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ARBEITERSTIMME/362: Neues aus Großbritannien


Arbeiterstimme Nr. 198 - Winter 2017/2018
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Neues aus Großbritannien


Wegen des Aufstiegs Corbyns und der Parlamentswahlen, bei denen die Tories ihre Mehrheit verloren, ist die Situation in Großbritannien jetzt sehr interessant. Diese Woche schlitterte die Regierung von einer Krise in die andere. Das kann sicherlich nicht mehr lange so gehen. Theresa May ist sehr geschwächt, aber die Tories können sich, in dieser für sie gefährlichen Situation, keinen Wettbewerb um eine neue Führung erlauben.

Zunächst einmal ist es notwendig, darauf hinzuweisen, dass das, was viele politische Kommentatoren aus anderen Ländern als Beispiele für "Populismus" beschreiben, indem sie Trump und Brexit vergleichen, falsch ist. Es gab keine populistische Bewegung für einen Brexit. Wir haben lange Jahre UKIP gehabt. Bis zu den vergangenen wenigen Jahren der Austeritätspolitik zog sie den rechten Flügel der Tory Party an und ein paar Rassisten/Faschisten. Seit Thatchers Zeiten waren die Konservativen innerlich gespalten über ihre Haltung zur EU. Die Autorität von John Major, der Thatcher folgte, wurde andauernd unterlaufen von der Anti-EU-Rechten in seiner Regierung; er nannte sie die "Bastarde". Cameron beschloss, ein Referendum abzuhalten, um die ständige Unruhe zu beenden; er dachte, er würde es gewinnen, aber er war nicht auf Tuchfühlung mit der Stimmung der Öffentlichkeit.

UKIP wurde von unzufriedenen Wählern der Labour Party während der zurückliegenden Periode von 'New Labour unterstützt, weil diese die Menschen aus der Arbeiterklasse ignorierte und Thatchers neoliberale Politik fortsetzte. Als 2015 Ed Miliband Vorsitzender von Labour wurde, bewegte er sich ganz leicht nach links, weg von der Politik von Blair, aber nicht weit genug. Er hatte keinen Kontakt zur Arbeiterklasse. UKIP fand Unterstützung wegen Labours Unfähigkeit, auf ihre Wähler zu hören, auch bezüglich der Einwanderung, was bedeutete, dass andere EU-Bürger aus Osteuropa ihre Jobs bekamen, oft Sozialwohnungen, Plätze in den Schulen und medizinische Behandlung von Ärzten und in Krankenhäusern, worüber die Leute sich ärgerten, weil sie dadurch in den Wartelisten zurückfielen. Leute, die viele Jahre ihre Steuern bezahlt hatten, kamen schlecht weg gegenüber denjenigen, die keinerlei Beitrag geleistet hatten. UKIP fand auch Unterstützung wegen der wachsenden Unpopularität von Muslimen. Es gab den Terrorismus, aber auch viele Skandale landauf, landab durch (fast immer) pakistanische Männer, die junge Mädchen zur Prostitution zwangen.

Es gab keine populistische Bewegung, aus der EU auszutreten, aber als Cameron sein Referendum ansetzte, stimmte die Mehrheit dafür, weil sie unpopulär geworden war wegen ihrer ständigen Einmischungen in innere Angelegenheiten des Vereinigten Königreichs, dadurch das Parlament abwertete und durch nicht gewählte Bürokraten herrschte; das EU-Parlament ist ein Scherz ohne wirkliche Macht.

Bei den Wahlen zum Unterhaus wurde klar, dass die Sparpolitik den Tories die Unterstützung entzog; die Menschen hatten davon genug. Das linke Wahlprogramm von Corbyns Labour Party war attraktiv, speziell junge Leute mögen Corbyn und seine Politik. Da er als verantwortlich für das gute Ergebnis angesehen wird, hat die Linke ihre Stellung in der Labour Party gestärkt - die Wahlforscher, die Medien und die Blair-Anhänger hatten alle vorausgesagt, dass Labour ein Debakel erleben würde - allerdings haben die rechten Gruppierungen in der Partei die Übermacht bei den Unterhausabgeordneten und im Parteiapparat. Dennoch änderte der Parteitag die Zusammensetzung des Nationalen Exekutiv Komitees, drei Sitze mehr für die Repräsentation der Mitglieder, und einer mehr für die Gewerkschaften, von denen die meisten Corbyn unterstützen.

Es ist offensichtlich, dass der Kapitalismus selbst diskreditiert ist, vor allem unter den jungen Leuten. Theresa May begann, zu seinen Gunsten Reden zu halten, sie betonte, dass der Kapitalismus zu größerem Reichtum als jemals zuvor in den modernen Zeiten geführt hat und dass der freie Markt der Schlüssel zu ökonomischem Erfolg ist. Die Tories hielten Anfang Oktober ihren Parteitag wieder in Manchester ab, einer Stadt, wo sie so gut wie nicht existent sind. Sie versuchten damit Unterstützung zu gewinnen und wollten ihren Anspruch wieder aufgreifen, die Kluft zwischen dem ärmeren Norden Englands, der den Großteil des Reichtums geschaffen hat, als Großbritannien die führende kapitalistische Macht war, und dem reicheren Süden, wohin sich der Reichtum in den letzten Jahrzehnten verschoben hat, zu schließen. Am ersten Tag fand eine Demonstration gegen den Brexit statt, die die Medien als "Mittelklasse" beschrieben, aber jeden Tag konnte man Demonstrationen von Arbeitern sehen, die gegen die Politik der Tories gerichtet waren.

Die Parteitagsrede von May war ein Desaster; sie musste die Rede wegen ihres Hustens unterbrechen, ein Buchstabe von der Parole hinter ihr fiel herunter und ein Demonstrant übergab May ihr P 45, das ist das Formular, das man erhält, wenn man den Job beendet, um es seinem neuen Arbeitgeber auszuhändigen. Ihr Chefideologe erklärte, warum die Tories bei den unter 45-jährigen so unpopulär sind. Er gab zu: "Sie haben nicht unrecht. Sie sind nicht verrückt. Sie sehen und erfahren den Markt heute und er arbeitet nicht für sie." Er fuhr im selben Sinne fort: "Wir kämpfen nicht nur für den Konservatismus. Wir kämpfen wirklich für den Kapitalismus", betonte er.

Ein anderes Kernproblem für die Tories, das sie feststellten, ist, dass ihre Mitgliedschaft überwiegend ältere Leute sind, es fehlt an jungen und dadurch auch an Aktivisten für Wahlkämpfe. Labour dagegen hat "Momentum", die große Organisation von jüngeren Leuten, die von Corbyns Erfolg bei der Übernahme des Parteivorsitz inspiriert sind und ihn unterstützen. Sie waren ein wesentlicher Teil des Wahlkampfs von Labour. Als Tory-Gegenstück zu Momentum wurde "Activate" ins Leben gerufen, aber es wurde von äußerst rechten Jugendliche übernommen, die von "vergasen" sprachen und von nazi-artigen medizinischen Experimenten an jungen Arbeitern; es löste sich bald auf.

Corbyn hat sehr wenig Freunde in den Medien. Traditionell finden am Rande des Parteitags Solidaritäts- und andere Kampagnen statt. Bei einer Veranstaltung über "freie Rede über Israel", die in diesem Rahmen stattfand, wo Miko Peled, ein Israeli/US-Amerikaner, der Sohn des Generals Matti Peled, ein bekannter Friedensaktivist, sprach und sagte, es sollte in Bezug auf Israel erlaubt sein, alles in Frage zu stellen. Daraufhin bezichtigten Boulevardzeitungen Labour, eine antisemitische Partei zu sein.

Die israelische Regierung und die komplette pro-zionistische Lobby im Vereinigten Königreich arbeiteten daran, Kritik an Israel zu verhindern, einschließlich der Tatsache, dass eine solche Kritik als "Antisemitismus" bezeichnet wird. Um eine offene Diskussion über Israel zu verteidigen und um Unterstützung für Labour bei der jüdischen Gemeinschaft zurückzugewinnen, haben linke Juden eine neue Organisation "Jewish Voice For Labour" [Jüdische Stimme für Labour] gegründet und sie hoben diese auf dem Parteitag aus der Taufe.

Im Gefolge der Enthüllungen von Schauspielerinnen, die in Hollywood sexuell belästigt wurden, breitete sich die Erscheinung bis ins Parlament hierzulande aus. Dutzende von Parlamentariern wurden beschuldigt, hauptsächlich Tories. Ihnen wurden von weiblichen Abgeordneten und Angestellten Vorwürfe gemacht wegen der Kultur der Saufgelage, die dort üblich sind. Es gibt dort sechs subventionierte Bars. Mays Verteidigungsminister musste zurücktreten, andere Fälle werden untersucht.

Als ob das nicht schon genug wäre, stellte sich heraus, dass Priti Patel, die Entwicklungshilfeministerin, während ihres Sommerurlaubs in Israel, begleitet vom Präsidenten der "Konservativen Freunde von Israel", an 12 Treffen teilgenommen hatte, eines davon mit Benjamin Netanjahu, die May oder dem Außenministerium nicht bekannt waren. Ein Treffen fand auf den besetzten Golanhöhen statt, einem Teil von Syrien, wo Patel die Verwendung von britischen Geldern aus dem Entwicklungshilfeministerium durch die israelische Armee bei deren Arbeit für syrische Flüchtlinge befürwortete. Es ist bekannt, dass Israel die syrischen Streitkräfte, die Hisbollah etc. angreift, um den Jihadisten zu helfen. Es versorgt verletzte Jihadisten medizinisch und ist ein enger Verbündeter von Saudi-Arabien bei dessen Versuch, das Assad-Regime zu beseitigen. Es schaut also so aus, als ob Patel das Geld von Steuerzahlern aushändigen wollte, um Israel bei seinen regionalen Ambitionen zu helfen, und dass sie ihre eigene Außenpolitik verfolgte. Deshalb musste sie zurücktreten, wie damals Liam Fox, als er aus Camerons Regierung zurücktreten musste. Beide sind Teil der äußersten Rechten der Konservativen Partei. May ist so schwach, sie muss ihr Kabinett im Gleichgewicht zwischen den Flügeln der Partei halten. Labour hat natürlich eine Untersuchung über die Aktivitäten von Patel in Israel gefordert.

Stephen Pollard, der Herausgeber des "Jewish Chronicle", beharrt darauf, dass Theresa May von Priti Patels Treffen in Israel und von den Plänen, der israelischen Armee Geld zu geben, wusste und diese billigte. Pollard hat herausgefunden, dass sich Patel mit Yuval Rotem, einem Mitarbeiter des israelischen Außenministeriums, in New York getroffen hat. Pollard schrieb, May ist in eine Vertuschungs-Affäre verwickelt.

Der Rücktritt von Saad Hariri, dem libanesischen Premierminister, war mit den Israelis koordiniert. Dies wurde durch undichte Stellen bei israelischen Offiziellen, die nicht mit der Politik von Natanjahu einverstanden sind, aufgezeigt. Saudi-Arabien und Israel arbeiten in Syrien zusammen. Beide wollen die Hisbollah und den iranischen Einfluss im Libanon und in der Region zerstören. Einige Kommentatoren glauben, dass Israel einen neuen Krieg im Libanon plant.

Am 4. November fand in London anlässlich des 100. Jahrestages der Balfour-Deklaration (2.11.1917) eine große Demonstration mit zehntausenden Teilnehmern statt.

Arthur Balfour (1848 - 1930), damals britischer Außenminister, hat diese Erklärung nicht selbst entworfen oder geschrieben. Er hat sie nur unterzeichnet, nachdem er von der Idee überzeugt werden war. Sie wurde von Lord Milner und Leo Amery verfasst. Milner stand einer halb-geheimen "Round Table"-Organisation vor. Er war von 1916 bis 1919 Kriegsminister und von 1919 bis 1921 Minister für die Kolonien.

Leo Amery schrieb 1928 in seinen Tagebüchern ("Diaries", Vol. 1; 1896 bis 1929): "Unser Endziel ist es, Palästina zum Zentrum des westlichen Einflusses zu machen, indem wir die Juden benutzen, wie wir die Schotten benutzt haben, um die englischen Wertvorstellungen im Nahen Osten zu verwirklichen und nicht, eine künstliche hebräische Enklave in ein einem orientalischen Land zu schaffen." (S. 559 ebd.)

Amery war, wie Milner und seine Mitstreiter, ein Erz-Imperialist. Seltsamerweise wurde vor kurzem entdeckt, dass Amery Jude war, was er aber geheim halten konnte. Er fälschte seinen familiären Hintergrund (die Mutter war ungarisch-jüdischer Abstammung), vermutlich, um seine Politiker-Karriere nicht zu erschweren. Als die britischen Streitkräfte 1940 evakuiert worden, blieb sein Sohn John in Frankreich und wurde ein Nazi-Kollaborateur. Er wurde nach 1945 hingerichtet. Seine Familie riet ihm, auf schuldig zu plädieren, um keinen Skandal zu verursachen und der Familie nicht zu schaden.

Der "Morning Star" vom 4./5. November berichtet, dass Moshe Machover, ein Mathematikprofessor, Schriftsteller und bekannter Aktivist gegen den Zionismus, wieder in die Labour Party aufgenommen worden ist. Ich kenne Moshe gut. Er war in der israelischen KP, aber er gründete eine dissidente kommunistische Organisation in Israel, "Matzpen" (Kompass). Irgendwann kam er dann nach England, um dort zu leben. Sein Sohn Dani ist Anwalt. Er versucht, israelische Politiker, die London besuchen und die für Kriegsverbrechen verantwortlich waren, verhaften zu lassen.

Moshe wurde bezichtigt, einen "antisemitischen" Artikel geschrieben zu haben. Die israelische Regierung und ihre Unterstützer haben die Definition von Antisemitismus dahingehend geändert, dass darin jede Kritik an Israel mit eingeschlossen ist. Die Labour-Rechte benutzt das gegen die Linke.

m.j., 10./15.11.17

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 198 - Winter 2017/2018, Seite 37 bis 38
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
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Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Januar 2018

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