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AUFBAU/294: Tunesien - "Das hat nichts mit Jasmin-Revolution zu tun"


aufbau Nr. Nr. 66, September/Oktober 2011
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

"Das hat nichts mit Jasmin-Revolution zu tun"


Der Umsturz in Tunesien Anfang Jahr hat vielen Hoffnung gemacht. Wie sieht die Situation heute aus? Wir haben mit Mounir K, einem Lehrer und Gewerkschafter aus Tunis gesprochen.


AZ/AGAFZH/AGAFBS: Was waren die politischen und ökonomischen Merkmale des Regimes von Ben Ali?

MOUNIR K: Tunesien ist ein halb-koloniales Land oder abhängiges Land, weil die vermeintliche Unabhängigkeit von 1957 den Neokolonialismus eingerichtet hat. Ben Ali übernahm nach einem unblutigen Putsch die Macht, indem er sich auf die verfassungsmässige Legitimität berief. Schon vor seinem Staatsstreich 1987 leitete er als Militär die Repression im Land. Als er an die Macht kam, versprach er die Öffnung für die Opposition, aber das war nicht von langer Dauer. Auf wirtschaftlicher Ebene setzte er die Vorgaben des Restrukturationsplans des IWF aufs Wort um. Das bedeutete die Privatisierung des öffentlichen Sektors, die Liberalisierung der Preise, das Einfrieren der Löhne, die Zeitarbeit. Er unterschrieb einen Partnervertrag mit der EU, der Tunesien zum Steuerparadies für Reiche machte. Ein Paradies, welches sich durch qualifizierte aber fast kostenlose Arbeitskräfte auszeichnete, da der gesetzlich garantierte Mindestlohn bei 110 Euro pro Monat liegt. Die Arbeitslosigkeit erreichte 24%, auch junge AkademikerInnen der Universität waren davon betroffen, allen voran SpezialistInnen, die der Markt nicht brauchen konnte.

AZ/AGAFZH/AGAFBS: Die europäischen Medien betonten, dass die tunesische Revolution/ Revolte von kleinbürgerlichen Studenten getragen wurde. Ist dies richtig?

MOUNIR K: Es ist ein spontaner, gewaltsamer Volksaufstand, der das Ergebnis verschiedener Kämpfe ist, vor allem des Aufstands des Bergbaureviers im Südwesten, der von Januar bis Juni 2008 dauerte. Die Revolte, die durch die Selbstverbrennung von Med Bouazizi ausgelöst wurde, ist eine Revolte ohne politische Führung, es ist ein Volksaufstand, der alle sozialen Schichten mitriss: die Arbeitslosen zuerst, die ArbeiterInnen, die armen BäuerInnen, dann die Handwerker, Studierenden, die öffentlichen Angestellten und sogar die Selbständigen, wie Anwälte, Ärzte usw. Die Aufständischen brannten laut Statistiken des Innenministeriums 85 Posten der Nationalgarde nieder, fast alle Polizeiposten in den Volksquartieren, alle Lokale des RCD [Rassemblement constitutionnel démocratique, die Regierungspartei von Ben Ali, plünderten Einkaufsmärkte und sogar einige Banken. Dieser Aufstand, der in mehreren arabischen Ländern das Pulverfass zum Explodieren brachte, hat übrigens nichts mit einer "Jasmin-Revolution" zu tun. Diese Aufstände haben wieder einmal bewiesen, dass die Halbkolonien Revolutionsherde sind, Herde, in denen sich globale Widersprüche konzentrieren. Sie haben auch ohne Missverständnisse gezeigt, dass das Volk selbständig agieren kann, sein Schicksal in die eigene Hand nehmen und sich selbst die Gesetze geben kann. Aber das Volk ohne revolutionäre Avantgarde kann nichts ändern, schlimmer noch, es fühlt sich tief verletzt, wenn es sieht, wie seine Revolte vereinnahmt wird durch die Reaktion.

AZ/AGAFZH/AGAFBS: Immer wieder hörte man das Wort "Facebook-Revolution". Welche Rolle haben die neuen Medien tatsächlich gespielt und habt ihr auch reale Organisationsformen wie Volksräte und deren Versammlungen entwickelt?

MOUNIR K: Gewisse Milieus blasen die Rolle von Facebook auf, die Akteure des Aufstands vom 17. Dezember bis am 14. Januar waren in Wirklichkeit die Jungen, die weder Computer noch Internet haben. Facebook spielte dagegen eine nicht vernachlässigbare Rolle bei der Mobilisierung für die Besetzung des Kasbaplatzes, des Platzes des Premierministers. Diese Massenbewegung organisierte sich in zwei Wellen: Kasba 1, die den Premierminister Ben Alis dazu zwang, in seiner provisorischen Regierung Änderungen vorzunehmen und Kasba 2, die die erste provisorische Regierung stürzte und mit Beji Kaid Essebsi einen Veteranen aus der Zeit von Bourguiba ans Ruder brachte.

Die Quartier-, Strassen- und Dorfräte bildeten sich überall auf spontane Art und Weise, um sich vor den Milizen zu schützen, die von den Machthabern geschickt wurden und die Bevölkerung terrorisierten. Diese Volksräte zeigten eine beispiellose Solidarität und bewiesen, dass sich das Volk trotz der Unterschiede gegen den gemeinsamen Feind vereinen kann. Der Volkswiderstand zwang die Regierung, ihre Taktik zu überdenken, und um die Räte zu demobilisieren, zog sie die Polizei zurück und die Armee nahm die Situation in die Hand, wobei sie vorsichtig vorgehen mussten, da die Volksräte in den heissesten Quartieren weiterhin bis am Morgen wachsam blieben, bewaffnet mit Knüppel, Messern und Steinen...

Zudem gab es Komitees zum, Schutz der Revolution, die sich vor allem aus GewerkschaftsaktivistInnen und organisierten Militanten bildeten. Sie gingen nicht aus einer Massenbewegung hervor, wurden nicht gewählt. Ausserdem sind sie ein Amalgam, das die Linke, die Muslimbrüder und nicht deklarierte RCD-Menschen vereint. Sie gaben vor, die "Revolution" verteidigen zu wollen, doch die Mehrheit ihrer Mitglieder schloss sich schon beim ersten Vorschlag der "hohen Instanz für die Umsetzung der Ziele der Revolution, für die politische Reform und den demokratischen Übergang" an. Diese "hohe Instanz" wurde zuerst von Ben Ali einberufen, nun ist sie durch Vertreter einiger Parteien und der Zivilgesellschaft, 70 "nationalen Persönlichkeiten" und Vertreter von 12 Gouvernatoren besetzt.

AZ/AGAFZH/AGAFBS: Was für eine Rolle spielten die IslamistInnen im Aufstand?

MOUNIR K: Die Islamisten spielten keine Rolle im Aufstand, im Gegenteil, sie waren abwesend, nicht ein einziger muslimischer Slogan wurde gehört. Sie zeigten sich nach der Flucht Ben Alis und vor allem nach der Rückkehr von Ghannouchi, aus dem Exil in London. Sie begannen mit der Besetzung der Kasba 2 aktiv zu werden. Sie waren in der "hohen Instanz" vertreten und zogen sich zurück, um Druck zu machen. Sie bekamen Spenden aus Katar, der Türkei, Saudi-Arabien, organisieren Versammlungen und verteilen Geld, so dass es alle sehen und wissen. Dank der vielen Moscheen in Tunesien haben sie eine Basis im Volk. Sie stellen eine wahre Gefahr dar, auch weil sie viel Geld haben und durch einige imperialistische Monopole und die arabische Reaktion unterstützt werden. Ihr bevorzugtes Thema ist die Frau, die zu Hause bleiben müsse, die Polygamie, die durch das tunesische Gesetz verboten ist, das Tragen des Schleiers und die Scharia. AZ/AGAFZH/AGAFBS: Was für eine Rolle spielte die Linke (Sozialdemokratie und Revolutionäre)? Gibt es eine nennenswerte revolutionäre Bewegung, wenn ja, was sind ihre Positionen? MOUNIR K: Es gibt nun 102 legale Parteien, die folgenden Zahlen sind Schätzungen: der RCD wurde aufgelöst, aber er hat sich in 44 neo-RCD-Parteien verwandelt, von denen die Hälfte eine Koalition für die Republik bilden, zwölf Parteien vom sozialdemokratischen Lager bilden den Pol für die Moderne, es gibt elf Parteien, die mit Ennahdha, den Islamisten, sympathisieren, zehn Parteien mit nationalistischer Tendenz: nasseristische (nach Nasser von Ägypten), irakische Baathisten, syrische Baathisten. Von den elf linken Parteien traten einige dem Pol für die Moderne bei, die anderen sind Zentristen: Liberale oder reformistische MarxistInnen. Die Sozialdemokratie ist für den parlamentarischen Weg, sogar unter einem Militär- und Polizeiregime. Im übrigen war der Chef von Attajdid (der ehemaligen kommunistischen Partei) bereit, unter der ersten provisorischen Regierung Minister fürs Hochschulwesen zu werden.

Die linke Opposition ist wegen des Lebens im Untergrund gespalten. Es gibt eine Linke, die bereit war, eine Allianz mit den Islamisten einzugehen, wie die tunesische kommunistische Arbeiterpartei. Ein anderer Teil paktiert mit den Machthabern und der Gewerkschaftsbürokratie. Dann gibt es noch eine radikale und revolutionäre Linke, die sich auf allen Fronten im Kampf befindet und den Slogan "Weder Islamisten noch RCDisten" hat.

AZ/AGAFZH/AGAFBS: Was ist seit der Flucht von Ben Ali geschehen? Wer hat momentan die Macht?

MOUNIR K: Der aufgelöste RCD hat immer noch die Macht inne, vor allem die Militärs. Die imperialistischen Ratgeber verbesserten den Ruf des Militärs, das sich geweigert hatte, auf die Menge zu schiessen. Dies ist ein Trumpf für die Reaktion, denn der Armeechef, R. Ammar, ist pro-amerikanisch. Trotz der Liquidation einiger Köpfe blieb der Innenminister derselbe. Auch die Verwaltung ist noch weitgehend dieselbe. Diese Menschen, die vom Volk gehasst werden, haben die Unterstützung der Franzosen, der US-Amerikaner und der EU, ausserdem auch die der Emire vom Golf.

AZ/AGAFZH/AGAFBS: Was sind in der aktuellen Lage die Chancen, was die Gefahren?

MOUNIR K: Der Aufstand ist in Gefahr, der spontane revolutionäre Elan riskiert verloren zu gehen und wird schliesslich erstickt, wenn die revolutionäre Linke nicht ihre Verantwortung übernimmt. Die Volksmassen wollen ihren Aufstand beschützen, aber die drei Feinde, die Reaktion, die Muslimbrüder und der linke Opportunismus wollen die Slogans des Aufstands für ihre Zwecke einspannen. Das Volk aber zeigt Widerstand, es verlangt, dass den wichtigen Machthabern der Prozess gemacht wird, es will Arbeit, Würde, Freiheit, Ausgleich zwischen den Regionen, eine bessere Verteilung der Reichtümer...

Die soziale Situation bleibt sehr angespannt: Streiks, Strassenblockaden als Zeichen des Protests, Spekulationen auf die unentbehrlichen Güter, denn die Spekulanten ziehen es vor, mit den Libyern zu handeln, Preisexplosion. Die Fehden zwischen den Stämmen und Regionen werden durch die provisorische Regierung angefacht, um Unruhen auszulösen und die Repression und die Ausgangssperre zu rechtfertigen. Auch der fanatische Islamismus kommt zurück.


(Dieser Standpunkt gibt die Meinung der Mehrheit der GewerkschafterInnen der UGTT wider.
Übersetzt aus dem Französischen.


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REDAKTION

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend Zürich Jagj)


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Quelle:
aufbau Nr. 66, September/Oktober 2011, Seite 3
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.ch
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. September 2011