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AUFBAU/289: Mit Vogelperspektive gegen prekäre Arbeitsverhältnisse


aufbau Nr. Nr. 65, Mai/Juni 2011
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Mit Vogelperspektive gegen prekäre Arbeitsverhältnisse

UNTERSUCHUNG - Über den Versuch, Erfahrungen vom Kampf auf der Strasse auf die Situation in prekären Arbeitsverhältnissen zu übertragen.


(az) Mit unserer militanten Untersuchung über die prekäre Arbeit im Verkauf wollten wir in den letzten paar Zeitungsausgaben nicht nur die schlechten Arbeitsbedingungen in dieser Branche zur Sprache bringen, sondern vor allem auch nach Widerstandsmomenten suchen. Dem letzteren Anspruch konnten wir nur schwer genügen. Die Bedingungen sind und bleiben desolat für betriebliche Organisierung. Deshalb wagen wir hier einen Schritt zurück und suchen aus der Vogelperspektive nach Ansätzen von Widerstand. Ermutigt durch den Vortrag des Soziologen Peter Birke zum Organizing (1) wollen wir hier bewusst von aussen - also als Militante der politischen Widerstandsbewegung - unsere Erfahrungen in die Untersuchung über betriebliche Organisierung einbringen. Wenn auch die Organisierungsbedingungen im Betrieb weit schwieriger und repressiver sind als im politischen Kampf, so können dennoch ähnliche Problemstellungen beobachtet werden.


Konfrontation von unten

Während der Konstitution des Revolutionären Aufbaus propagierten wir die Parole "Vom Widerstand zum Aufbau". Damit bringen wir eine grundlegende Orientierung zum Ausdruck, die auch im Kontext prekärer Arbeitssituationen hilfreich sein könnte. Nicht nur im Betriebskampf, sondern auch die politische Widerstandsbewegung ist geprägt durch vereinzelte defensive Abwehrkämpfe, als Reaktionen auf Angriffe des Kapitals: Häuserkämpfe, reaktionäre Mobilisierung, Verschärfungen der Migrationspolitik usw. Diese Defensivkämpfe sollten demnach in ein Verhältnis zu einem langfristigen Aufbauprozess und damit zu einer offensiven Strategie gestellt werden: Grundlegend dafür war und ist die Perspektive einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus. So gesehen, bergen die Angriffe auf die proletarische Klasse, welche sich objektiv in einer Defensive befindet, als Konfrontationsmomente immer auch die Möglichkeit in sich, revolutionäres Klassenbewusstsein zu schärfen. Und mit einer solchen revolutionären Perspektive, welche über den einzelnen Kampf hinausblickt und eine klassenlose Gesellschaft antizipiert, sowie der jeweils richtigen Taktik, können Defensivkämpfe auch in Teile einer offensiven Politik umschwenken. Um es mit Bertolt Brechts Dialektik zu sagen (2): Nur mit der Überzeugung, dass es nicht bleibt, wie es ist, werden die Beherrschten sprechen, nachdem die Herrschenden gesprochen haben. Weiter können in der latenten Defensive auch punktuell erfolgreiche offensive Konfrontationen von unten gesucht werden, in welchen im Kleinen die Perspektive einer solidarischen, selbstbestimmten Gesellschaft erlebbar wird.

Übertragen wir diese Überlegungen auf die Betriebsebene, können wir sicher davon ausgehen, dass unter prekären Arbeitsbedingungen eine defensive und konflikthafte Arbeitssituation ebenfalls omnipräsent sind. Angriffe auf Arbeitsbedingungen und Entlassungen sind nur eine Frage der Zeit und drängen die KollegInnen in die Enge. Das Fehlen von sozialpartnerschaftlichen Ritualen bietet zwar eine bessere Grundlage für ein Klassenbewusstsein - hier also darüber, dass es zwischen den Angestellten und der Unternehmensleitung einen Interessengegensatz gibt -, aber in den Interviews haben wir sehen können, dass eine entsprechende Praxis unmöglich erscheint. Brechts suggestive Frage "Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?" läuft hier ins Leere. Die Lage scheint oft erkannt, nur fehlen Ansätze den Klassenkampf von oben in einen Klassenkampf von unten umzudrehen. Die Unkontrollierbarkeit von Konflikten macht ohnmächtig und schwebt wie ein Damoklesschwert über den Köpfen.

Analog zu unserer Politik auf der Strasse wurde deshalb im Interview über die UPS-Lieferanten ein Ansatz der offensiven Konfliktsuche dargelegt: Statt auf den nächsten Angriff von oben zu warten, suchen die KollegInnen bei UPS Konflikte, in welchen sie Zeitpunkt und Form der Konfrontation selbst bestimmen. Damit kann auch Stück für Stück wieder ein Gefühl der Kontrolle über das, was im Betrieb an Konflikten geschieht, erkämpft werden. Erfolge für die einzelnen Konfrontationen sind damit natürlich nicht garantiert, aber für das Ziel des Aufbaus von Gegenmacht ist das selbstbestimmte offensive Handeln der Zerstreuung in der Defensive vorzuziehen. Hier wird auch deutlich, welchen Unterschied das Bewusstsein über die Notwendigkeit einer längerfristigen Gegenmacht und über das Vorhandensein entgegengesetzter Interessen macht. Eine konfrontative Politik macht nur Sinn, wenn man von unvereinbaren Interessen ausgeht und den Angriff von oben als etwas versteht, was unausweichlich ist und sowieso auf uns zukommt. Ansonsten wäre es vorzuziehen, sich ruhig zu verhalten, und den einmaligen Sturm über sich ergehen zu lassen. Letztere Hoffnung versuchen die Bosse natürlich durch verschiedene Integrationstechniken, wie dem Verweis auf Aufstiegschancen, immer wieder zu schüren.


Widerstandskultur

Die grosse Personalfluktuation und die starke Repression unter prekären Arbeitsverhältnissen scheint es schwer zu machen, eine Gegenmacht in Institutionen zu fixieren oder Betriebsgruppen über Jahre hinweg zu halten. Um so wichtiger wird es, eine Art von Widerstandskultur zu etablieren. Wenn wir neu in einen Betrieb kommen, merken wir schnell, ob eine widerständige, solidarische oder eine verängstigte, konkurrierende Haltung unter den KollegInnen herrscht. Diese spürbare Kultur kann sich zwar auch an Einzelpersonen festmachen, aber kaum in formellen oder offen agierenden kollektiven Kernen. Mitunter erfahren wir aus den Interviews auch, dass eine gewerkschaftliche Solidaritäts-Kultur, in welcher man auch ausserhalb der Arbeit zusammenhockt, fehlt.

Eine Widerstandskultur muss also vielmehr in den einzelnen KollegInnen, in ihrem unmittelbaren Handeln und den Interaktionen direkt am Arbeitsplatz liegen. Durch kollektive Praktiken müssen im Arbeitsalltag solidarische Haltungen "eingeübt" und reproduziert werden. Dabei kommt - wie in den Interviews sichtbar - dem Funktionieren als Teil eines Arbeitsteams grosse Bedeutung zu: Man lässt die KollegInnen nicht hängen, man geht arbeiten, auch wenn man krank ist. Dieses Funktionieren ist ambivalent, weil man vor allem den KollegInnen nicht mehr Arbeit aufbürden will, damit aber gleichzeitig den Druck der Ausbeutung auf sich selbst und die KollegInnen verschärft. In zusammengewürfelten Teams stehen sich diesbezüglich denn auch unterschiedliche Haltungen gegenüber. Wer nicht von diesem Job abhängig ist, verweigert sich vielleicht dem Druck individuell, während KollegInnen, welche von diesem Arbeitsverhältnis abhängig sind, auf das funktionierende Kollektiv setzen. Spannungen unter den KollegInnen können deshalb schnell zur Spaltung führen. Nichtsdestotrotz muss eine Widerstandskultur aus genau diesem Funktionieren heraus entwickelt werden, weil gerade in prekären Arbeitsverhältnissen die Arbeitsprozesse zeitlich und örtlich so zerstückelt werden, dass Interaktionen auf das kollektive Funktionieren reduziert werden. Das "Soziale" unter den KollegInnen - welches in der Freizeit nicht mehr stattfindet - muss deshalb in diesen Interaktionen entstehen. Die erwähnte Ambivalenz kann aber nur aufgelöst werden, indem diese solidarische Kultur durch Konfrontationen gegen oben - auch an ganz kleinen Momenten - um die nötigen widerständigen Elemente erweitert wird. Um es mit vorigem Beispiel zu sagen: Wenn man zwar krank zur Arbeit geht, aber sich dann kollektiv verweigert.


Präsenz

Eine solche Kultur kann und sollte sich aber nicht nur auf die Interaktion unter den KollegInnen - also auf etwas, was immer nur zwischen Personen stattfindet - beschränken. Wo es möglich ist, sollte sie sich manifestieren und eine fassbare Form bekommen. Neben Interaktionen ist auch die Bestimmung über Räume und Symboliken wichtig; diese sind nämlich auch kulturell geprägt. Dessen sind sich auch die Bosse bewusst. In den Interviews zum Verkauf, aber auch aus sonstigen Berichten aus anderen Betrieben, wird die Hegemonie der Bosse über kollektive Räume kritisiert. Das äussert sich darin, dass die Räume dominiert werden von der Präsenz des Chefs oder dass zum Beispiel Informationsaushänge auf kritische Inhalte hin kontrolliert werden. Es geht also auch um das Markieren von Präsenz. Eine Widerstandskultur, welche sich kontinuierlich in einer wenn auch nur symbolischen Präsenz niederschlägt, ist nicht zu unterschätzen.

In der sonstigen politischen Praxis sprechen wir in diesem Zusammenhang auch von revolutionärer Präsenz: Sprays und politische Plakate verweisen gerade auch durch die nicht legale Form auf widerständige Teile in der Bevölkerung und zeugen auch von einer Widerstandsgeschichte, welche die offiziellen Medien verschweigen. Auch im Betrieb ist es wichtig, eine solche Präsenz zu markieren. Gerade wenn die MitarbeiterInnen oft wechseln, haben die Bosse die Chance, jeweils neue Normalitäten zu schreiben, den status quo als unveränderbar zu behaupten. Die Geschichte von unten - wie vergangene Konfrontationen, Ungerechtigkeiten oder Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen - und damit auch die Veränderbarkeit von Bedingungen, muss deshalb unbedingt an neue MitarbeiterInnen vermittelt werden.

Dieser Kampf um die relative Bestimmung von Räumen kann mit kleinen kontinuierlichen Schritten im alltäglichen Handeln geschehen, mit kleinen Nadelstichen. Dies kann auch ohne direkte Konfrontation passieren. Das Aufhängen von Plakaten, das Liegenlassen von Flyern oder das Kleben von Klebern geschieht anonym, schafft aber ein sichtbares Klima und erzählt eine Geschichte von unten mit Perspektive auf Veränderung. Damit das, was "die Gewalt [der Herrschenden] versichert", gebrochen wird: So wie es ist, bleibt es nicht.


Anmerkungen:

(1) Veranstaltung am 17.2.11. in Zürich
(2) Folgende Verweise beziehen sich auf Brechts: "Lob der Dialektik"


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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend (agj)


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Quelle:
aufbau Nr. 65, Mai/Juni 2011, Seite 7
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
Revolutionärer Aufbau Bern, Postfach 87, 3174 Thörishaus
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.ch
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2011