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ARBEITERSTIMME/357: Die Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich im Juni 2017


Arbeiterstimme Nr. 197 - Herbst 2017
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Die Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich am 8. Juni 2017


Aus opportunistischen Gründen setzte Premierministerin Theresa May von der konservativen Partei vorzeitig eine allgemeine Parlamentswahl an, obwohl sie vorher versprochen hatte, dies nicht zu tun. Sie glaubte, das Ergebnis würde ein Sieg über Labour unter Jeremy Corbyn sein, der bei den meisten seiner Abgeordneten unbeliebt war. May wollte ihre Position gegenüber den Führern der EU bei den Verhandlungen über den Brexit stärken, welche die Briten dafür bestrafen wollen, weil sie ihr Projekt verliessen. May stellte sich selbst als Thatcher-ähnliche Figur dar, ihren Wahlkampf führte sie in einem präsidialen Stil, ihre Partei kam dabei nur am Rande vor. Der Kommentar eines Kollegen, sie sei eine "bloody difficult woman"(*), machte sie sehr stolz. May würde bei den Brexit-Verhandlungen eine zähe Partnerin sein.

Ihr Wahlkampf, der von den meisten Medien unterstützt wurde, Obwohl sie es vermied, in der Öffentlichkeit aufzutreten oder mit anderen Parteiführern zu debattieren, begann gut, bis das Wahlprogramm der Tories bekannt wurde. Dieses hatte eine heftige Attacke auf ältere Menschen zum Inhalt. Diejenigen, die wegen schlechter Gesundheit Pflegeleistungen erhielten, sollten diese Kosten nun von den Erträgen ihres eigenen Hauses bezahlen, mit der Folge, dass ihre Kinder nicht mehr in der Lage sein würden, das Erbe anzutreten. Die Unterstützung durch die Regierung für die Heizkosten im Winter sollte abgeschafft werden. Kinder aus ärmeren Familien würden kein kostenloses Mittagessen in der Schule mehr erhalten. Es sollte durch ein kostenloses Frühstück ersetzt werden, das mit 0,1 EUR pro Kind bezuschusst werde. Daraufhin brach eine große Revolte bei ihren Kollegen aus und die Maßnahmen wurden fallengelassen. Dies führte zu einem Verfall von Mays Ansehen.

Im Hauptquartier der Labour-Party steckte jemand das Wahlprogramm an die Medien durch, bevor es offiziell veröffentlicht wurde. Der stellvertretende Parteivorsitzende Tom Watson ist möglicherweise der Schuldige. Die Absicht war, Corbyn und den Wahlkampf von Labour zu unterminieren. Das Ganze hatte aber einen gegenteiligen Effekt, die Vorschläge waren sehr populär. Der Hauptpunkte waren: die Verstaatlichung des Eisenbahnnetzes und der Versorgung mit Elektrizität, Gas, Wasser und anderen Betriebsstoffen; progressive Besteuerung der Reichen; Investitionen in den Nationalen Gesundheitsdienst und das Erziehungswesen sowie Rücknahme der Studiengebühren; ein besserer Arbeitsschutz, mehr Rechte für die Gewerkschaften, der Mindestlohn, die Abschaffung von Arbeitsverträgen mit Mindestbeschäftigungszeit von null Stunden ["zero-hour contracts"] usw.

Die rechten Gegner von Corbyn erwarteten eine Niederlage und sie arbeiteten dafür, um dann JC zu ersetzen. Einige Kandidaten erzählten der Öffentlichkeit, er würde eh nicht gewinnen und sie setzten sich in ihren Veröffentlichungen von ihm. Leute wie Yvette Cooper und Hilary Benn dachten darüber nach, nach der großen Niederlage, auf die sie hofften, erneut gegen Corbyn anzutreten. (Cooper hatte gegen JC bei der ersten Abstimmung über die Parteiführung verloren.) Die Blair-Anhänger unter den Parlamentariern akzeptieren die neoliberalen Vorstellungen und sie hassen Verstaatlichung, Besteuerung der Reichen usw. Für sie verkörpert Corbyn die Vergangenheit. Kandidaten von Labour, die fast einen Sitz errangen und manche, die einen gewannen, behaupten, sie hätten keinerlei Hilfe vom Apparat der Labour-Party erhalten, der sich in den Händen der Rechten befindet. Sie hatten keinen Kontakt damit.

Die Mainstream-Medien, und die Regenbogenpresse im Besonderen, dämonisierten Corbyn. Letztere denunzierten ihn als Unterstützer des Terrorismus. Er sei gemeinsam mit irischen Republikanern und mit Repräsentanten von Hamas auf der Bühne gestanden, als er die Palästinenser unterstützte. (Während des Wahlkampfes fanden bei uns islamistische terroristische Angriffe in Manchester und London statt.) Aber Corbyn vermittelte seine Botschaft über die Social Media, in Musikzeitschriften, die die jungen Leute kaufen, auch mit einem Song in der Hitparade und dadurch, dass er bei öffentlichen Auftritten im ganzen Königreich vor vielen Tausenden sprach. Je öfter die Menschen Corbyn hörten und sahen, umso mehr mochten sie ihn. (Blair et al. behaupteten, dass öffentliche Auftritte "out" sind, die Methoden der Werbeindustrie sind "in".) Über zwei Millionen Menschen ließen sich selbst im Wählerregister eintragen, 1,05 Millionen von ihnen waren zwischen 18 und 24; diese stimmten mit einer überwältigenden Mehrheit für Labour.

Labour erhielt knapp über 40% der Stimmen, die Tories etwas über 42%. Das ergab 262 bzw. 318 Mandate. Labour bekam 3,45 Millionen Stimmen mehr als 2015. May verlor ihre absolute Mehrheit. Sie wurde nur durch die schottische Parteigliederung gerettet, die 13 Sitze gewann (vorher hatte sie einen), wegen ihrer strikten Gegnerschaft gegen die Unabhängigkeit und dem Wunsch der SNP, wieder der EU beizutreten. Labour erlebte in Schottland ein Comeback. Sie erhielten 7 Sitze, in anderen Wahlkreisen waren sie nahe daran. Aber es ist notwendig, die Politik von Blair auf den Müll zu werfen und sich zu eigen zu machen, was Corbyn repräsentiert, eine klare Alternative zu Tories und der SNP. In Wales erzielte Labour das beste Ergebnis der letzten 25 Jahre. Der Erste Minister der Walisischen Versammlung, dem Regionalparlament für Wales, der von Labour gestellt wird, schien zu Beginn des Wahlkampfs sich mit Corbyn unwohl zu fühlen. Am Ende pries er Corbyn "dafür, verantwortlich zu sein, die Jugend gewonnen zu haben". Plaid Cymru gewann einen zusätzlichen Sitz, so dass sie jetzt vier Abgeordnete nach Westminster schicken können. Dafür haben die Liberaldemokraten überhaupt keinen mehr, das erste Mal, seit die Liberale Partei 1859 gegründet wurde. Die anti-EU-Partei UKIP erlitt einen Kollaps, ihre früheren Anhänger kehrten zu den Tories und zu Labour zurück.

Nach der Wahl entschuldigten sich politische Experten, Radio- und Fernsehsprecher und -kommentatoren ebenso wie auch Parlamentarier in den Medien bei Corbyn dafür, dass sie "falsch gelegen hätten" und "ihn unterschätzt hätten". Owen Smith, der 2016 Corbyn bei der Wahl zum Parteivorsitzenden von Labour herausgefordert hatte, sagte: "Jeremy hat es geschafft, in einer Weise Politik zu vermitteln und Menschen vom Wert dieser Politik zu überzeugen, wie wir es früher nicht geschafft haben - und ich ziehe vor ihm meinen Hut." May unterschätzte die Antipathie in der Öffentlichkeit gegen die Sparpolitik. Und während die politischen Experten sich wegen seiner Kleidung über Corbyn lustig machten und darüber, dass er hinausging, um wirklich mit den Leuten zu sprechen, geben sie jetzt zu, dass er dadurch, dass er die Antithese zu einem Karrierepolitiker ist und er zu den Massen spricht, er sie von seiner Aufrichtigkeit überzeugt hat. Es hätte mehr erreicht werden können, wenn nicht die Mehrheit der Labour-Abgeordneten seit seiner ersten Wahl zum Parteivorsitzenden daran gearbeitet hätte, JC zu torpedieren. Einige von ihnen werden sich jetzt hinter Corbyn stellen, aber andere werden fortfahren, ihren eigenen Plänen zu folgen. Seit den Wahlen sind 150.000 neue Mitglieder in die Labour-Party eingetreten, so dass sie jetzt über 800.000 Mitglieder hat. Ein politischer Kommentator des Magazins The Spectator glaubt, dass "eine deutliche Veränderung bei der politischen Einstellung der Jungen in den letzten Monaten stattgefunden hat. Es ist noch nicht so lange her, dass der Kapitalismus die Jugend im Westen für alle Zeiten für sich eingenommen zu haben schien. Sie warfen keine Steine mehr gegen die bürgerliche Gesellschaft wie in den 60er Jahren, noch vergötterten sie linke Helden wie Che Guevara. In der ganzen entwickelten Welt wächst unter den jungen Menschen die Abneigung gegen den Kapitalismus - diese ist nun weit verbreitet, nicht nur beschränkt auf den lärmenden Protest, den Aktivisten der Anti-Globalisierungsbewegung jedes Jahr am 1. Mai äußerten."

Inzwischen versucht May, mit der Democratic Unionist Party in Nordirland einen Deal zu machen, um zu überleben. Sinn Fein gewann drei zusätzliche Sitze und dominiert damit den republikanischen Teil der Gemeinschaft, die DUP gewann zwei Sitze dazu und dominiert die pro-britische Gemeinschaft. Bis zum Frühjahr dieses Jahres stellten sie gemeinsam im Rahmen des Friedensprozesses die Regierung, aber SF zog sich zurück, weil die DUP-Führerin Arleen Foster sich weigerte, zurückzutreten. Der Hintergrund war, dass ein Finanzskandal entdeckt worden war, bei dem Millionen von britischen Pfund verschleudert worden waren. Die DUP ist eine reaktionäre Partei, die mit extremen Protestanten verbunden ist, sie ist gegen moderne liberale Werte in sexuellen Dingen, gegen Abtreibung usw. Aber da sie ihre Wurzeln in der Arbeiterklasse hat, ist sie gegen die Sparpolitik, andererseits verteidigt sie die Einheit des Vereinigten Königreichs und ist für den Brexit. Sie will aber, dass die Grenzen zur Irischen Republik offen bleiben. Sinn Fein wird natürlich ihre [7] Sitze im Britischen Parlament nicht einnehmen und kann somit auch Corbyn nicht helfen. Der frühere Vorsitzende der Tories, John Major, der die Verhandlungen für den Friedensprozeß begann, warnte vor einem Deal mit der DUP, welcher die Regierung in London mit einer Seite zusammenbringen würde, anstatt neutral den beiden Gemeinschaften gegenüber zu sein. Wie auch immer, jeder Deal, den May macht, kann keine länger andauernde Stabilität bringen. Das macht eine Neuwahl in nicht allzu ferner Zukunft wahrscheinlich. Corbyn, der für die meisten seiner Labour-Kollegen zum Helden geworden ist, ist bereit, eine Regierung zu bilden, sollte May scheitern.

m.j. (14.617)

*) Anm.: "bloody difficult woman" kann "verdammt böses Weib" heißen oder "verdammt trotziges Weib"

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 197 - Herbst 2017, Seite 27 bis 28
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
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Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. November 2017

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