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CORREOS/172: El Salvador - Die Botschaft des 1. Mai


Correos des las Américas - Nr. 174, 29. Juni 2013

Die Botschaft des 1. Mai
Zur Einheit zwischen den Sozialbewegungen und dem FMLN. Ohne massive Strassenmobilisierungen ist die transnationale Attacke nicht zu stoppen.

von Mela Wolf



In El Salvador hatte sich die Gewerkschaftsbewegung historisch gegen den Staat entwickelt. Dann gewann 2009 die Linke die Wahlen, in der Folge wurden an die 90 neuen Gewerkschaften legalisiert. Seit 2009 hat die Gewerkschaftsbewegung die 1. Mai-Demos zwar massenhaft, aber eher hustend, pustend und verunsichert über die Bühne gebracht. Kein Wunder angesichts einer erstmaligen Tuchfühlung mit einer Linksregierung, deren «Partizipationsmechanismen» nicht von allen Bewegungen als «befreiend» eingeschätzt werden konnten, und der ernüchternden Klarheit, dass der Staat, durchsetzt von Klientel-, Korruptions- und neoliberalen Mechanismen, nicht per Knopfdruck umzukrempeln war.


Historische Dimension

Nun, die diesjährige Demo wies in verschiedener Hinsicht historische Dimensionen auf. Etwa punkto Grösse: Dicht gedrängte Reihen entlang von ca. 50 Strassenblocks, ohne Zweier- oder Dreierreihen, ohne die traditionellen Grosslücken die sich in den letzten Jahren bei 1. Mai-Demos eingeschlichen hatten, ohne unvorhergesehene Routenänderungen oder Demospaltungen und mit einer erstmals geordneten Eingliederung der StudentInnen, die sich traditionell immer bei der Nationaluni besammeln, um dann in die Hauptdemo einzubiegen. Eine Flut von mehr als 5 km. In andern Jahren hatte eher die Farbe Rot dominiert (von der Bekleidung der Frente-Mitglieder, die in keiner Sozialorganisation integriert sind und traditionell zusammen mit der Frenteleitung immer den Abschluss der Demo bilden), in einem Verhältnis von 2:1 Frente zu Sozialblock; dieses Jahr war das Verhältnis umgekehrt. Mehr Sozialorganisation, und neue Sozialorganisation: «neue» ArbeiterInnen zum Beispiel, die über ALBA (s. u.) wieder ins Produktionsnetz integriert worden waren, sei es als LohnempfängerInnen in den ALBA-Unternehmen oder als ProduzentInnen im Agrarbereich, GesundheitsarbeiterInnen aus der Gesundheitsreform, Tausende von BäuerInnen (die Helden einer historischen Ernte von Mais und Bohnen), die sich an andern 1. Mai-Demos immer an den Rand gedrängt gefühlt hatten, «neue» GewerkschafterInnen wie die StrassenverkäuferInnen, die sich nach der Grossräumung vom 26. Oktober durch den rechten Bürgermeister von San Salvador nicht zerstreut, sondern in neuen Gewerkschaften organisiert hatten und erstmals am 1. Mai als «Selbständigerwerbende» ihre Tageseinkunft opferten, um massiv an der Demo teilzunehmen. [ALBA: Gemeinschaftsunternehmen der venezolanischen Ölfirma Pdvsa und FMLN-regierter Gemeinden, das grosszügige venezolanische Bezahlungsmodalitäten in produktive und soziale Initiativen umsetzt; s. Correos 172, Januar 2012]. Sogar Traktoren von ALBA inmitten der Demo, und am Strassenrand, alle paar Blöcke erstmals ALBA-Wasser und Ersthilfezelte für Ermüdete....


Die andere Route

Erstmals bewegte sich die Demo mit neuer Route nicht «von oben nach unten» sonder von «unten nach oben», von der Unterstadt, wo sich der sogenannte informelle Sektor tummelt, hinauf zum Monument des El Salvador del Mundo, dem Verkehrsknotenpunkt und Tor zur «Oberklassen - Stadt», aber vor allem auch Symbol der Nation, verstärkt durch eine Statue des ermordeten Bischofs Romero. Unter dem rechtsextremen Bürgermeister und heutigem Präsidentschaftskandidaten Normán Quijano auch Symbol für kosmetische, aber pompöse Remodellierungen von Parks und Platzanlagen mit explizitem Verbot für Politveranstaltungen. Nun, dieses Verbot ist am 1. Mai zum zweiten Mal in wenigen Monaten missachtet worden (das erste Mal war am Abend des Todestags von Hugo Chávez mit einer spontanen Platzkundgebung).

Die Gewerkschaften wollten, dass auf dieser Plaza El Salvador del Mundo ihr einziger Gastredner, el otro Salvador, der andere Salvador, nämlich Sánchez Cerén, als Staatsvizepräsident und Präsidentschaftskandidat des FMLN, sich an die Flut von ArbeiterInnen richte. Aus Lautsprecherwagen alle paar hundert Meter ertönen die live von Radio Maya-Visión übertragenen Reden der drei Sprecher: eines jungen Gewerkschafters des Flughafens, in Vertretung sämtlicher Gewerkschaftsverbände; eines Campesino in Vertretung aller LandarbeiterInnenorganisationen und von Salvador. So kriegten die Zehntausende, die nie bis zum Monument vorrücken konnten, die zentralen Inhalte der drei Reden mit.


Einheit

Dass der FMLN als Gastredner am 1. Mai dabei ist, ist nicht neu. Aber dieses Mal war es eine neue und viel breitere Palette von Gewerkschaften und Gruppierungen, die das ausgebrütet und organisiert hatte. Die ganzen Vorbereitungen waren von einem ausschlaggebenden Element charakterisiert: Einheit! Einheit zwischen den verschiedenen Gruppierungen von Gewerkschaften und Sozialbewegungen, bis hinein ins Spektrum jener Kräfte, die sich seit dem von Präsident Mauricio Funes 2009 eingefädelten tripartiten Dialog mit Regierung und Unternehmerverband ANEP etwas zur Ruhe gesetzt hatten und an 1. Mai-Demos nicht mehr gesehen worden waren. Oder die Gewerkschaftsrichtung CATS mit ihrem zentristischem Selbstverständnis, die sich über den Dialogo de País - die breite Basiskonsultation des Frente für die Verfassung seines Regierungsprogramms - an die traditionellen, linken Gewerkschaftsverbände angenähert hat.

Bezeichnendes Detail: Gewerkschaftsverbände, die in anderen Jahren nur über drei Ecken mit dem Frente kommunizierten, schlugen vor, einen Vertreter des Frente (Leitungsmitglied und Koordinator der Kommission für Sozialbewegungen) ins 1. Mai-Vorbereitungskomitee zu integrieren, nicht als geladener Gast für eine Informations-Sitzung, sondern für die gesamte Vorbereitungsphase, um alle operativen Details zu koordinieren. Ein wichtiger Schritt in Sachen subjektives Arbeitsklima. Der Frente hat auch das notwendige Fingerspitzengefühl entwickelt, um nicht als vertikales Parteikommando aufzutreten oder aufgefasst zu werden, sondern als «einer mehr». Dahinter steht, viel ausgeprägter als noch 2009, ein wichtiger, zwar nicht ausgesprochener, aber impliziter Grundkonsens: Die organisierte Sozialbewegung in ihrer breitesten Ausprägung will sich nicht vom Wahlszenario 2014 abnabeln, sondern im Gegenteil keine Rückkehr der beiden Rechtskräfte um Antonio Saca und Normán Quijano tolerieren. Ein Grundkonsens, der auf einer klaren Position beruht, die auf nahezu 90% aller Transparente zum Ausdruck kam: «No a los APP's», «Nein zu den PPP» (Public Private Partnership, faktische Privatisierungsmodalität vor allem im Infrastrukturbereich).


PPP: Zankapfel oder Widerstand in realem Kräfteverhältnis?

Die USA drängen seit geraumer Zeit unverhohlen auf die Verabschiedung eines PPP-Gesetzes, darin unterstützt von Präsident Funes, den rechten Parteien, den Medien und den Unternehmerverbänden. Salvador Sánchez Cerén markierte am 1. Mai dazu eine klare Linie und sprach offen und deutlich, was von den Gewerkschaften geschätzt wurde. Hintergrund: Der FMLN wollte den Rechtskräften und der US-Botschaft nicht den Gefallen tun, sich bei der anstehenden PPP-Vorlage zu enthalten oder einfach nein zu sagen. Denn das hätte bei den aktuellen parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen der Rechten erlaubt, die Vorlage tel quel abzusegnen, was für eine zukünftige Regierung eine enorme Zwangsjacke bedeutet hätte. Die einzige Möglichkeit, um die gefährlichsten Punkte dieses Gesetzes zu neutralisieren, bestand im Vorlegen eines Gegenprojekts. Salvador nannte die neuralgischen Punkte: Verbot jeglicher PPP für strategische Bereiche wie Wasser, Bildung, Gesundheitssystem, Nationaluniversität und Reintegration von Gefangenen; Eliminierung der für die Multis lukrativen Abfindungsklauseln und der Allgemeingütligkeitsklausel für PPP; Unterstellung aller PPP-Projekte unter die Arbeitsgesetze und eine 2/3-Mehrheit im Parlament für alle grossen PPP-Projekte.

Die Rechtsparteien mussten in diesen Punkten danach im Parlament Kreide fressen, wollten sie nicht in der Vorwahlzeit am Privatisierungspranger stehen. Der einheitliche und deutliche Tenor am 1. Mai hat sicherlich das seine dazu beigetragen. Heute aber, wenige Wochen nach der einstimmig angenommenen Frente-Vorlage, scheint der Unternehmerverband aus seinem Knockout aufgewacht zu sein und deklariert das Gesetz als «zahnlose Totgeburt» und ARENA, die führende Rechtspartei, versucht, auf die Wasserklausel zurückzukommen. Was haben der Frente und die Antiprivatisierungskräfte erreicht? Zumindest, dass in Zukunft jegliche Grosskonzession im realen Kräfteverhältnis ausgehandelt werden muss, und dieses besteht nicht nur im Parlament, sondern auch auf der Strasse. Eine Herausforderung für den Frente, aber mehr noch für die Sozialbewegung, welche auf der Strasse mobilisieren kann und muss. Kein apokalyptischer Prinzipienverrat des Frente also, wie angeblich «Linksradikale» um die Gruppe Tendencia Revolucionaria (TR) in ihrem permanenten Versuch, den Frente zu schwächen, glauben machen wollen, und damit manchmal in Solizusammenhängen und bei abgehobenen Meinungsdivas landen können. Sondern eine Herausforderung für die Sozialbewegung, nicht nur am 1. Mai, sondern auch bei Grossangriffen übers Jahr massiv zu mobilisieren. Die nächste Runde ist bereits angekündigt mit dem anstehenden Wassergesetz.


Traditionelle Parallel-Demo und Presse-Projektionen

Natürlich gab es auch an diesem ersten Mai den traditionellen Versuch der TR mit Dagoberto Gutiérrez (die sich für die Präsidentschaftswahlen endlich als Partei artikulieren wollte, aber die notwendigen Unterschriften nicht einfahren konnte) und einer jüngst neu gebildeten Gewerkschaftskoordination, eine Paralleldemo aufzuziehen, um den hiesigen Rechtsmedien den Anlass zu liefern für ihren traditionellen Ansatz: «FMLN-Demo» gegen «Sozial-Demo», «FMLN gespalten von Sozialbewegung». Die rund 500 Personen der «Paralleldemo» mussten ihren Demozug aber ohne Schlusskundgebung abbrechen, weil auf der zentralen Avenida Juan Pablo schlicht kein Durchkommen möglich war.

Die Rechtspresse konnte ihre Fotos nicht einfahren, musste sich mit Teilaufnahmen ohne jegliche Dimension begnügen, wartete dafür aber am nächsten Morgen mit der Publikation einer Wahlumfrage auf, die plötzlich den FMLN Kandidat Salvador Sánchez Cerén auf dritter Position hinter Saca und Quijano plazierte. Ein durchsichtiger Demoralisierungsversuch, der wirkungslos verpuffte.


Der 1. Juni nach dem 1. Mai

1. Juni 2013 - vier Jahre Funes-Regierung. Der FMLN lud zu einer Feier der 4-Jahresbilanz ein. Auch jetzt an einem symbolträchtigen Ort: dem Boulevard Monseñor Romero, einer 4 spurigen Autobahn von mehr als 2 km Länge, voll besetzt mit Ausstellungszelten der Ministerien und FMLN-Gemeinderegierungen und ... einer roten Flut von fast 200.0000 Leuten! Die alle wussten, was die Umfrage der Jesuitenuni UCA - die erste UCA-Wahlumfrage seit Monaten - wenige Tage zuvor, ergeben hatte: 71% wollten keine Rückkehr der Rechten an die Regierung, 55 % eine neue FMLN-Regierung. Kein Grund für Euphorie, aber schon eine moralische Stärkung für die Tausenden von Arbeiterinnen und Compas, die sich innerhalb eines Monats an zwei erstaunlichen Grossmobilisierungen umarmten, tanzten und freuten.

Postskript: Die Unterzeichnung des EU-Freihandelsvertrags AdA mit Zentralamerika steht vor der Tür. Nicaragua hat bereits ratifiziert und damit die Weichen gestellt. Auch der Frente wird widerwillig zustimmen, um nicht als «Arbeitsplatzverweigerungspartei» in die Wahlrunde gehen zu müssen. Aber er weiss, dass heute, mit einem gestärkten Südpol (ALBA etc.), die Freihandelsverträge aus dem Krisennorden in der Praxis ein anderes Gewicht haben als noch vor 10 Jahren. So schickte Nicaragua kürzlich den IWF mit seiner Renten-Konterreform nach Hause. Aber dazu ein anderes Mal.

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 174, 29. Juni 2013, S. 22-23
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2013