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AUFBAU/445: Abtreibung - Auf den Wellen kultureller Verschiebungen


aufbau Nr. 83, Januar/Februar 2016
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Auf den Wellen kultureller Verschiebungen


ABTREIBUNG - Der Kampf um den legalen und kulturell selbstverständlichen Schwangerschaftsabbruch ist ein auf und ab im Kräfteverhältnis zwischen fortschrittlichen feministischen oder sozialistischen Bewegungen und reaktionären, religiösen Kräften verschiedenster Couleur. Die Anwesenheit von Sarah Diehl in Zürich, Expertin für Reproduktionsfragen und Frauenrechte, nutzten wir, um das Thema öffentlich zu diskutieren.


(fk) Es gibt kaum ein umstritteneres Thema, welches mit so viel Emotionalität, Desinformationen und Ideologien geführt wird wie der Schwangerschaftsabbruch. Das Thema betrifft eigentlich alle gesellschaftlich relevanten Bereiche wie Arbeit, Politik, Kultur, Medizin, Lebensformen, u.a. Dass es notwendig ist, das Thema wieder vermehrt auch in Ländern mit Fristenlösung zu diskutieren, zeigen die Debatten, die an den Veranstaltungen mit Sarah Diehl geführt wurden. Diese umfassten das Vorführen des Dokfilms "The Vessel" im Kino Xenix und eine Diskussionsrunde mit Sarah Diehl im Volkshaus, organisiert vom Bündnis für ein Selbstbestimmtes Leben (Sebü) und dem 8.-März-Frauenbündnis Zürich, von denen wir Teil sind.


The Vessel

Der eindrückliche Dokumentarfilm zeigt die Geschichte der Ärztin Rebecca Gompert und die Arbeit der Organisation 'Women on Waves', die die repressiven Abtreibungsgesetze der meisten Länder der Welt mit einem Schiff in internationalen Gewässern herausfordern, indem sie darauf den Frauen sichere Abtreibungen anbieten. Die geniale Idee kam Gompert, als sie als reguläre Schiffsärztin die verzweifelte Lage der Frauen in Ländern sah, in denen Abtreibung illegal ist. Das Projekt "Frauen auf Wellen" hat vielerorts Furore hervorgerufen, grossen Medienzulauf erhalten und wurde immer wieder von Regierungen und militärischen Blockaden behindert. Mittlerweile ist trotz allen Hindernissen ein verdecktes Netz aufgebaut, in welchem Aktivistinnen die selbstbestimmten Reproduktionsrechte der Frauen durchsetzen und den Frauen die Mittel in die eigenen Hände geben, um Abtreibungen durchzuführen. Die Frauen auf den Wellen haben sich zu einer weltweiten Bewegung ausgeweitet. Ihre Geschichte ermutigt Frauen, sich zu organisieren und wenn nötig Gesetze zu übertreten, die unsere Freiheit und Selbstbestimmung über unsere Körper drangsalieren.

Dazu muss man wissen, dass weltweit jedes Jahr 68 Millionen Frauen ungewollt schwanger werden, von denen 40 Mio. abtreiben. Jede dritte Frau nimmt einmal in ihrem Leben eine Abtreibung vor. In grossen Teilen Lateinamerikas, Asiens und Afrika sowie einigen europäischen Ländern ist Abtreibung illegalisiert, in den USA in einigen Staaten durch Sondergesetze erschwert. Dies bewirkt, dass die Sache zu einem gefährlichen Unterfangen wird, an dem jedes Jahr 48.000 Frauen sterben. Oder anders gesagt: alle 10 Minuten stirbt eine Frau an einem eigentlich sehr einfachen medizinischen Eingriff. Auch die Abtreibungspille erleichtert heutzutage einen Unterbruch der Schwangerschaft enorm.


Medizinisch stigmatisiertes Thema

Ausser in Skandinavien und den Niederlanden gehört der Schwangerschaftsabbruch in Europa nicht einmal zum Ausbildungsfeld der ÄrztInnen. Abtreibung wird so behandelt, wie wenn es nicht Teil der Frauengesundheit wäre. Selbst unter ÄrztInnen ist dieses Feld von Stigmatisierung und Marginalisierung betroffen. Auch in Ländern mit der Fristenlösung ist es medizinischem Personal erlaubt, Abbrüche aus ethischen Gründen zu verweigern. Dies passiert leider immer öfter, je länger die reaktionäre Phase anhält und je mehr ÄrztInnen der 1970er Generation in Pension gehen. Jene Generation hatte noch das Bewusstsein über die Bedeutung dieses Frauenrechts, da sie in der Zeit der Kämpfe darum involviert waren. Bei den heutigen ÄrztInnen ist dieses Bewusstsein teilweise verloren gegangen. In Italien beispielsweise verweigern mittlerweile 70% der ÄrztInnen die Abtreibung obwohl sie dort seit 1978 legal ist. Und auch die Pille danach ist dort schwer zu bekommen. Auf diese Weise geht auch mehr und mehr Wissen verloren, vor allem auch für Abtreibungen nach der 12. Schwangerschaftswoche. Es gibt Probleme, den Nachwuchs an ÄrztInnen zu reproduzieren. In Polen beispielsweise, wo Abtreibung seit längerem verboten ist, kennen die Ärzte die modernen Methoden nicht und machen noch die gefährlicheren Ausschabungen wie vor 20 Jahren.

Die fortschrittlichsten Abtreibungsgesetze finden wir in Kanada, Holland, Skandinavien u.a. Meist wird bis zur 24. Woche die Abtreibung durchgeführt, weshalb Frauen, die einen Abbruch benötigen und die es sich leisten können, von überall her in diese Länder reisen. Meist nach einer Odyssee in ihrem eigenen Land, weil sie niemanden finden konnten oder den kurzen legalen Zeitraum verpasst haben. Die 24. Woche ist der Zeitpunkt, an dem aus dem Embryo ein Wesen mit Bewusstsein und Schmerzempfinden zu wachsen beginnt. Bis zur 23. Woche ist der Fötus alleine nicht lebensfähig.


Kein Thema mehr, oder doch?

Seit das Thema in unseren Breitengraden nicht mehr gesamtgesellschaftlich umkämpft ist, bzw. die Fristenlösung durchgesetzt wurde, ist es eher still um das Thema geworden. So kommt es beispielsweise in Gender-Studies nicht vor. Das Thema ist sozusagen unter den Tisch gefallen, unter die modernen feministischen Themen wie Identität, Queer- und Transfragen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Sache selbstverständlich geworden wäre, im Gegenteil, es gibt je länger je weniger Bewusstsein über die Problematik. In den 70er und 80er Jahren war das Thema Selbstbestimmung über den eigenen Körper zentral. Der Körper der Frau und die Herrschaft darüber waren selbstverständlicher Teil der politischen Auseinandersetzungen in Frauen- und Klassenkämpfen. Jetzt mit der Fristenlösung (in der Schweiz seit 2002) hat sich zwar bereits etwas zum Guten verändert, es geht jedoch um weit mehr als das.

Die bürgerlich-patriarchale Moral hinterlässt bei den Frauen noch immer Schuldgefühle wenn es um Themen wie Sexualität, Muttersein, Kinderlosigkeit und generell ihren Körper geht. Frauen werden quasi über Schuldgefühle in ihrer weiblich-kulturellen Rolle konditioniert. Es wird ja bei allem die Schuld bei der Frau gesucht. Das fängt bei Eva und Adam an. Auch wenn frau schwanger wird, ist sie selber schuld, sie hätte besser aufpassen sollen. Sofort kommt der Vorwurf des Egoismus bei Abtreibung oder Kinderlosigkeit. Frau muss sich rechtfertigen und ist trotz Fristenlösungsgesetz mit dem Problem und ihren Schuldgefühlen allein, solange nicht gesellschaftlich-kulturelle Bedingungen verändert werden. Religiöse AbtreibungsgegnerInnen verschärfen die Situation kontinuierlich, indem geschickt mit Menschenrechten für den Embryo argumentiert wird und das Leben des Fötus über das Leben der Frau gestellt wird. Eine öffentliche Diskussion müsste wieder geführt werden, um diese Schuldgefühle aufzuheben, um die Selbstverständlichkeit darüber zu fördern, um eine Kultur der Sichtbarkeit herzustellen.


Selbstermächtigung

Es gäbe es also durchaus Handlungsbedarf. Für Frauen, die in Ländern ohne Abtreibungsrecht leben, gibt es ganz konkrete Projekte wie z.B. in Polen die Self-abortion-hotline in Zusammenarbeit mit woman help women und women on web. Diese Projekte werden in Freiwilligenarbeit von wenigen Frauen geleistet und zeigen, wie sich Frauen selbstermächtigen können. Die polnischen Frauen bieten damit nicht nur technische Lösungen an, die Sache wird darüber auch politisiert. Es werden Vorbilder geschaffen und frau kann aufzeigen, dass es andere kulturelle Werte wie Nation und Religion gibt.

Bei uns sind die feministischen Debatten wiederum akademisiert oder institutionalisiert und werden nicht auf die Strassen geholt. Es gibt mittlerweile wenige Frauenräume, in denen Frauen ihre Erfahrungen austauschen können, wie es ihnen auch subjektiv ergeht, ihre Wut über erniedrigende Abläufe, Trauer um den Verlust, Erleichterung, alles Mögliche an emotionalen Situationen austauschen - Kollektivität herstellen eben. Und darüber die Politisierung vorantreiben. Wir erachten es deshalb als wichtig, einerseits die öffentliche Diskussion wieder anzustossen und gesellschaftliche Akzeptanz zu fördern, anderseits unsere eigenen politischen und kollektiven Strukturen zu stärken und auch die "alten Themen" immer wieder zur Sprache zu bringen.


Bücher von Sarah Diehl zum Thema: Die Uhr, die nicht tickt: Kinderlos glücklich; Deproduktion: Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch im internationalen Kontext

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 83, Januar/Februar 2016, Seite 16
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2016

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