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CORREOS/132: Nicaragua - Ein Land im Notstand


Correos des las Américas - Nr. 166, 16. Juni 2011

Ein Land im Notstand

Von Manuela Cattaneo


Ein Reisebericht der Sekretärin von AMCA, der engagierte Tessiner Associazione di aiuto medico al Centro America. AMCA ist seit Jahren auf dem Gebiet der medizinischen Hilfe speziell in Nicaragua tätig. Die Autorin beschreibt Projekte, die eine Vorstellung von der Breite der Solidarität geben, und stellt diese in den Kontext unabdingbarer politischer Entscheidungen für eine andere Entwicklung als jene des grassierenden Konsumismus.


Trincheras de ideas valen más que trincheras de piedras.
Schützengräben aus Ideen sind wertvoller als Schützengräben aus Stein.
José Martí


Die Reise dieses Jahr nach Nicaragua erwies sich plötzlich als dicht gefüllt mit Treffen und Terminen. In einem Nicaragua, in dem immer noch die Weihnachtsbäume funkeln, die man gelassen hat, um die Rondelle auch drei Monate nach dem Fest zu verzieren, ging es uns darum, möglichst schnell ein neues Projekt zu bestimmen. Eine sofort angenommene Herausforderung - sie führte dazu, dass neben der Schreibenden auch Maria Letizia Caccamo und Rossano Rezzonico, beide NeonatologInnen, die Reise antraten.


Mamma-Kängurus und Papa-Kängurus

Um die Entwicklung dieses neuen Projektes von AMCA mitzuverfolgen, sollten wir einige Monate, vielleicht besser einige Jahre in die Vergangenheit zurückschauen. Seit 2002 hat sich AMCA voll für das Sammeln von Geld für die Verbesserung der Abteilung für Neugeburten des Spitals Bertha Calderón in Managua engagiert. Das Spital Calderón ist eine nationale Referenz für Gynäkologie, Geburtshilfe und Schwangerschaftskrankheiten. Wir sahen gleich, dass eine simple Restrukturierung oder der Kauf von Medikamenten für die kleinen PatientInnen der Abteilung nicht genügen würde; es entstand der Vorschlag einer "Revolution" oder Innovation. Die Sterberate in der Neonatologie war sehr hoch, zur Verfügung standen wenige Mittel, das Spital war baufällig. Die erste Operation bestand in der Trennung der gesunden von den kranken Kindern; der Bau eines Abteilungsflügels für Kleinkinder mit Untergewicht ohne spezielle Pathologien hat den Kleinen die durchgehende Präsenz ihrer Mütter und so die für die Gewichtzunahme fundamentale Ernährung mit Muttermilch und die Einführung des Programms Mama-Känguru ermöglicht. Das Programm hat soviel Erfolg gehabt, dass es jetzt auch Papa-Kängurus gibt. In dem im Bertha entstandenen, seither international bekannten Modell Mama-Känguru bleibt das Kleine den ganzen Tag in Kontakt mit der Haut der Mutter. Dies hilft vor allem bei Kinder mit Untergewicht bei der Geburt und bei Frühgeburten. Sie erholen sich so und nehmen an Gewicht zu. Die Resultate sind sehr gut.

Mit der Arbeit auf der Intensivstation ist AMCA und ihren BeraterInnen auch die Notwendigkeit bewusst geworden, in der neonatalen Intensivtherapie zu intervenieren. Die Interventionsstrategie zielte auf die "Prävention und Reduktion der Sterblichkeit und der mit vorzeitiger Geburt und Intensivbehandlung verbundenen Komplikationen". So begann 2005 die erste Phase im Ausbildungsbereich - dieses schwierigen Projektes: Kurse für neonatale Reanimation, Beatmungsventilierung, Schmerzbehandlung und Infektionsprävention.


Beflügelnder Erfolg

Die 2006 begonnene nächste Phase, die auch am meisten abverlangte, wurde mit den lokalen Ärzten abgesprochen und setzte einen entschiedenen Wechsel der Beatmungsstrategie mittels des NCAP (nasal Continous Positive Airway Pressure) und eine Verminderung der Fälle von mechanischer Ventilierung von Neugeborenen in den Brutkästen voraus. Die nCAP-Ventilierung ist weniger invasiv und schmerzhaft als die mechanische und speziell für Babies geeignet.

2010 hat AMCA die Projektauswertung gemacht. Dazu wurden unter Mitarbeit der Epidemiologen des Istituto Mario Negri die Sterblichkeitsdaten bei intensiver neonataler Therapie 2006 (vor Projektbeginn) und 2008 (2 Jahre nach Projektbeginn) gesammelt und ausgewertet. Die Resultate überraschen: In nur zwei Jahren wurde die Zahl der mechanisch ventilierten Neugeborenen halbiert und, noch begeisternder, die Sterblichkeit der Neugeborenen mit Ventilierungshilfe ist um fast die Hälfte zurückgegangen, von 41.05 Prozent 2006 auf 23.51 Prozent 2008.

Diese ermutigenden Zahlen haben uns zum Versuch motiviert, sie auf die ganze Nation auszuweiten, wo der Notstand der Neugeborenen- und Kindersterblichkeit eine der dringendsten Prioritäten für das Land darstellt. Hier wird in naher Zukunft ein neues AMCA-Projekt Fuss fassen: "Reduktion der Sterblichkeit und der neonatalen neurologischen Verletzung mittels der Vernetzung der wichtigsten Geburtsorte in Nicaragua". Es handelt sich um die logische und unabdingbare Ergänzung des Notfallnetzes des Kindes in ganz Nicaragua, das von Geburt an durch die ganze pädiatrische Phase betreut wird.

Nachdem wir die erste Woche damit verbracht haben, die für die Formulierung und Organisierung des neuen Projektes unerlässlichen Elemente zu sammeln, schlossen sich uns zwei teure Freunde an, Eliana und Fabrizio Giacomini. Mit ihnen und ihren Foto- und TV-Kameras machten wir eine Rundreise durch all unsere Projekte, um festzuhalten, was AMCA dank der PatInnen und aller grossen und kleinen SpenderInnen bewirkt. Und auch dank der VolontärInnen von AMCA; wir trafen in Managua Andrea Sartori, Zivildienstler, der in der Verwaltung des Centro Barrilete arbeitet; Leda Bucher in der Bibliothek; Federico Peter, Zivi, Arzt in der Kardiologie im Spital La Mascota und Willy Huy Lam, Zivildienstler, im Bereich der Sterilisierung. Demnächst kommen Elena Scozzari ins Centro Barrilete und Stefania Daguet in die Krebsabteilung des Bertha Calderón.

Das Schulzentrum Barrilete de Colores zählt derzeit 341 in die Schule eingeschriebene Kinder, von denen 237 auch für die Aktivitäten des Nachmittages bleiben. Das Ambiente ist wie stets an den Kinderorten gefüllt mit Energie und Lachen, voller Farben, Gesänge und Spiele. Das Barrilete ist in diesen Jahren stark gewachsen und hat seine Stabilität gefunden. Im Spital La Mascota funktioniert die Kinderonkologieabteilung auf vollen Touren. Das Tagesambulatorium ist stets randvoll mit Müttern und ihren Kindern, die auf die Chemotherapie warten; die Spitalschule hat die definitive Unterstützung des Erziehungsministeriums gewonnen und ist somit einer öffentlichen Schule in allen Dingen gleichgestellt. Diese Lösung erlaubt den Kindern, hier zur Schule gehen und während ihrer Krankheit keine wertvolle Schulzeit zu verlieren. Es sind immer mehr Kinder, die gleich nach ihrer Rückkehr nach Hause wieder in die alte Klasse zurückkehren.


Die Silhouette der neuen Kathedrale

Die Reise führt uns alle, Mitglieder von AMCA und begleitende FreundInnen, dazu, die historischen Sehenswürdigkeiten von Managua zu besuchen. Sie liegen nicht auf meiner üblichen Route, normalerweise sehe ich die Statue von Sandino am Rand der Laguna von Tiscapa oder die Türme der alten Kathedrale nur von ferne. Aus der Nähe ist Managua eine vielseitige Stadt; Zonen der Marginalisierung und der oft noch entsetzlichen Bedingungen sind umrandet von "modernen" Strassen wie der Carretera Masaya mit ihren Grossbildschirmen, in welchen Boxkämpfe und Werbung zu sehen ist. Am seltsamen Horizont dieser seltsamen Stadt sehen wir die Silhouette der neuen Kathedrale, Symbol eines unangebrachten Modernismus in einem Land, das keine gefährlichen Fluchten nach vorne braucht, sondern dank klareren und angemesseneren politischen Entscheiden die Rettung nach langen Jahren nicht stattfindender Entwicklung. Massnahmen für eine Entwicklung nach Mass der Menschen, ihres Alltages - Arbeit, Familie, Zugang zu Gesundheit und Erziehung, die nicht bloss als Slogans oder als Privileg weniger dienen. Das Spiel mit Glitzer und Tand funktioniert jedoch leider auch hier und der Hang zum Konsum ist abnorm. Das soziale und ökonomische Missverhältnis, das Nicaragua auf die untersten Ränge in den regionalen Statistiken relegiert und die Mehrheit der Bevölkerung weit unter die Armutsgrenzen drückt, wird ausgeweitet. Gleichzeitig schafft der Konsumismus Erwartungen in Sachen Lebensqualität, die mitnichten zur Entwicklung des Landes beitragen werden, da sie sterile Reflexe von Gütern und Dienstleistungen sind, deren Produktion gewiss nicht vom Land kontrolliert wird.

Werden diese grundsätzlichen Entscheide, seien sie wirtschaftlicher oder politischer Natur im weiten Sinne, hinaus geschoben, riskiert das Land, noch für lange Zeit unter der Schwelle einer wahren Entwicklung zu verbleiben. Natürlich kann AMCA hier gewiss nicht direkt intervenieren, aber sie versucht mit ihren Projekten, lebbare und nachhaltige Alternativen zu schaffen, die helfen können, den Notständen zu begegnen, und die gleichzeitig "Eigentum" des Landes und seines soziosanitären Systems werden und so Arbeitsplätze und die Basis für eine gesunde technologische Entwicklung schaffen.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 166, 16. Juni 2011, S. 17-18
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
Tel.: 0041-(0)44/271 57 30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2011