mit westlicher Schulbildung, einer hübschen First Lady und einer Vorliebe für Shows und Vergnügungsparks, bietet keinen Anlass zur Hoffnung. Weder mit einer Charmeoffensive noch mit Umbauten innerhalb der Führungsriege wird das System zu retten sein.

Betonen möchte ich aber, dass es nicht um die Zuweisung einer persönlichen Schuld an der verfahrenen, meines Erachtens nicht reformierbaren Situation des Landes geht. Der Sozialismus, seine Veränderungskraft, seine Mobilisierungswirkung waren nach 1945 für viele asiatische Nationen das Mittel zur Befreiung schlechthin.

Substanz für eine sozialistische Umgestaltung besaß keines dieser Länder und die historische Zeit, Frieden und die Perspektive, um ihren Sozialismus zu entwickeln, wurde ihnen unter den Bedingungen der tödlichen Systemkonkurrenz nicht zugestanden. Die Prägungen der Vergangenheit erwiesen sich, gerade im Fall Korea, nicht nur als zäh, sondern als wirkungsmächtig. (Vorgegebene) Ordnung, Tugend, Gehorsam und erzwungene Geschlossenheit ersetzten die notwendigen Auseinandersetzungen um eine sozialistische Entwicklung.

Trotz dieser unvermeidbaren Fehlentwicklungen hat es dieses tapfere, opferbereite Volk bis heute geschafft, auf der Weltkarte bestehen zu bleiben und international beachtet zu werden, dafür gebührt ihm die uneingeschränkte Anerkennung.

Der Preis, den Nordkorea dafür entrichtet, besteht darin, die Entwicklung der Gesellschaft mit großem ideologischen Aufwand einzufrieren und so die Handlungsfähigkeit zu verlieren. Sie wird unter den geltenden Bedingungen nicht mehr zurück zu gewinnen sein. Im Gegenteil, die Atomwaffenfähigkeit, die Stabilisierung erzeugen sollte, wird die Frage der Verfügung darüber als weiteren Herd von Machtkämpfen und Destabilisierung aufwerfen, innerhalb und außerhalb des Landes.

Nordkoreas Zukunft wird nicht mehr in Nordkorea selbst entschieden werden.


Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:

Die vorangegangenen Teile sind im Schattenblick unter
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ARBEITERSTIMME/246: Nordkorea - Die gefrorene Revolution, Teil 1 und
ARBEITERSTIMME/256: Nordkorea - Die gefrorene Revolution, Teil 2 zu finden.

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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 177, Herbst 2012, S. 6-10
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. November 2012