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AUFBAU/373: Hegemoniale Ansprüche der Gewerkschaft haben Geschichte


aufbau Nr. 75, dezember / januar 2013-14
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Hegemoniale Ansprüche der Gewerkschaft haben Geschichte



48-STUNDENWOCHE - Wie gewonnen, so zerronnen. Die massive Arbeitszeitverkürzung, die mit dem Landesstreik erkämpft wurde, konnte in den 20er-Jahren nicht verteidigt werden. Doch die Gewerkschaften setzten sich durch, in beide Richtungen.


(az) Auf welcher Basis agieren Gewerkschaften, wenn sie sich wie aktuell durch Abstimmungskampagnen in Szene setzten, bei realen Verschärfungen in den Betrieben aber die Füsse still halten? Wieso agieren sie nicht gegen Angriffe auf das Streikrecht und damit auf ihre Streikfähigkeit? Was Gewerkschaften konkret antreibt, auf welcher Seite der Barrikade sie weshalb stehen, wird am klarsten in historisch umkämpften Momenten sichtbar, dann nämlich, wenn auch eine ArbeiterInnenbewegung offensiv agiert. Im Anschluss an den Artikel im aufbau 73 wollen wir die Phase nach dem Landesstreik betrachten. Sie ist geprägt von einer schwächer werdenden ArbeiterInnenbewegung und einer ideologischen und organisatorischen Erstarkung der Gewerkschaftsführung. Hier bildete sich auch die zweite Funktion der Gewerkschaft - nämlich die der Ordnungsmacht - konkret heraus.


Abkopplung und Generalstabsmodell

So bildete sich ab 1918 in den Gewerkschaften eine Verhandlungskultur heraus, die auf eine Abkopplung der Sekretäre von der Basis verweist. Mit der Erkämpfung von Gesamtarbeitsverträgen, dem Aufbau von überbetrieblicher Gegenmacht und schliesslich der Zentralisierung der Gewerkschaft, war ein Streik nicht mehr nur Sache der unmittelbar Betroffenen. Während vorher also eine streikende Belegschaft keine eigentlichen Gespräche mit ihrem Unternehmer führte, sondern lediglich sein Angebot annahm oder ablehnte, wurden jetzt immer mehr formelle Verhandlungen bei Arbeitskämpfen geführt, bei denen auch Gewerkschaftssekretäre von ausserhalb des Betriebs das Sagen hatten. Und in weiterentwickelter Form konnte ein Sekretär auch vor einem Streik schon in Verhandlung treten und mit dem Kampfpotential seiner Gewerkschaftsstruktur drohen. Damit wurden die unmittelbaren Interessen der Betroffenen in ein Verhältnis zur gewerkschaftlichen Gesamtorganisation gesetzt und faktisch gegenüber dem Unternehmer verhandelbar, die Gewerkschaft wurde zur Verhandlungsmacht. Diese Kultur ging auch mit einer strukturellen Veränderung einher. So kann auch eine Veränderung der Rolle der Gewerkschaftssekretäre von AllrounderInnen über den AgitatorInnen hin zu Spezialisten - alles in allem eine Verbürgerlichung, die sich natürlich auch bezüglich der Geschlechterrepräsentanz zeigt - beobachtet werden. Und gerade im SMUV wandelte sich die Funktionärsarbeit von einer Teamarbeit hin zu einem Generalstabsmodell, das in der Person des Präsidenten Konrad Ilg als autoritärem Führer seinen Ausdruck fand.


Geschwächte Gewerkschaft

Die Zugeständnisse bezüglich der Wochenarbeitszeit sollten nicht lange währen. Schon 1921 gingen die Unternehmer wieder in den Kampf um die Ausweitung auf die 52-Stundenwoche über. Denn inzwischen dezimierte sich in zwei turbulenten Jahren die Gegenmacht der Gewerkschaften deutlich und der SGB verzeichnete einen 20prozentigen Verlust. In der kurzen aber heftigen Krise von 1920 bis 1922 versuchte sogar Ilg, der nicht gerade bekannt war für eine offensive Politik, die SMUV-Basis dazu zu bringen zu kämpfen, blieb aber erfolglos. Die hohe Arbeitslosigkeit schüchterte ein und die gut organisierten Arbeiter hatten alles in allem keinen Reallohnverlust zu verzeichnen. Die ideologischen Richtungskämpfe schwächten die Gewerkschaftsbewegung zusätzlich. Die Gewerkschaftsführungen machten sich in den Jahren nach dem Landesstreik an die Durchsetzung einer stärkeren Kontrolle im Apparat. Gerade auf mittlerer Stufe befanden sich oftmals kommunistische Sekretäre, die während der Kampfphase durch die enge Anbindung an die Basis noch geschützt waren. Im Zuge des Beitritts der JungsozialistInnen zur Kommunistischen Partei 1921 und der Erstarkung der Arbeiterunionen und kommunistischen Gewerkschaftsfraktionen säuberten der SMUV und der SGB ihre Reihen durch Ausschlussverfahren gegen KommunistInnen.


Doppelstrategie: Sieg im Abstimmungskampf

Für die Ausweitung der Arbeitszeit wandte die Bourgeoisie eine Doppelstrategie an. So verwickelte sie die Gewerkschaften in einen parlamentarischen Abstimmungskampf, der jedoch nur als Ablenkungsmanöver fungierte. So wurde mit der Motion Abt und der Einführung des Lex Schulthess die gesetzliche Wiedereinführung einer auf drei Jahre befristeten 54-Stunden-Woche gefordert. Der eigentliche Angriff sollte aber auf betrieblicher Ebene ablaufen. Im Fabrikgesetz bestand schon damals die Möglichkeit, beim Volkswirtschaftsdepartement eine Ausnahmebewilligung zur Arbeitszeitverlängerung für einzelne Betriebe zu beantragen. Um die 48-Stundenwoche ganz real auszuhöhlen, wurden solche Anträge koordiniert und geschlossen eingegeben und bewilligt. Die Rechnung ging für die Unternehmerverbände voll auf. Während die kommunistischen Kräfte im SGB und in der zuständigen Anti-Abt-Kommission einen realen Abwehrkampf in den Betrieben forderten, entschied sich die Mehrheit für den Vorschlag der Führung, sich voll und ganz auf ein Referendum gegen die Gesetzesänderung zu konzentrieren. Auf dieser politischen Ebene erreichten die Gewerkschaften und linken Parteien tatsächlich Rekordergebnisse sowohl für das Referendum als auch für die Abstimmung. Am 17. Februar 1924 wurde die Lex Schulthess mit 77% verworfen.


Niederlage im Betrieb

Während sich die Gewerkschaften ihre Energie also in die Verhinderung der gesetzlichen 54-Stundenwoche per Abstimmung gesteckt hatte, wurde diese Arbeitszeitausdehnung in der Betrieben real schon längst umgesetzt. Tatsächlich konnte die 48-Stundenwoche nur gerade dort noch erhalten werden, wo sich die Arbeiter per Streik gewehrt hatten, so bei den Litho- und Typographen.

Dieser Konflikt um die richtige gewerkschaftliche Strategie nahm vor allem auch im SMUV klare Formen an. Noch vor der Abstimmung regte sich bei den MetallarbeiterInnen in Schaffhausen bei Georg Fischer, in Winterthur bei Sulzer, bei Jäggli und bei Rieter Unmut gegenüber den Ausnahmebewilligungen. Die SMUV-Führung konnte die Belegschaften jeweils überzeugen aus abstimmungstechnischen Gründen auf Widerstand zu verzichten. Dies zeigt zum Einen, wie stark die Führung den betrieblichen Kampf dem parlamentarischen Abstimmungskampf schon untergeordnet hatte. So kommt Ilg auch zur naiven und fatalen Einschätzung: "Mit Streiks sollte man da vorläufig nicht operieren, weil es ausgeschlossen ist, dass der Bundesrat auf die Dauer 52 Stunden bewilligen kann". Zum Anderen zeigt die Situation aber auch, dass die ArbeiterInnenbewegung und die Gewerkschaftsbewegung in der Krise schon soweit an Gegenmacht eingebüsst hatten, dass sie einer solchen Führung auch keine effektive Alternative entgegensetzen konnte.


Which Side Are You On?

Erst mit dem Erfolg an der Urne konnte sich endlich eine spontane Streikwelle gegen die Ausnahmebewilligungen entfesseln. Bis Ende April kam es zu Streiks in Aarau, Baden, Winterthur und Schaffhausen. Ilg als gesamtschweizerischer Leiter unterschätzte die Stärke der Bewegung und liess so die kämpferischen Funktionäre in den SMUV-Sektionen anfänglich durchaus gewähren. Bei einem Erfolg der Streiks hätte er sich dies auf die Fahne schreiben können und bei Misserfolg wäre das Risiko den Sektionen überlassen worden.

Eine solche lasche Haltung der SMUV-Führung konnte der Arbeitgeberverband ASM jedoch nicht akzeptieren. Sie erkannten: "Die Einzelbewilligungen geben den Gewerkschaften immer erneute Gelegenheit zur Agitation". Der effektive betriebliche Widerstand und sein Potential zur Ausdehnung erforderte eine neue Unternehmer-Strategie. Die SMUV-Führung musste zu einer stärkeren Positionierung als Ordnungsmacht gezwungen werden. So hob der ASM - nach dem politischen Abstimmungskampf - auch den betrieblichen Kampf auf die nationale Ebene und damit in den Zuständigkeitsbereich der SMUV-Leitung, indem er ein allgemeines Bewilligungsgesuch für alle schweizerischen Industriebetriebe stellte. Auch diese Strategie ging auf. Am 26. Mai willigte die SMUV-Führung gegenüber dem Volkwirtschaftsdepartement und dem ASM auf die massenweisen Einführung der 52-Stundenwoche ein und versprach die bedingungslose Wiederaufnahme der Arbeit in den Sektionen. Sie waren getrieben von der Unterschätzung der Kampfbereitschaft und der Angst vor dem finanziellen Risiko, vor allem aber hatte sie die Perspektive des ASM übernommen. So sei die Verlängerung der Arbeitswoche nötig, um eine Produktionsverlagerung zu verhindern. In seiner Funktion als Verwalterin der schweizerischen Ware Arbeitskraft übernahm die SMUV-Führung also die Argumentation der Unternehmer. Noch konnte diese Haltung nicht konsequent gegen kämpferische und kommunistische Funktionäre in den Regionen durchgedrückt werden. Diese kritisierten noch die Orientierung an Geld- statt an Machtfragen und forderte die Ausdehnung der Streikbewegung. Zwar mag diese Argumentation die effektive Kampfstärke überschätzt und eine Gefährdung der Gewerkschaftsstrukturen riskiert haben, sie setzte aber auf die wirkliche Grundlage der Gegenmacht - nämlich den überbetrieblichen Streik - und führte den politischen Kampf um die 48-Stundenwoche konsequent weiter. Während sich die Ordnungsmacht in Baden und Winterthur direkt durchsetzten konnte, hatte sich die Dynamik in Schaffhausen verselbständigt. So riefen die dortigen kommunistischen SMUV-Sekretäre zur Ausdehnung des laufenden Streiks bei Rauschenbach auf die Georg-Fischer-Fabrik auf. Und tatsächlich traten dort 2.000 ArbeiterInnen in den Streik, zur Überraschung vieler, denn die Belegschaft gehörte mehrheitlich nicht dem traditionellen Gewerkschaftsmilieu an und der Organisierungsgrad war deshalb auch sehr tief. Und auch in der Bevölkerung stoss der Streik auf breite Solidarität. So musste Ilg höchstpersönlich die Streikenden in Schaffhausen besuchen. Vom "Empfang" am Bahnhof über die vierstündige Sitzung mit der Streikleitung bis zu seiner Abfahrt musste er sich Beschimpfungen anhören. In einer Abstimmung wurde das Abkommen mit dem ASM verworfen, es sollte weiter gestreikt werden. Aber in dieser politisch zugespitzten Situation und Isolation war es trotz regionaler Stärke unrealistisch, einen Erfolg zu erstreiken, weshalb am nächsten Tag der Kampf eingestellt wurde. Dies zeigt, dass sich die Ordnungsmacht des SMUV nicht nur direkt als Befehl und nicht nur gegenüber ihren Mitgliedern durchgesetzt hatte. Die Drohung, die Solidarität zu entziehen und eine Ausdehnung des Streiks auf andere Betriebe zu verhindern, wirkte auch auf die Nicht-Organisierten. Auch wenn die Gewerkschaften damals nur einen kleinen aber relevanten Teil der ArbeiterInnenklasse organisierten und kontrollierten, konnten sie ihre Ordnungsfunktion dennoch auch auf andere Teile der Klasse ausüben.

Die Gewerkschaftsführung hatte also direkt nach dem Landesstreik erst das Bewusstsein über seine kapitalismusimmanente Funktion, aber noch nicht genügend Ordnungsmacht. Erst in den Kämpfen anfangs der 20er Jahre entwickelten sich auch entsprechende Gewerkschaftsstrukturen, die nun eine relative Kontrolle über die - relativ schwache - ArbeiterInnenbewegung erlaubten.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 75, dezember / januar 2013-14, Seite 9
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Februar 2014