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AUFBAU/274: Frauen nehmen sich MehrWert


aufbau Nr. 63, Dezember/Januar 2010/11
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Frauen nehmen sich MehrWert

FRAUENORGANISATION - Im Rahmen der Welt-Frauenkonferenz-Veranstaltung am 1. Mai 2010 in Zürich sprach die türkische Frauengruppe IMECE. Die Aktivistinnen kämpfen in verschiedenen Bereichen für bessere Lebensbedingungen.


(agfk) Die Frauengruppe IMECE entstand vor rund 10 Jahren in einem der Slums von Istanbul. Frauen aus den untersten Klassen schlossen sich zusammen, um für ihre Interessen einzustehen. Die meisten haben keine Schulbildung. Viele Frauen kommen ursprünglich aus ländlichen Gegenden, zum Teil aus Kurdistan. Die verschärfte "neoliberale" Politik, die nach dem Militärputsch 1980 unter dem Diktat des IWFs rigoros durchgesetzt wurde, zwang viele Familien, in die Städte zu migrieren. Hier arbeiten die Frauen als billige, flexible Arbeitskräfte in den informellen und schlecht bezahlten Sektoren wie Heimarbeit und Putzarbeit.


Selbsthilfe und kämpfende Subjekte

Ziel von IMECE ist die Stärkung und Organisierung der proletarisierten und proletarischen Frauen. Im Mittelpunkt steht der Kampf gegen die alltägliche Diskriminierung bei der Arbeit, zu Hause und in der Schule. IMECE ist Anbieterin und Tauschbörse für verschiedene Aktivitäten und Fähigkeiten. Auf diese Art entstanden ein Theaterkurs, Computerkurs, Rechtshilfe von AnwältInnen, Gesundheitssprechstunden, Kinderhütedienst oder ein Nähkurs.

"Ich lebte 10 Jahre in einer schlimmen Ehe. Ich wurde jahrelang von meinem Mann geschlagen und durfte nicht ausser Hause arbeiten. Dann habe ich mich scheiden lassen und wurde von meiner Familie verstossen. Als alleinstehende Frau ist es praktisch unmöglich eine Wohnung zu finden. Nur mit Hilfe eines Kollegen, der sich als mein Mann ausgab, fand ich eine Wohnung. Nun mache ich mein eigenes Leben, ich gehe an Demos, IMECE-Aktivitäten, ich arbeite und trage kein Kopftuch mehr..."

"Am Anfang tolerierte mein Mann nicht, dass ich am Abend noch an eine Sitzung ging und er versuchte mich davon abzubringen und mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Durch den starken Rückhalt, den mir IMECE geboten hat, bin ich nun selbstbewusst geworden und ich habe erreicht, dass mein Mann auch ein bisschen mithilft bei der Hausarbeit."

Beginnend bei der gegenseitigen Hilfe, gibt es heute einen Frauenrat. Das sogenannte "decision-making-meeting" findet wöchentlich statt und trifft wichtige Entscheidungen. Dieser Frauenrat hat zwei Funktionen: Einerseits schafft er die Möglichkeit, dass sich die Frauen gemeinsam organisieren, so erleben sie sich als handelnde Subjekte - viele zum ersten Mal. Andererseits entsteht ein Raum, wo Frauen sich austauschen können. Die Frauen haben die Chance, Themen wie häusliche Gewalt und Mehrfachbelastung gemeinsam zu diskutieren. Themen, die in der türkischen Gesellschaft stark tabuisiert sind.


Wertlose Putzarbeit

Neben den Aktivitäten und Kämpfen im Reproduktionsbereich, kämpfen die Frauen gegen ihre prekären Arbeitsverhältnisse. Seit 2008 hat IMECE den Schwerpunkt auf den Sektor der informellen Reinigungsarbeit gelegt, da die meisten Frauen als Putzfrauen in Haushalten von reichen Familien arbeiten. Offiziell nicht als Arbeiterinnen anerkannt, fallen sie aus dem Arbeitsgesetz, haben keine Rechte und Absicherungen, keine festen Arbeitszeiten und keinen Arbeitsvertrag. Die Frauen gründeten deshalb eine Putzfrauen-Gewerkschaft. Erstes Tagesziel ist die Standardisierung der Reinigungsarbeit. Damit fordern sie das Recht auf eine Rente, geregelte Arbeitszeiten und Krankenversicherung.

"Ich verdiene nur 85 türkische Lire (ca. 22.- CHF) am Tag. Vier Tage im Monat arbeite ich gratis, damit mein Boss mir Sozialversicherungen bezahlt."

"Ich fühlte mich nicht als Arbeiterin, meine Arbeit war unsichtbar. Heute, durch Imece, fühle ich mich als Arbeiterin und Frauenkämpferin."

"Als Putzfrau hat mein Arbeitstag zwar einen Beginn, aber ich weiss nie, wann ich Feierabend habe, denn ich putze einfach so lange bis ich fertig bin. Meine Chefs nennen mich nicht beim Namen, sie sagen nur 'Frau' oder 'meine Frau'."

Durch die Organisierung entwickeln die Frauen ein kämpferisches proletarisches Bewusstsein. Das Kollektiv ist ein Weg, um aus der Vereinzelung auszubrechen. Die Frauen geben sich gegenseitig Unterstützung und machen die Erfahrung, gemeinsam und organisiert für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen als Frau und Arbeiterin zu kämpfen. Für viele die ersten Schritte auf einem langen Weg der Befreiung, der auch eng mit Selbstbefreiung von der eigenen. Sozialisation verbunden ist.


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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend (agj)


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Quelle:
aufbau Nr. 63, Dezember/Januar 2010/11, Seite 4
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
Revolutionärer Aufbau Bern, Postfach 87, 3174 Thörishaus
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2011