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ARBEITERSTIMME/302: Chile - Ein Jahr Regierung Bachelet


Arbeiterstimme Nr. 187 - Frühjahr 2015
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Chile: Ein Jahr Regierung Bachelet


Vor einem Jahr, am 11. März 2014, wurde Michelle Bachelet im Rahmen einer feierlichen Zeremonie in das Präsidentenamt eingeführt. Das war für sie nichts neues da sie das Land schon einmal regiert hat. Trotzdem verbinden viele Menschen damit große Hoffnungen. Schließlich hat sie diesmal den Schwung der Studentenbewegung von 2011 im Rücken. Dadurch wurde das Zentrum des Regierungslagers nach links verschoben.

Für eine abschließende Bewertung ist es noch zu früh. Indizien lassen aber befürchten, dass es sich um eine Regierung in der Tradition der alten Concertación (siehe Kasten) handeln wird. In zweitrangigen Fragen, auch wenn das für die Betroffenen alles andere als zweitrangig ist, macht sie eine erfrischende Politik. Bei den wirklich wichtigen Punkten wird aber das Bestehende nicht radikal in Frage gestellt, auch da nicht wo die Nueva Mayoría (Neue Mehrheit) die Kraft dazu hat.


Von der Concertación zur Nueva Mayoría

Die Concertación (Concertación de Partidos por la Democracia - Konzertierte Aktion von Parteien für die Demokratie) war ein Bündnis von Mitte-Links-Parteien das aus der Concertación de Partidos por el No hervorgegangen ist. Es setzte sich im Rahmen des von der Diktatur organisierten Übergangs zur Demokratie im Plebiszit von 1988 gegen weitere 8 Jahre Militärregierung ein. Nach ihrem Erfolg bildeten sie für die folgenden Wahlen eine Allianz die unter dem leicht veränderten, aber schon eingeführten Namen, antrat. Die Kommunisten waren in diesem Kreis nicht Erwünscht. Eine Folge ihrer politischen Linie während des Kampfes gegen die Diktatur. Gleichzeitig pflegten die Christdemokraten weithin ihr Dogma der Ablehnung von Kandidaturen in Zusammenarbeit mit Kommunisten.

Die Concertación hat Chile 20 Jahre lang regiert bis sie 2009 bei der Präsidentenwahl scheiterte. Im Vorfeld dieser Abstimmung kam es erstmals zu Wahlabsprachen zwischen ihr und den Kommunisten. Diese waren als außerparlamentarisch tätige Organisation, entgegen aller Erwartungen, nicht von der Bildfläche verschwunden. Durch eine kluge Politik hatten sie in dieser Zeit ihren Einfluss, wenn auch auf niedrigem Niveau, erweitern können. Die Stimmen dieses Sektors wollte die Concertación ihrem Lager zuführen weshalb sie einige prominente Kommunisten aufstellte. Damit konnte die KP, erstmals seit dem Militärputsch von 1973, wieder Vertreter in das Abgeordnetenhaus entsenden.

In Vorbereitung des letzten Urnengangs sind Kommunisten und einige weitere kleinere Parteien wie IC (Izquierda Ciudadana - Bürgerliche Linke) oder MAS (Movimiento Amplio Sozial - Breite Soziale Bewegung) in das Wahlbündnis aufgenommen worden. Damit diese Veränderung auch öffentlich wahrgenommen wird gab man sich einen neuen Namen. Jetzt firmiert man unter dem Firmenschild Nueva Mayoría (Neue Mehrheit).


Es gibt Stimmen die das auf eine 5. Kolonne der Rechten innerhalb des Bündnisses zurück führen. Sie sagen nicht wer gemeint ist. Es liegt aber nahe dabei an die Christdemokraten zu Denken. Das sind aber nicht die einzigen Verdächtigen, auch in anderen Parteien der Nueva Mayoría gibt es genügend Neoliberale.

Mit ihren ersten Schritten drückte die neue Regierung ihren Wunsch nach einem sozialeren Chile aus. Sie brachte sofort ein Gesetz auf den Weg, dass den ärmsten der Armen zwei Unterstützungen verschafft. Zu Beginn des Schuljahres erhalten sie jetzt eine Beihilfe von ca. 80 US-Dollar um die Kosten für Unterrichtsmaterial begleichen zu können. Und im Winter greift man ihnen mit einer ähnlichen Summe bei den Heizkosten unter die Arme. Innerhalb von nur 24 Stunden hat das Parlament zugestimmt. Damit wurde gleich zu Beginn des neuen Schuljahres ein deutliches Zeichen gesetzt.

Solche Beihilfen sind aber kein Alleinstellungsmerkmal von Mitte-Links-Regierungen. Schon ihr rechter Vorgänger konnte durch öffentlichen Druck zur Unterstützung dieses Personenkreises bewegt werden. Deshalb wird das geschichtliche Urteil über Bachelets zweite Amtszeit nicht von der Zahl solcher Programme bestimmt. Entscheidend wird sein wie weit sie die chilenische Gesellschaft aus der Spur des von der Diktatur hinterlassenen politischen und ökonomischen Systems bringen kann.

Das Mittel der Wahl für einen grundsätzlichen Umbau der Gesellschaft ist natürlich eine neue Verfassung. Doch dafür gibt es gegenwärtig keine parlamentarische und wohl auch keine gesellschaftliche Mehrheit. Bachelet kann daher nur innerhalb des von Pinochet hinterlassenen Regelwerkes verändernd Tätig werden. Doch das, was sie macht, sollte die Bedingungen verbessern einmal das lang ersehnte Ziel zu Erreichen.

Steuerreform

Das erste Projekt dieser Kategorie ist inzwischen abgeschlossen. Eine Steuerreform soll dem Staat die Mittel verschaffen um weitere Vorhaben, etwa die Bildungsreform, auch finanzieren zu können. Die Nueva Mayoría hat die parlamentarische Kraft um die notwendigen Gesetze im Alleingang zu Beschließen. Trotzdem wurden Verhandlungen mit der Rechten aufgenommen, die dem Projekt im großen und ganzen zugestimmt hat.

Entsprechend sehen die Ergebnisse aus. Bis 2017 werden die Unternehmenssteuern schrittweise von 20 % auf 25 % erhöht. Das ist nicht viel. In Deutschland liegt dieser Satz bei 29,4 % und in den USA bei 40 %. Im darauf folgenden Jahr entfällt die Möglichkeit, die Zahlung der Gewinnsteuern in die Ewigkeit zu verschieben.

Im Gegenzug wird Personen mit Einkommen über 10.500 US-Dollar monatlich der Steuersatz von 40 % auf 35 Prozent gesenkt. Diese Absenkung wird von Maßnahmen gegen Steuerflucht und Steuervermeidung begleitet. Sie sollen die entgangene Summe mehr als Ausgleichen. Nach der Umsetzung aller Elemente dieser Reform erwartet die Regierung jährliche Mehreinnahmen von 8,2 Milliarden US-Dollar. Ob das so ist wird die Zukunft zeigen.

Diese vorsichtige Reform ist von Linken in neoliberal Regierten Ländern Lateinamerikas mit Interesse zur Kenntnis genommen worden. Sie sehen in dem neuen Gesetz einen Zeitenwechsel. Da spielt die Höhe des Steuersatzes keine so große Rolle. Wichtig ist für sie die Richtung in der er sich bewegt. Erstmals seit Jahrzehnten geht er in diesem neoliberalen Modell wieder nach oben. Das verbessert für sie die Möglichkeiten sich gegen die Zumutungen ihrer Regierungen zu Verteidigen. Deshalb hat es auch den Massenmedien dieser Länder, sie propagierten immer das Beispiel Chile, die Sprache Verschlagen. In ihrer Berichterstattung wird über Bachelets Innenpolitik so gut wie kein Wort verloren. Dagegen jubeln die linken Kommentatoren: "Unser altes Modell hat sich nach links bewegt." Dabei verbinden sie mit dem Wort "unser" kein linkes Modell sondern das Neoliberale. Es wird den Gesellschaften von der Bourgeoisie vorgegeben.

Bildungspolitik

Im Mittelpunkt des chilenischen Interesses steht aber die Bildungspolitik. Die Studentenbewegung hat dieses Thema zu den zentralen Aufgabenfeldern jeder Regierung gemacht. Von Bachelet wird erwartet das sie die damaligen Forderungen umsetzt. Alle Kinder und Jugendlichen müssen Zugang zu kostenloser Bildung guter Qualität erhalten. Das Gesetz mit dem das erreicht werden soll passierte im Oktober das Abgeordnetenhaus. Nun wird auf die Zustimmung des Senats gewartet. Es bleibt abzuwarten ob genügend Senatoren von dem Gesetz überzeugt werden können, bzw. in wie weit es verwässert wird.

Schon im Parlament hat es Federn lassen müssen. Wie die Abgeordnete Camila Vallejo beklagt, wurde dort der Passus gestrichen, in dem die Gewinnerzielungsabsicht im Bildungsbereich zur Straftat erklärt werden sollte.

In diesem Zusammenhang ist interessant, dass die Kommunistin Vallejo nun den Vorsitz des für diese Themen zuständigen Parlamentsausschusses übernimmt. Damit steht eine ehemalige Vertreterin der Studentenbewegung, wie eine chilenische Zeitung schreibt, "an der Spitze eines der Schlüsselbereiche der Reformen der Regierung Bachelet".

Will etwa die Mehrheit der Nueva Mayoría schon jetzt den Kommunisten den Schwarzen Peter für ein mögliches Scheitern zuschieben? Das ist gut möglich. Schließlich wird eine zweite wichtige Kommission von einem ihrer Parteifreunde geleitet. Lautaro Carmona steht dem Ausschuss für Arbeitsrecht vor, dort wird im kommenden Jahr die Reform des Arbeitsgesetzbuches verhandelt.

Mit diesen Funktionen befindet sich eine große Verantwortung in den Händen von Kommunisten. Das ist riskant, aber wenn sie ihre Sache gut machen kann das ihre gesellschaftliche Verankerung stärken.

Arbeitsrecht

Am 29. Dezember gab Michelle Bachelet den Startschuss für die Reform des Arbeitsgesetzbuches. Mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen sollen die Rechte der Beschäftigten gestärkt werden. Doch entscheidende Punkte fehlen. Die Möglichkeit von Branchentarifverträgen wird nicht eingeräumt. Da ist es nur konsequent das das Prinzip der Betriebsgewerkschaft erhalten bleibt.

Daher kommt aus den Reihen der Gewerkschaften Kritik. So erklärte Andrés Aguilera, Vorstandsmitglied des Dachverbandes CUT, dass es sich "um ein Reformprojekt handelt das wenige Aspekte der Verbesserung enthält, ... weil es den Unternehmern viele Garantien gibt".

Es bleibt abzuwarten was nach den parlamentarischen Beratungen am Ende beschlossen wird. Schließlich könnten die Mandatsträger die Vorschläge der Präsidentin auch verbessern. Doch dafür müssten sich die arbeitenden Menschen aber massiv Gehör verschaffen.

Binominalismus (*)

Das Wahlrecht ist eine der Mauern mit der die Rechte das während der Diktatur geschaffene System schützt. Eigentlich müsste es durch ein Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht abgelöst werden, doch dafür fehlt der aktuellen Regierung die Kraft. Deshalb hat sie in Zusammenarbeit mit einer kleinen rechten Strömung eine Entschärfung des Binominalismus auf den Weg gebracht. Man will die Zahl der Abgeordneten und Senatoren erhöhen um in großen Stimmkreisen mehr als zwei Mandate vergeben zu können. Das gibt weiteren Kräften die Chance auf parlamentarische Vertretung. Wegen dieser Reform hat sich aber schon die Leitung der rechten Fraktion an das Verfassungsgericht gewandt. Sie möchte erreichen, dass das Gesetz als unvereinbar mit der Verfassung erklärt wird. Sollte das Gericht dies auch so sehen wäre das Projekt wohl vorerst gestorben.

(*) Binominales Wahlsystem

Nach dem binominalen Wahlsystem werden in jedem Wahlkreis zwei Kandidaten auf Basis der Stimmen für die Wahlkreislisten der Parteien und Wahlverbindungen innerhalb dieses Wahlkreises verteilt.

Erhält die siegreiche Liste mehr als doppelt so viele Stimmen wie die zweitstärkste Liste, so sind ihre Kandidaten gewählt und erhalten die beiden Sitze. Ansonsten sind in dem Wahlkreis je ein Kandidat der Liste mit den meisten Stimmen und der Liste mit den zweitmeisten Stimmen zu Abgeordneten gewählt. Die anderen Parteien und Wahlverbindungen gehen leer aus - die für sie abgegebenen Stimmen haben keinen Einfluss auf die Sitzverteilung im Parlament. In dieser Hinsicht ähnelt das binominale System dem Mehrheitswahlrecht, bei welchem allerdings nur ein Kandidat pro Wahlkreis gewählt wird.

Innerhalb der Listen sind die Kandidaten frei wählbar. Die Stimmen für die einzelnen Kandidaten der Liste werden zum Gesamtergebnis der Liste addiert. Gewinnt die Liste einen Sitz, ist der Listenkandidat mit den meisten Stimmen gewählt, gewinnt sie beide Sitze, sind die beiden Listenkandidaten mit den meisten Stimmen gewählt. In letzterem Fall kann es dazu kommen, dass ein Kandidat einer unterlegenen Liste nicht gewählt wird, obwohl er mehr Stimmen erhalten hat als der zweite Kandidat der siegreichen Liste.

Das binominale Verfahren begünstigt ein Zweiparteiensystem gemäßigter Gruppierungen nach Vorbild der USA, verhindert aber die parlamentarische Repräsentation kleiner Parteien, sofern sie kein Bündnis mit größeren Parteien eingehen.

Quelle: Wikipedia http://wikidedia.org/wiki/Binominales_Wahlsystem Zugriff am 4.3.2015


Eine Strategie der Spannung?

Seit Vielen Jahren kommt es in Chile immer wieder zu Bombenanschlägen. In den letzten zehn Jahren sollen es ca. 200 gewesen sein. Zu nächtlicher Stunde explodieren kleine einfache Sprengsätze vor Banken oder an Geldautomaten. Diese Attentate rechnet man einem anarchistischen Milieu zu, aber genaueres weiß man nicht. Im Juni begann in Santiago eine kleine Anschlagsserie die sich davon abhob. Nun wurden U-Bahnhöfe ins Visier genommen. Diese Bomben forderten mehr als ein Dutzend Verletzte, darunter drei Schwerverletzte. Mitte September wurden drei junge Erwachsene Verhaftet. Damit endeten die Attacken auf die Untergrundbahn. Es bleibt abzuwarten ob es sich bei den Festgenommenen wirklich um die um die Täter handelt. Schließlich hat die Justiz den ersten Verdächtigen aus der Untersuchungshaft entlassen und ihm einen teilweisen Hausarrest auferlegt.

Cristóbal Bellolio von der Universität Adolfo Ibáñez gab zu den Anschlägen folgendes zu Protokoll: "Bis vor zwei Wochen haben wir alle über die Bildungsreform gesprochen. Heute sind die Themen die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums und die öffentliche Sicherheit, ein Diskurs der die Rechte bevorzugt." In Anwendung des kriminalistischen Prinzips Cui Bono (Wem nützt es?) stellt sich folgende Frage: Gehören die Attentate auf die U-Bahn etwa zu einer kleinen Strategie der Spannung? Soll damit der Regierung Bachelet signalisiert werden, es mit den Reformen nicht zu weit zu treiben? Die Antwort kennen wir nicht.

Die reale Politik Bachelets spricht eigentlich dagegen. Doch sieht das auch die Bourgeoisie so? Aus der Geschichte wissen wir, dass diese Kreise im 20. Jahrhundert nicht gewillt waren Radikale oder Christdemokratische Regierungen und deren Reformen zu akzeptieren. Das könnte Heute ähnlich sein. Daher bleibt nichts anderes übrig als der Regierung Bachelet viel Erfolg zu Wünschen, auch wenn ihre Ergebnisse Linken nicht weit genug gehen.

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 187 - Frühjahr 2015, Seite 35 bis 37
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
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Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2015

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