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CORREOS/099: Entwicklungskolonialismus II


Correos des las Américas - Nr. 161, 14. April 2010

Entwicklungskolonialismus II
Schlägt ein «linker» Kapitalismus in Haiti zu? Aktuelles zur «Wiederaufbauhilfe».

Von Dieter Drüssel


Wie soll Hilfe für Haiti aussehen? So:

«Individuelle Privatinvestoren sollen sich untereinander koordinieren. Das wäre keine neue Strategie: Im 19. Jahrhundert wurde der Amerikanische Westen nicht in einem Prozess gradueller Verbreitung entwickelt, sondern in Spasmen lokaler Investitionsbooms, die von enthusiastischen Outsiders finanziert wurden. Das WEF in Davos stellt eine Gelegenheit für Unternehmen wie internationale Modemarken oder Hotel- und Kaffeeketten dar, die in Haiti investieren könnten, um sich mit Unternehmen zu koordinieren, die Logistik und Marktservices anbieten» (NYT, 29.1.10, Paul Collier, Jean-Louis Warnholz: Building Haitis' Economy, One Mango at a Time).

Bill Clinton habe Vorarbeit geleistet und schon vor dem Beben Hotelketten ins Land gelockt.

Modehilfe für Haiti, der Vernichtungskrieg gegen die nordamerikanischen Völker, das WEF und das über die Clusterkonzeption transportierte Kommando für rationalisierten Sozialangriff - die beiden Autoren schaffen es tatsächlich, all das in wenigen Zeilen zusammenzubringen. Der eine schrieb den imperialistischen Mächten ihr Drehbuch für die Haiti-«Geberkonferenz» von Ende März in New York, der andere figurierte letztes Jahr als Wirtschaftsberater des haitischen Präsidenten. Die vom State Department dominierte Konferenz - auch als «Bill-und-Hillary-Show» apostrophiert - orientierte sich an einem Strategiepapier, das vor allem internationale EntwicklungstechnokratInnen für die haitische Regierung verfasst haben. Der darauf basierende «Action Plan» (haiticonference.org) bleibt vage, dennoch sind die Punkte klar erkennbar, die von Collier u. a. nach Vorgaben der interessierten Kapitalgruppen vorformuliert worden sind. Von den New Yorker Zahlungsversprechen von $5.3 Mrd. für die nächsten anderthalb Jahre kommt erfahrungsgemäss nur ein kleiner Teil überhaupt zur Auszahlung (interessant allerdings, dass ALBA mit $2.4 Mrd. Hilfeversprechen vor der EU mit $1.6 und den USA mit 1.15 Mrd. liegt - und dies mit Aussicht auf ein eingehaltenes Wort.)

Bill Clinton fungiert jetzt auch als Koordinator der am «Gebertreffen» formalisierten «Interim Haiti Commission for the Reconstruction» (IHCR) (zusammen mit dem haitischen Premier Jean-Max Bellerive). Was von ihm droht, macht er deutlich, wenn er das «Potenzial für Veränderung in Haiti mit jenem in der Lower Ninth Ward in New Orleans» vergleicht, «wo die Zerstörung durch Hurrikan Katrina ein Katalysator für den Bau von besseren, ökologisch gesunden Häusern war», wie die New York Times wiedergibt (31.1.10). Der Bezirk steht heute, seiner früheren schwarzen Unterklasse fast völlig «entledigt», den Developpers eines exklusiven Entertainment-New Orleans zur Verfügung.


Von Menschengewimmel und Strandpromenaden

Die von Clinton und Bellerive geleitete Interim Haiti Commission for the Reconstruction (IHCR) entscheidet über die Geldervergabe für «Wiederaufbau»-Projekte in den nächsten 18 Monaten. Sie besteht rund zur Hälfte aus haitischem Personal, vorwiegend aus der Regierung, und zur anderen aus solchem der grossen Gebern - bis dato die USA, die EU, die Weltbank, die UNO, Kanada, Brasilien, Venezuela, Spanien, Frankreich. Die «internationale Gemeinschaft» hat somit quasi offiziell die Leitung der haitischen Geschicke übernommen. Vorarbeiten für den Action Plan zusammenfassend, schreibt die Washington Post:

«Planentwürfe sehen eine Dezentralisierung der Regierung, der Bevölkerung und der Industrie weg von einer verwüsteten, wimmelnden Stadt auf das ökologisch degradierte Land vor, das, wie der Plan sagt, neu erblühen kann mit Bewässerungssystemen, betrieben mit Sonnenenergie, Mangoverarbeitungsfabriken - und Blumenfarmen, die frisch geschnittene Bouquets mit dem Cargo Jet nach Montreal, Miami und New York fliegen ... Der Plan schlägt ein social engineering auf hoher Stufe vor... Die Plan-AutorInnen stellen sich vor, eine überbevölkerte, disfunktionale Hauptstadt in ein wiederbelebtes und kleineres urbanes Zentrum mit Abwasseranlagen und grünen Zonen zu transformieren, die einige der stinkenden Slums ersetzen. Sie denken an Strandpromenaden mit Velowegen» (WP, 10.3.10).

Statt einer «stinkenden» Stadt ein wiederbelebtes urbanes Paradies für Besserverdienende - die Parallelen zu den Postkatrina-Plänen in New Orleans mit ihren sozialrassistischen Vertreibungsstrategien liegen auf der Hand. Die dazu notwendige Repression hat die Geberkonferenz von Ende März offenbar kaum angesprochen, dafür aber ein Vorbereitungstreffen in Miami von Anfang März mit massiver Beteiligung von privaten «Sicherheits»-Agenturen. Dort sagte ein Derell Griffith von Sabre International, einem dieser Unternehmen, mit Blick auf die weitgehend ausgebliebene Hilfe: «Es wird nicht lange gehen, bis es zu sozialen Unruhen kommt» (WP, 11.3.10).


Schnittblumen und Bevölkerungstransfers

Insgesamt sieht der Action Plan eine nationale Raumplanung mit mehreren urbanen Zentren vor, vor allem St.-Marc, Cap Haïtien und Les Cayes, angebunden selbstverständlich an «Freie Produktionszonen». Unpräzisiert bleibt, wie der Bevölkerungstransfer erreicht werden soll. Zwar ist immer wieder von einer Viertel bis einer halben Million von BewohnerInnen der Hauptstadt (Total vor dem Beben: ca. 3 Mio.) die Rede, die nach dem Erdbeben aufs Land geflüchtet seien. Doch Konkretes von ihnen scheint man nicht zu wissen. Während die «Regierungsmacher» gleich nach dem 12. Januar «grandiose» Pläne von neuen Städten ausserhalb des bisherigen Port-au-Prince ventilierten, scheinen sie jetzt, einzelnen Medienberichten zufolge, davon abgekommen zu sein. Neu sollen Überlebende so nahe wie möglich an ihren bisherigen Häuser zurückkehren können. «'Die Strategie hat sich geändert', sagt Gérard Brun, Mitinhaber von Haitis grösstem Bauunternehmer und Mitglied der Regierungskommission für den Wiederaufbau» (Wall Street Journal, 26.2.10). Wie das mit der gewaltigen Bevölkerungsdezentralisierung, die der Plan anstrebt, zusammengeht, ist unklar. Jedenfalls sind einem Bericht des Journals vom 10.3.10 zufolge US-Militäringenieure daran, Haus für Haus in der Hauptstadt auf seine Bewohnbarkeit abzuklären. Das in Sachen Wiederaufbau berüchtigte Army Corps of Engineers hat etwa in New Orleans mit willkürlichen Gefährdungskritereien die «sozialsäubernden» Stadtplanungen wesentlich mit ermöglicht.

Eine Dezentralisierung ist natürlich keine schlechte Sache per se. Die Frage ist, wer sie entscheidet, wie sie durchgezogen wird. Ist es die Bevölkerung oder ist es Coca Cola, die $7.5 Mio. in eine Mango-Plantage und -Verarbeitung zu investieren will (WP, 1.4.10)? Und was bewegte US-Aussenministerin Hillary Clinton zur Warnung an der «Geberkonferenz», dass bei «unkoordinierter» Hilfe «die Probleme, die Haiti während Jahren geplagt haben, sich mit regionalen und globalen Konsequenzen entladen könnten» (WP, 1.4.10)?

Modemarken, Schnittblumen aus Haiti; Mangoplantagen und ihre privatisierte Wasserversorgung für Coca Cola; der Privatisierungsangriff auf die (noch) staatliche Telekomgesellschaft Téléco, wie ihn der US-Konzern Trilogy gerade startet; Bill Clintons Begeisterung für ein bald «drahtloses» Haiti, wie es auch der irische Telekom-Multi Digicel anstrebt (der in Honduras aktiv den Putsch unterstützt hat); der Bau von zwei neuen internationalen Flughäfen und zwei Tiefseehäfen für den Handel, selbstredend in public-private partnerships; der monotone Chor im internationalen Mainstream für Colliers «Visionen» - die Zeichen sind eindeutig.


Soziale Rebellion oder Irrlicht

Unterdessen hat sich in Haiti die Regenzeit schon angekündigt, eine Million Überlebende sind allein in Port-au-Prince in einer verzweifelten Lage - viele von ihnen drohen bei durch Regenfälle ausgelösten Erdrutschen zu sterben. Laut Berichten von ÄrztInnen droht in den Camps jetzt eine extrem gefährliche Durchfallepidemie vor allem bei Kindern. Es ist für uns leider fast unmöglich, von aussen an authentische Berichte über die Dynamik im Volk zu gelangen. Die «offiziellen linken» Stimmen aus Haiti wie etwa jene des NGO-Büros PAPDA» befleissigen sich zwar des Vokabulars der Weltsozialforen, haben sich aber mit ihrer von den imperialistischen Botschaften und NGOs finanziell alimentierten Parteinahme für den zum «Volksaufstand» verklärten Putsch gegen Aristide 2004 diskreditiert. Ähnlich die «linksradikalen Gewerkschaft» Batay Ouvriye (BO), die, seit sie von der brasilianischen trotzkistischen Conlutas umarmt wird, auch hierzulande in einigen linken Kreisen als Referenz gilt. BO wusste zur Zeit von Putsch und Invasion 2003/2004 nur das Hohelied des Kampfes gegen Aristide zu singen. Als danach Antiprivatisierungsgewerkschaften wie jene bei Téléco (von BO als «lavalistische» Mafia bezeichnet) untertauchen mussten, konnte die «wahre» Klassenorganisation eine US-Solidelegation im ruhigen Lokal der gehobenen Klasse empfangen, unbehelligt von den Bütteln der «Interimsdiktatur». Später musste die Gruppe nach jeweiligem wütenden Ableugnen schrittweise zugeben, von Organisationen des State Departments Zahlungen bis in den sechsstelligen Bereich erhalten zu haben. Auch bei einer persönlichen Begegnung bestritt eine der beiden Führungspersonen der Organisation (ein Ehepaar) diesen Sachverhalt nicht.

Offenbar folgt die soziale Rebellion nicht dem Schema FF. Wir tun gut darauf, aufmerksam zu sein. Um so mehr, als heute selbst ein Bill Clinton «links» daherkommt. Im März bezeichnete er es als schweren Fehler, in Haiti die Zerstörung der lokalen Reisproduktion per Handelsliberalisierung durchgedrückt zu haben (Democracy Now, 1.4.10). Ist der Freihandelpräsident par excellence vom Saulus zum Paulus geworden? Pustekuchen! Dahinter steckt eher eine neue Agrarentwicklungsstrategie, welche die klassische neoliberale Façon ablöst: grosskapitalistische Agrarproduktion auch für den Markt im jeweiligen Standortland. Das geht von der Mangoplantage für Coca Cola und demnächst wohl dem Zuckerrohr für brasilianisches Ethanol bis eben zum Nahrungsmittel für den kaufkräftigen Teil der jeweiligen «Standortbevölkerung».


Militarisierung

Das Ausmass der US-Militarisierung nach dem Beben lässt Fragen offen. Für eine Verhinderung der Emigration brauchte es kaum 22.000 Truppen (zusätzlich zu der auf 7032 SoldatInnen und 2055 erhöhten Zahl der von Brasilien geleiteten UNO-Mission Minustah) und einen Flugzeugträger samt einer Flotte von hoch entwickelten Kriegsschiffen. Auch die Repression von eventuellen Revolten allein kann diesen Aufmarsch wohl nicht erklären. Übung? Bürokratieselbstlauf? Teil einer auch militärischen Destabilisierungsstrategie gegen ALBA-Länder (Kuba in unmittelbarer Nachbarschaft, Venezuela nicht weit weg)? Die Militärpostille Stars & Stripes steuerte die Info bei, Haiti sei für Teile der dorthin entsandten Einheiten Übungsterrain für den Einsatz in Afghanistan gewesen (15.3.10: Marines in Haiti training for Afghanistan). Tatsache bleibt: Mit der Besetzung Haitis inklusive des Flughafens haben die US-Militärs die gerade angelaufene effektive internationale Hilfe (Venezuela!) sabotiert, die allfällige franzöische Kolonialkonkurrenz relegiert und die Weichen für das heutige Szenario gestellt. Laut Angaben des US-Southcom sind heute nur noch wenige tausend Truppen in Haiti, aktiv im Bereich Verlegung von Flüchtlingscamps.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 161, 14. April 2010, S. 28-29
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2010