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CORREOS/154: El Salvador - Vorbereitungen für einen technischen Putsch


Correos des las Américas - Nr. 170, 26. Juni 2012

EL SALVADOR
Chaos grinst um die Ecke
Vorbereitungen für einen technischen Putsch: Der Unternehmerverband, das Oberste Gericht und die zertifizierte Zivilgesellschaft tanzen im Yankee-Rhythm.

von Dieter Drüssel



Je ein Drittel der Mitglieder der Kammern des Obersten Gerichts (Corte Suprema de Justicia, CSJ) werden alle drei Jahre vom Parlament für eine Amtszeit von 9 Jahren auf der Basis eines Auswahlvorschlages aus dem Justizwesen gewählt. Das Parlament wird alle drei Jahre gewählt. Logisch wäre also, dass das gleiche Parlament ein Mal ein Drittel der CSJ wählt. Doch 2006 kam es anders. Bei den Parlamentswahlen im März jenes Jahres erhielt der FMLN die Sperrminorität bei Entscheiden, die einer Zweidrittelmehrheit bedürfen wie eben solche sogenannten Wahlen 2. Grades. Das alte Parlament, das jeweils bis Ende April weiter im Amt ist, wählte noch schnell das neue Drittel der CSJ. In der Folge musste der FMLN akzeptieren, was die damalige Verfassungskammer des Obersten Gerichts festhielt: Verfassungsmässig ist es einem Parlament nicht verboten, zwei Mal in seiner Amtsperiode die neuen Gerichtsmitglieder (und den Generalstaatsanwalt) zu wählen.


«Troja wird brennen»

Nach dem FMLN-Wahlsieg 2009 hatte die Rechte keine Möglichkeit mehr, selbstherrlich das neue Drittel des Obersten Gerichts und den Generalstaatsanwalt zu wählen. Sowohl ARENA wie der FMLN verfügten über eine Sperrminorität. Also brauchte es zwangsläufig eine Konsenslösung. Doch zeigte sich, dass ARENA entschlossen war, die neue Regierung zu destabilisieren. Sie verschloss sich allen Kompromissvorschlägen und beharrte monatelang auf ihren rechtsextremen KandidatInnen, die für den FMLN absolut unwählbar waren. Freddy Cristiani, ARENA-Chef und führender Monopolkapitalist im Land, kündete damals an, «Troja wird brennen». Gemeint: Die Rechte wird das Land unregierbar machen. Während fast drei Monaten im Fall der CSJ, während mehr als fünf Monaten im Fall der Generalstaatsanwaltschaft war damals das Funktionieren der Justizorgane mehr faktisch als rechtlich gesichert. Denn die Justiz ist top-down strukturiert: Ohne die höhere Instanz kann die niedrigere nicht amten. Weshalb RichterInnen damals Angeklagte ohne Verfahren freiliessen.

Schliesslich lenkte ARENA bei der Wahl der Verfassungskammer des Obersten Gerichts ein, deren Vorsitzender automatisch Präsident des gesamten Gerichts ist. Die Gewählten entsprachen nicht dem gewohnten Profil ultrarechter, korrupter RechtsverdreherInnen. Die Verfassungskammer hat im Fall ihrer Anrufung die Aufgabe, Gesetze, Präsidialdekrete u.ä. auf ihre Verfassungsmässigkeit hin zu beurteilen. Sie ist aber kein Verfassungsgericht, d.h., sie kann keine neuen Verfassungsinhalte kreieren. Tat sie aber faktisch seit 2010 mehrmals im Wahlzusammenhang, wogegen der FMLN zu Recht protestiert und vor den Implikationen gewarnt hatte. Ihm ging es über die einzelnen Sachfragen hinaus um die faktische Aushebelung der Verfassung durch ... die Verfassungskammer. Eine Aushebelung, die in allen Fällen stets im Takt des entsprechenden Propagandabombardements durch den Grossunternehmerverband ANEP, ARENA und deren «Zivilgesellschaft» erfolgte.


Die Verschärfung

Letzten März hatte ARENA bei den Parlamentswahlen die Nase leicht vorne und hatte somit auch die Sperrminorität für Wahlen des 2. Grades zurück, die sie 2009 nach einer Fraktionsspaltung verloren hatte. Der FMLN wusste, was dies bedeuten würde: ein Repeat der Chaosstrategie von 2006, nur massiver. Denn ANEP und ARENA setzen alles daran, die Situation im Land unter einer Regierung mit FMLN-Beteiligung, so beschränkt auf den sozialen Bereich sie dank Staatspräsident Funes, dem bekennenden Obama-Fan, auch sein mag, als unerträglich erscheinen zu lassen. Deshalb machte der Frente nun, was er einige Jahre zuvor kritisiert hatte: die Wahl der neuen CSJ-Mitglieder und des Generalstaatsanwaltes noch durch das alte Parlament, in einem Deal mit den kleineren Rechtsparteien. Gewählt wurde so im April ein fürchterlicher Generalstaatsanwalt, dafür sollten einige neu gewählte MagistratInnen der Verfassungskammer mehr Gewähr als die bisherigen Amtsinhaber für ein rechtsstaatliches Funktionieren bieten.

Das sich darauf erhebende Geschrei von Unternehmerverbänden, ARENA, der assortierten «Zivilgesellschaft» und natürlich den dominierenden Medien war ohrenbetäubend. Sofort kam es zu einem Rekurs an die Verfassungskammer gegen den Parlamentsentscheid, sekundiert kurz darauf von einer Beschwerde gegen die CSJ-Wahl von 2006 - zwecks Anschein der Unparteilichkeit. Zuerst galten die beiden Rekurse als fast chancenlos - zu eindeutig war die Rechtslage. Als die noch amtierende Verfassungskammer aber in Rekordzeit darauf einging - andere wichtige Verfahren schlummern in jahrelangem Tiefschlaf -, war die Anfang Juni verkündete Sentenz eigentlich schon klar: Es sei verfassungswidrig, wenn das gleiche Parlament zweimal Wahlen 2. Grades durchführe. Die Kammer gab dem Parlament Zeit bis 1. Juli, dem vorgeschriebenen Amtsbeginn der neuen Kammer, die Wahl zu wiederholen. Gleichzeitig erklärte sie die Wahl von 2006 für ebenfalls verfassungswidrig, die damals gewählten MagistratInnen seien ebenfalls neu zu wählen. Bis dahin aber sollten sie weiter ihres Amtes walten. Was das Gericht als verfassungswidrig abtat, verlangte es umgekehrt vom neuen, rechts dominierten Parlament: Es soll einerseits den CSJ-Teil von 2006 wählen und andererseits den von 2012. Dabei hielt die Verfassungskammer «nebenbei» auch fest, dass sie nicht nur eine Kammer, sondern ein Verfassungsgericht sei, mit der Kompetenz, die Verfassung nach ihrer «Interpretation» neu zu formulieren.

Bis am 1. Juli ist eine für eine Neuwahl notwendige Einigung zwischen Frente und ARENA fast unmöglich - «Troja wird brennen». Die letzten April gewählten neuen Mitglieder der CSJ werden am 1. Juli ihr Amt nicht antreten können, es wird keinen Präsidenten der CSJ und keine rechtsverbindliche Struktur im Justizwesen geben.

Die 2006 nach neuster Version verfassungswidrig gewählten rechten MagistratInnen, die ihr Amt aber nach dem Willen der Verfassungskammer vorerst weiter ausüben sollen, haben nun bekanntgeben, dass sie keine Fälle mehr entscheiden werden. Denn, sagen sie, irgendwer könne die von ihnen mitgetragenen Gerichtsentscheid als per se ungültig anfechten. Anscheindend sind damit schon jetzt einige CSJ-Kammern nicht mehr beschlussfähig, fast sicher ist dem so ab 1. Juli. Chaos grinst um die Ecke.

Vermutlich wird die Kammer auch die April-Wahl des Generalstaatsanwaltes dieser Tage als verfassungswidrig erklären. Dann wird es ab dem 1. Juli keinen legalen Generalstaatsanwalt geben. Der weit rechts amtierende derzeitige Generalstaatsanwalt hat vorgesorgt und einen Stellvertreter ernannt, ein in keinem Gesetz vorgesehenes Schema, zu dem sein Vorgänger schon 2009 gegriffen hat. Und wer ist der Erkorene? Roberto Lorenzana, FMLN-Sprecher, sagte dazu: «Der derzeitige Generalstaatsanwalt sagte, er werde einen Herrn namens Ávila Qüehl [ein abgewählter ARENA-Parlamentarier aus der Oligarchie] zu seinem Vize ernennen. So dass ARENA keine Eile haben wird, einen Generalstaatsanwalt zu wählen, denn faktisch und illegalerweise haben sie einen. Und dieser Herr ist ein Kumpel, ein Partner des Präsidenten des Obersten Gerichts; wir alle kennen die enge Freundschaft, die sie verbindet».

Nochmals Lorenzana: «ARENA wollte Chaos und es ist da». Ein Element in einer Strategie der Destabilisierung, die, sollten sich die Perspektiven für die Präsidentschaftswahl 2014 als ungünstig für die Rechten erweisen, durchaus eskalieren könnte. Bemerkenswert ist, dass die Verfassungskammer aus Leuten besteht, die nicht dem traditionellen Profil der Rechtsradikalen entsprechen. Zeichen einer «verfeinerten» Destabilisierungsstrategie, wie sie die USA überall im Kontinent durchzusetzen versuchen, bevor sie zu «Robusterem» greifen.

Nach Aussagen von Führungsmitgliedern des FMLN kippt die mediale und von einigen Kräften auch über anscheinend «unabhängige» Internetportale und Facebookseiten mitgetragene Stimmung langsam. Am Freitag kam es zu ersten Gewerkschaftsdemonstrationen vor der CSJ - die Leute wissen, wem es bei einer Weiterführung dieser «Der Rechtsstaat bin ich»-Tour an den Kragen gehen soll. Zwar analysiert der FMLN-Sprecher Lorenzana die Dynamik richtig als Schaffung der Bedingungen für einen technischen Putsch, ohne dass dieser derzeit durchgezogen werde, aber wie eine Compañera sagte: «Allmächtig sind die auch nicht. Es kommt ein breiter Dissens auf. Wir werden eine Lösung finden».

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 170, 26. Juni 2012, S. 21-22
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2012