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AUFBAU/504: Vom Gemeindesozialismus und reformistischen Allianzen


aufbau Nr. 89, Mai/Juni 2017
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Vom Gemeindesozialismus und reformistischen Allianzen


WOHNEN Genossenschaftlicher Wohnungsbau gehört zu den Grundpfeilern einer sozialdemokratischen Stadtpolitik. Gerne werden Genossenschaften als Antwort auf Aufwertung und Verdrängung ins Feld geführt. Doch unter welchen Bedingungen entstanden Genossenschaften in Zürich? Was für eine Rolle übernehmen sie im heutigen Bauboom und können sie eine Perspektive bieten?


(az) Rückblende: Gründungsversammlung der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich (ABZ) 1916 im Restaurant Strauss an der Langstrasse. Es tobt der erste Weltkrieg, in Zürich steigen die Lebenshaltungskosten bis über die Schmerzgrenze. Der Burgfrieden der imperialistischen Kriegstreiber bröckelt. In den folgenden Jahren wird in Zürich eine beispiellose Wohnungsnot aus- und in ganz Europa revolutionäre Zeiten anbrechen. Gerade einmal eine Handvoll Personen treffen sich zur Gründung der allgemeinen Baugenossenschaft, die unabhängig vom Berufsstand zugängig sein soll. Die ABZ sollte später einmal die grösste Wohnbaugenossenschaft in Zürich werden. Die Genossenschaften sind damals ein neu entstehendes Rezept gegen die Wohnungsnot. Der Krieg hat die Baukosten explodieren lassen, der Baumarkt bricht ein und die Stadt Zürich lässt als Gegenmassnahme ab 1917 städtische Siedlungen bauen. Doch dies reicht bei Weitem nicht aus. Vor dem städtischen Wohnungsnachweis bilden sich täglich Trauben von wohnungssuchenden Menschen. Die Stadt ist 1918 gezwungen, Obdachlose in Turnhallen und requirierten Büroräumlichkeiten unterzubringen.

Die Genossenschaften sind zu dieser Zeit ein Instrument der Selbsthilfe gegen die Wohnungsnot. Der Bau von Genossenschaftswohnungen wird ab 1919 vom Bund gefördert, nachdem er ein Jahr zuvor noch unter Eindruck des heraufziehenden Landesstreiks eine Förderung abgelehnt hatte. Ab 1923 übernimmt die Stadt Zürich die Förderung selbst, nachdem sie ihre Finanzen durch eine rigorose Sparkur saniert hatte. Doch wieso fördern Stadt und Bund Wohnbauträger, die einen linken Anstrich haben? Die Antwort liegt sicherlich in der Notlage der damaligen Zeit, aber auch in der relativen Autonomie der lokalen Machtverhältnisse (Föderalismus). Unter dem Eindruck der katastrophalen Wohnsituation und der revolutionären Unruhen war die Bourgeoisie zu Zugeständnissen bereit - zur gleicher Zeit wurden auch der 8-Stunden Tag eingeführt oder die Armen- und Altenhilfe ausgebaut. Doch die Zugeständnisse werden auch mit dem Kalkül der integrierenden Wirkung genossenschaftlichen Wohnens gemacht und sind Teil einer lokalen Klassenallianz zwischen Sozialdemokratie und Bürgertum.

Von der Errungenschaft zur Herrschaftsstrategie

Die Boomzeit der Wohnbaugenossenschaften liegt in den 1920er und 1930er Jahren. In der Zeit des "Roten Zürichs" stellte die Sozialdemokratie sowohl im Gemeinderat (ab 1925) wie auch im Stadtrat (ab 1928) die absolute Mehrheit. Der Baumeister der sozialdemokratischen Wohnbaustrategie war Emil Klöti, der ab 1907 im Stadtrat wirkte und ab 1928 Stadtpräsident wurde. Unter seiner Führung arbeiteten sozialdemokratische und bürgerliche Politiker und Fachexperten im Alltag sachbezogen zusammen. Er schmiedete unter sozialdemokratischer Führung eine Klassenallianz, die auf kommunaler Ebene neben dem Wohnungsbau auch weitere soziale Institutionen wie die kommunale Altershilfe, die Arbeitslosenversicherung oder das Krankenkassen-Obligatorium einführte. Klöti knüpfte dabei natürlich nicht an revolutionäre Ideale an, sondern orientierte sich am pragmatisch verstandenen "Gemeindesozialismus", der schon in der Vorkriegszeit beim reformistischen Teil der damals noch vereinten sozialdemokratischen Partei beliebt war.

In der Zürcher Prägung dieses Konzepts ging es darum, Investitionen in die physische und soziale Infrastruktur zu tätigen und die im Zuge des genossenschaftlichen Booms und der Unruhen von 1918 erkämpften Vorteile zu sichern und auszubauen. Diese Stossrichtung ist auch heute Teil der reformistischen, sozialdemokratischen Stadtpolitik. Es gelang mit dieser Strategie, die Antagonismen zwischen den verschiedenen Klassen(-fraktionen) im Hinblick auf spezifische Entscheidungen und Themen wie Wohnbaupolitik oder soziale Sicherung temporär zu überwinden. Die lokalen Verhältnisse werden unter den Bedingungen der Konkurrenz von Städten gar zu Markenzeichen und Standortfaktoren und begünstigen Innovation, Investition und Konkurrenzfähigkeit. Soziale Errungenschaften ohne gesellschaftliche Perspektive sind folglich Teil einer kapitalistischen Regierungs- und Regulierungsstrategie.

Doch auch der reformistische Zugang kann die Grundwidersprüche nicht aufheben. Es gibt mehrere externe Faktoren, die die Aufrechterhaltung der lokalen Klassenallianz in Frage stellen. Einerseits stellt sich für alle Akteure, insbesondere aber für vergleichsweise mobile Kapitalfraktionen, auch heute die Option, die lokale Klassenallianz aufzukünden und an einem andern Ort zu investieren. Ein Phänomen, das besonders in Krisenzeiten oder bei Entwertungstendenzen auftritt und die ReformistInnen laufend zu kapitalfreundlicher Stadtpolitik zwingt. Die Basis von verhältnismässig fortschrittlicher Sozialpolitik im Kapitalismus ist immer noch eine erfolgreiche kapitalistische Wirtschaft. Ein weiterer Faktor, der bisherige Allianzen in Frage stellen kann, sind grössere Investitions-, De-Investitions- oder Migrationsbewegungen. Die Annahme liegt nahe, dass wir uns seit dem Finanzcrash von 2008 in einem Investitionszyklus befinden, der den reformistischen Status quo in der Stadt Zürich durch massive Investitionen in Frage stellt. In dieser Situation versucht die herrschende Klassenallianz nach bekannten Rezepten zu reagieren und wiederum die Genossenschaften als Rezept gegen Wohnungsnot und Verdrängung ins Feld zu führen. Können die Genossenschaften also abermals Teil einer temporären Lösung für sich verschärfende Widersprüche sein?

Noch sozial, aber nicht sozialistisch

Heute sind die Genossenschaften in Baulaune. In Friesenberg und in Altstetten werden in den nächsten fünf Jahren grössere Neubauten mit hunderten Wohnungen realisiert. In Schwamendingen wird praktisch der gesamte genossenschaftliche Wohnungsbestand von an die 2000 Wohnungen mit Ersatzneubauten erneuert. Die Genossenschaften reagieren damit auf die Wohnungsnot in Zürich und nehmen das Credo der "Verdichtung" auf. Sie schreiben sich auf die Fahne: Wir vertreiben nicht. In der Tat fällt auf, dass sich Genossenschaften, die renovieren, um Ersatzlösungen bemühen. Wenn renoviert wird, erhalten GenossenschafterInnen Ersatzangebote. So weit, so gut. Doch auch wenn Genossenschaften renovieren steigt der Mietzins. Es geschieht dies zwar auf einem tiefen Preisniveau, doch auch hier sind Erhöhungen bis zu Verdoppelungen der Miete spürbar. Wenn eine 3-Zimmer Wohnung vor dem Neubau unter 900 Fr. kostete, so wird die Wohnung in einem Neubau ab 1600 Fr. vermietet. Das mag im Stadtzürcher Vergleich noch immer preisgünstig sein, doch dies dürfte für einkommensschwache Personen eine entscheidende Hürde darstellen. Die subventionierten Wohnungen können das abbremsen, aber nicht aufheben. Auch Genossenschaften bauen nach dem Rezept der sozialen Durchmischung. Während alte Genossenschaftssiedlungen von den Wohnungsgrundrissen relativ einheitlich und bescheiden gestaltet wurden, variieren die Wohnungsgrundrisse heute stärker. Das führt bei Neubauten dazu, dass vermehrt nach Bedürfnissen von gutqualifizierten Personen mit sozialem Anspruch gebaut wird. Auch die Entscheidung, ob renoviert oder ein Ersatzneubau angestrebt wird, misst sich an wirtschaftlichen Kriterien, die von professionellen Geschäftsstellen der Genossenschaften erhoben werden.

Damit soll nicht gesagt werden, dass Genossenschaften nicht vergleichsweise günstigen Wohnraum zur Verfügung stellen oder gar treibende Akteure in Verdrängungsprozessen seien. Doch sie zeigen die Verstrickung in reale wirtschaftliche und politische Machtverhältnisse. Wenn die Generalversammlung einer Genossenschaft über Umbaupläne entscheiden muss, dann befindet sie sich in der Situation, über Prozesse zu entscheiden, die den Sachzwängen des Kapitalismus unterworfen sind. Unter diesen Umständen lassen sich keine Ideale verwirklichen oder gar gesellschaftliche Perspektiven entwickeln. In kritischen Entscheidungsprozessen wird das kleinere Übel gewählt.

Wenn also Genossenschaften von sozialdemokratischer Seite als Antwort gegen Aufwertung und Verdrängung ins Feld geführt werden, ist das der Versuch, mit gängigen Rezepten in einem veränderten Umfeld den eigenen sozialen Ansprüchen und Versprechen nachzurennen. Die reformistischen Parteien befinden sich in der Lage, dass die Wirtschaft- und Standortpolitik die sie in der Allianz mit Wirtschaft und Bürgertum selbst erfolgreich über Jahrzehnte betrieben haben, sich nun unter dem Investitionsdruck gegen ihre sozialen Ansprüche wendet. Im aktuellen Umfeld wirken Genossenschaften höchstens abfedernd, doch eine Perspektive gegen Aufwertung und Verdrängung lässt sich daraus nicht entwickeln. Es zeigt sich auch, dass es für die Sozialdemokratie schwieriger geworden ist, die geschmiedete bürgerliche Allianz aufrechtzuerhalten. Das sollten revolutionäre Kräfte gerade in der Sozial- und Stadtpolitik nutzen.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 89, Mai/Juni 2017, Seite 12
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2017

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