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AUFBAU/284: "Das Resultat des Kampfes, kein Geschenk"


aufbau Nr. Nr. 64, März/April 2011
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

"Das Resultat des Kampfes, kein Geschenk"

DREI JAHRE DANACH - Vor drei Jahren haben die SBB-Werkstätten in Bellinzona erfolgreich gestreikt. Heute haben sie alle Hände voll zu tun, um ihren Erfolg zu sichern. Gianni Frizzo hat uns darüber berichtet.


(az) Es ist Donnerstag-Nachmittag, Gianni Frizzo empfängt herzlich, aber auch müde.. "Wir gehen unter in der Arbeit. Jetzt hatten wir gerade ein Treffen der Arbeitsgruppe. Am 27. Mai wird es wieder einen runden Tisch geben, dort müssen wir einen Aktionsplan präsentieren. Wir haben die Auflage, zehn Millionen einzusparen. Ohne Entlassungen, solche stehen nicht auf dem Programm. Im Gegenteil. Aber wir müssen Optimierungen machen, die Zeiten verkürzen und natürlich schauen, wo wir billiger einkaufen können - das ist zwar hässlich, aber so funktioniert das. Zu diesem Zweck haben wir mehrere Arbeitsgruppen gebildet, die paritätisch zusammengestellt sind, in allen haben die Arbeiter Einsitz." Wenn sich Arbeiter die Mitbestimmung in einem Betrieb erkämpfen, so bedeutet das, sich mit Management-Fragen auseinandersetzen, jeden Schritt der lokalen Direktion und der Zentrale in Bern überprüfen und mit Gegenvorschlägen aufwarten, Gewerkschaften und BeraterInnen helfen dabei. Die Personalkommission - das sind die sechs, die ehemals das Streikkomitee waren - muss für diese Aufgabe aber auch mit den Arbeitern Rücksprache nehmen.

Am folgenden Tag werden sich 30 Delegierte aus den Abteilungen treffen, einen ganzen Tag lang. Und Gianni hat noch keine Zeit gefunden, sich darauf vorzubereiten. Seit dem Streik wurden verschiedene Treffen institutionalisiert. Die Devise, dass transparent informiert werden soll und keine Entscheidung ohne die Stimme der Arbeiter erfolgen darf, wird eingehalten. Wir wollten aber wissen, ob sich die Arbeiter auch nach wie vor dafür interessieren, sich einbringen. "Mehr denn je!" Die Antwort kommt schnell und überzeugt. "Ursprünglich haben wir Versammlungen durchgeführt, an der alle kommen konnten. Die Arbeiter hatten Hemmungen zu sprechen und haben uns um einen kleineren Rahmen gebeten. Jetzt führen wir häufiger Abteilungstreffen durch und die Leute haben den Mut entwickelt, sich zu äussern. Sie merken, dass uns wichtig ist, was sie sagen, das wirkt. Uns von der Personalkommission kostet es aber viel Energie. Wenn wir informieren, bedeutet es automatisch einen Marathon durch die Abteilungen. Aber es ist gut. Unter anderem, weil dort die temporär Angestellten anzutreffen sind und diese merken, dass wir ihre Anliegen ernst nehmen." Seit Streik-Ende hat die Officina ein Problem mit Zeitarbeitern. Das Arbeitsvolumen wächst, Festanstellungen werden aber ungern vorgenommen. 2009 konnte die Personalkommission durchsetzen, dass 31 Temporäre fest angestellt wurden. Jetzt ist die Anzahl aber bereits wieder auf etwa 100 angestiegen. Das führt zu Qualitätsproblemen, da es sich um Arbeit handelt, die Erfahrung erfordert. Und Qualitätsprobleme werden in den Verhandlungen taktisch gegen die Officine eingesetzt. Der Kampf um die Regularisierung ist deshalb unter mehreren Gesichtspunkten zentral.


Kampf um Schichtzulagen

Ein Problem ist auch, dass einige qualifizierte Arbeiter die Officine verlassen haben, kaum hatten sie ein besseres Angebot gefunden. Anfangs 2009 wurden die Werkstätten in Bellinzona von der Division Güterverkehr in den Personenverkehr verschoben, was gut ist, da diese solider und staatlich ist. Aber es hat zu unübersichtlichen strukturellen Veränderungen geführt. Und der Angriff war, dass die mit Cargo getroffenen Vereinbarungen für nichtig erklärt wurden. Gianni zieht eine dicke Mappe hervor. "Siehst du diesen Vertrag, den haben wir mit der Direktion unterschrieben. Nach mindestens sechs Monaten Diskussionen sind nun Schichtzulagen, Überstunden, Samstagsarbeit usw wieder gut geregelt. Und ausser der Ferienregelung gilt alles auch für Temporäre. Man muss Bewusstsein haben für dieser Arbeit. Eines Freitags hat der Direktor zu mir gesagt: "Dieser Vertrag wird bis in einer Stunde unterschrieben oder die Verhandlung ist geplatzt." Da bin ich nach Hause gegangen. So wie der Vertrag war, konnte ich ihn unmöglich unterschreiben. Am Nachmittag hat er angerufen und mich zurückgeholt. Mit diesem Resultat sind wir nun sehr zufrieden. Was im Vertrag steht, ist nichts Originelles, das haben wir nicht erfunden. Aber wir haben wieder hergestellt, was sie uns wegnehmen wollten. Noch glücklicher wäre ich natürlich, wenn diese Vereinbarung auch in Yverdon, Biel und Olten gültig wäre. Aber wir können nur hoffen, dass sie auf die Idee kommen, für die Gleichstellung mit uns zu kämpfen. Wir können sie nicht dazu zwingen." Wie kam es aber zu diesem überdurchschnittlichen Abschluss? Hat die Direktion Angst vor den Arbeitern? "Angst würde ich nicht sagen, Respekt. Es geht um ein Kräfteverhältnis, das müssen beide Seiten einschätzen und sie bauen Druck auf. Ich konnte an diesem Tag nicht sicher sein, dass er mich zurückruft. Das ist Druck." Glaubt er denn, dass wieder ein Kampf möglich gewesen wäre, wenn der Vertrag wirklich geplatzt wäre? "Wut war da, vor allem über die Art und Weise, wie die Direktion handelte. Aber wir haben natürlich zu Zurückhaltung gemahnt. Solange wir am runden Tisch verhandeln, müssen beide Seiten Entgegenkommen zeigen. So ist das hält, die Verhandlung nützt auch dem Unternehmen, das geben wir immer offen zu." Gianni Frizzo und die anderen haben genug Erfahrung, um Widersprüche zu erkennen und zu thematisieren.


Das System stiehlt die Zeit

Trotz der Bemühungen finden sie nicht genügend Zeit, alle Schritte genau in der Belegschaft zu diskutieren. "Das Problem heute ist: Das System hat uns die Zeit gestohlen. Wir haben fast keine Zeit die Probleme mit den Betroffenen vertieft zu diskutieren. Wir können uns viel mehr Zeit nehmen als früher oder als andere Personalkommissionen, aber der Zeitdruck ist enorm. Und es ist sehr viel Kleinarbeit. Zudem sind wir zur Anlaufstelle für jedes Problem geworden. Die Direktion kritisiert uns, weil niemand mehr den Dienstweg einhält. Wir sind offiziell die Berater des Managements. In dieser Funktion sind wir oft die falschen Ansprechpartner für die Probleme der Arbeiter und das sagen wir auch. Aber sie kommen trotzdem zu uns, weil sie den Vorgesetzten nicht vertrauen." Gianni Frizzo betont es immer wieder und sagt auch mehrfach: "Wir igeln uns nicht ein." Offenbar sind sie mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie sich nur um den eigenen Betrieb kümmern, zu wenig in die Tagesaktualität intervenieren. Ein Vorwurf, der zu schmerzen scheint. "Wir möchten ein Laboratorium sein, ein Modell. Aber viel zu wenige interessieren sich. Alle wollen etwas über den Streik hören. Der war ein Ereignis, aber die Arbeit danach sorgt dafür, dass es kein Pyrrhus-Sieg war, ein Sieg, der am Ende keiner war." So kümmert sich die Personalkommission um den eigenen Betrieb, geht aber raus, wenn sie von anderen Belegschaften gerufen wird. Sie führen immer wieder den Film über den Streik vor und diskutieren mit Belegschaften. Gianni Frizzo ist davon überzeugt, dass der zentrale Faktor eines Kampfes derjenige ist, dass innerhalb der Belegschaft Leute sind, die ein waches Bewusstsein haben und dass vielen Belegschaften dieser Faktor fehlt. Wenn dann noch zusätzlich die Gewerkschaft lasch ist, dann lässt sich kein aussichtsreicher Kampf führen. "Wenn wir gerufen werden, dann versuchen wir hinzugehen und zu diskutieren. Aber wir wollen keine falschen Hoffnungen erzeugen. Am Ende stehen alle alleine vor dem Resultat. ihrer Entscheidungen, sie müssen wissen, an welchem Punkt sie stehen. Wir bewegen uns also vorsichtig, das heisst für mich: mit Respekt. Ich will keine Lektionen erteilen, ich kann unsere Geschichte erzählen, von den Problemen und unseren Lösungen. Aber die Situation ist überall wieder anders. Was für die einen verhandelbar ist, ist es für die anderen nicht. Auch die Repression ist überall verschieden." Auf internationaler Ebene wird versucht, eine Vernetzung aufrecht zu halten, vor allem unter Bähnlern. Beispielsweise in Bologna sollen die Bahn-Werkstätten geschlossen werden und die Belegschaften tauschen sich aus. Aber ein gemeinsames konkretes Ziel scheint wegen der unterschiedlichen Vorbedingungen in weiter Ferne. Darauf angesprochen, ob der Kampf und die Arbeit danach sich politisch auf die Belegschaft auswirken, antwortet Gianni Frizzo indirekt. "Vor dem Streik hatten wir hier jede denkbare politische Meinung und die Gemeinsamkeit war unvorstellbar. Du kannst über politische Konzepte sprechen, das führt nirgends hin. Aber wenn du mit den Arbeitern über die Ausbeutung, über die Arbeitssituation sprichst, dann findest du dich. Deshalb will ich mich auch nicht auf eine politische Linie einschwören, ich will mit allen sprechen können, über konkrete Probleme. Aber bei den Grundsätzen muss man schon klar sein. Es bräuchte einen Katalog der Rechte der Lohnabhängigen, wie es Menschenrechte gibt. Der Kampf wäre dann, diese durchzusetzen."

So anstrengend ist also die Verteidigung eines errungenen Siegs. Der Kampf hat verschiedene Gesichter und er geht weiter. "Jeder Schritt vorwärts ist das Resultat eines Kampfes, kein Geschenk."


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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend (agj)


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Quelle:
aufbau Nr. 64, März/April 2011, Seite 9
HerausgeberInnen:
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Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. März 2011