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CORREOS/176: Nicaragua - Fragen zum Kanal und darüber hinaus


Correos des las Américas - Nr. 175, 21. September 2013

Fragen zum Kanal und darüber hinaus

von Gérald Fioretta



Wir waren gerade daran, voller Hoffnung und mit einigermassen klaren Ideen aus Nicaragua abzureisen, als das Treffen des sandinistischen Staatspräsidenten Daniel Ortega und der Oligarchie stattfand, das vierte dieser Art seit der ersten Wiederwahl Ortegas 2006. Es stand im Zeichen der «Harmonie zwischen (Gross-) Unternehmern, Regierung und Arbeitskräften zum Wohl der sandinistischen Familie», wie das Rosario Murillo, die First Lady mit dem Rang einer Quasi-Premierministerin, ausdrückte.

Sollen diese Treffen dem Ziel einer festen Allianz zwischen Regierung und Unternehmerschaft (jeder Grösse) dienen, um mit der Sicherung einer langfristigen Entwicklung die Armut auszuradieren, oder stehen sie für eine reelle Übereinstimmung der Wirtschaftsinteressen von traditioneller Oligarchie und neuer sandinistischer Bourgeoisie? Nach vielen Interviews und Gesprächen, die wir im Lauf eines Besuchs der produktiven und Gemeinschaftsprojekte der Association Nicaragua-Salvador (Genf) in Matagalpa führen konnten, neigen wir immer noch der ersten Hypothese zu. Ja, die Regierung befolgt die unter anderem vom IWF aufgezwungenen makroökonomischen Diktate wie ein Musterschüler, sehr zur Zufriedenheit der nicaraguanischen Oligarchie und der ausländischen Investoren. Aber die Entwicklung des Landes beginnt, Leben und Perspektiven des ganzen Volkes real zu verändern. Offen ist, wann und mit welchen sozialen Subjekten der Sandinismus die kapitalistische Tendenz umkehren kann, um, wie proklamiert, in Richtung des Sozialismus des XXI. Jahrhunderts zu gehen. Die Verbindung mit ALBA, dem Modell einer solidarischen Zusammenarbeit und Integration Lateinamerikas, ist dafür Voraussetzung und gibt Hoffnung. Wann und wie wird die «zweite Phase der sandinistischen Revolution» in eine Gesellschaft münden, die die Armut überwunden hat, aber vor allem gerechter und egalitärer ist? Nicht zu vergessen ist dabei die demokratische Frage der Erneuerung der Volksbeteiligung, die die aktuelle autoritäre Leitung des Prozesses ersetzen muss.

Die für die Entwicklung der Infrastruktur konsequent angewandte Politik bringt einen weltweit einzigartigen ökologischen Erfolg: Der Anteil erneuerbarer Energien (Geothermie, Wasserkraft, Windstorm, Solarstrom) ist von 20% (gegen 80% fossiler Energie) 2006 vor der «zweiten Phase der sandinistischen Revolution» auf heute 52%, gestiegen; bis 2015 kann er 80% erreichen. Jede Woche erhalten abgelegene ländliche comunidades zum ersten Mal Anschluss an die Stromversorgung. Das verändert das Leben.

Die grossen Überlandstrassen, aber auch die lokalen Verbindungen, sind jetzt in akzeptablem Zustand (ausser dem Zugang zur Atlantikküste), die Wege und Strassen in die Agrarproduktionszonen hinein, wichtig, damit die Leute ihre Produkte verkaufen können, werden jedes Jahr erneuert, die Strassen der Armutsquartiere aller Städte sind jetzt gepflastert. Das verändert das Leben.

Das Sprudeln von StudentInnen an den Wochenenden auf dem Land, zum Beispiel die universidad del campo in La Dalia (eine Region, die alle, die aus der Schweiz die Jahre der Solidarität mit Nicaragua miterlebt haben, kennen), ist typisch für eine Politik, die die mittlere Bildung all jenen öffnen will, die vorher nie dazu Zugang hatten.

Eine soziale und produktive, an erster Stelle, auf dem Land und in den Volksquartieren, auf die Frauen und die Jungen ausgerichtete Politik, trägt über ihre materiellen Resultate hinaus Früchte: Wir konnten so in Yale an einem grossen Fest zur Erinnerung an die nicaraguanischen und internationalistischen Märtyrer von 1986 teilnehmen und waren tief beeindruckt vom Ausmass des Engagements und der Autonomie der Frauen und der Jungen, die den ganzen politischen Gehalt und die kulturellen Darbietungen von A-Z selbst organisiert haben, ohne die über 800 nacatamales (Maisspeise) und die Frühmaisköstlichkeiten zu vergessen.

Indes bleibt die Betriebsamkeit, das dem Alltag seine Farben gibt, jene der informellen Aktivität: Die Nicas verkaufen, ob auf der Strasse, im Hauseingang, auf den Märkten oder in den eigentlichen Geschäftsläden; sie verkaufen wirklich alles. Natürlich gab es die informelle Aktivität schon immer, auch in den Jahren der Revolution, aber sie ist hat ihren Aufschwung in den Jahren des Neoliberalismus erlebt.

Das alles mündet im höchsten Wachstum Zentralamerikas (5%) und in einer Sicherheitslage, die ebenfalls überdurchschnittlich gut ist - aber das Land bleibt immer noch das ärmste Zentralamerikas.


Die Herausforderungen des grossen interozeanischen Kanals

Es brauchte diese Erläuterungen, um uns dem Thema der Debatte anzunähern, die in der Region entflammt ist: dem Bau des grossen interozeanischen Kanals. Ein Traum, zwei Jahrhunderte alt ... Luis Napoléon Bonaparte hatte den Bau einer Eisenbahn entlang des Rio San Juan skizziert, französische und US-amerikanische Ingenieure haben daran gearbeitet, bevor sie sich gegen 1870 für Panama entschieden haben. Sandino träumte zu seiner Zeit davon und der Sandinismus ist 2013 daran, dem alten Vorhaben eine Form zu geben. Die Frage, die Nicaragua bewegt, die die UmweltschützerInnen umtreibt und die es zu diskutieren gilt: Wird nur ein Grossprojekt wie der Bau dieses Kanals eine beschleunigte Entwicklung des Landes ermöglichen und die Armut abschaffen, also den Sozialismus des XXI. Jahrhunderts zum Leben erwecken?

Das nicaraguanische Parlament hat im Juni 2013 das Gesetz im Eiltempo verabschiedet - allerdings nach einer einjährigen Konsultation - welches der in Hongkong domizilierten Firma HKND die Konzession erteilt. Vorgesehen sind $ 40 Mrd. für den Bau den Bau des interozeanischen Kanals, zweier Tiefseehäfen, einer Eisenbahn (canal seco, trockener Kanal), eine Ölpipeline, eines weiteren Flughafens und einer Freihandelszone. Man muss die ökologischen, ökonomischen und sozialen Machbarkeitsstudien abwarten. Die Ungeduldigsten, darunter der Chef des chinesischen Konzessionsunternehmens (Strohmann des chinesischen Staates?), stellen den Baubeginn für Ende 2014 in Aussicht, real wird das aber erst in 3 bis 5 Jahren soweit sein. Die ökonomische Rentabilität des Unterfangens, durch Nicaragua grössere Schiffe zu schleusen, als sie der Panamakanal auch nach seinem aktuellen Ausbau aufnehmen kann, könnte an der Klimaerwärmung scheitern, falls in 20 Jahren eine neue Seefahrtsroute durch die Arktis offen sein sollte. Aber es ist natürlich die ökologische Klippe, die erzittern lässt, denn der Kanal würde den grossen See Cocibolca (einen der grössten Süsswasserseen der Welt mit 8200 km²) durchqueren, in einer 25 m tiefen und 300 m breiten Tranche auf eine Länge von 90 km.

Genau hier setzt William Grigsby, Leiter des Radio La Primerísima, zu einer verblüffenden Dialektik an: «Nur der grosse Kanal kann den Lago Cocibolca retten, dessen aktuelle Tiefe 15 m ist, während sie vor 40 Jahren noch 40 m war». Die Entwaldung, die die Ausdehnung der Agrargrenze in den letzten Jahrzehnten begleitet hat, bewirkt, dass die Flüsse mehr Sedimente als Wasser zum See führen. «Bleiben die Dinge unverändert,wird der See eine grosse Wasserpfütze werden und wir verlieren dieses grosse Süsswasserreserve.» Der Bau des Kanals würde tatsächlich zu einer mehrere Milliarden Dollars schweren Aufforstung zulasten der Investoren führen, um «Wasser zu ernten», also den See wieder aufzufüllen, ohne welches der Kanal schlicht gar nicht funktionieren kann. Zwei Fliegen auf einen Schlag: Der See wird gerettet und das Land überwindet die Armut. Der Bau und danach der Betrieb des Kanals bringen mit rund einer Million geschaffener formeller Arbeitsplätze ein geschätztes Wachstum von 15% im Jahr.

Bleibt das soziologische Risiko, das uns am problematischsten scheint: Welche Veränderungen auferlegt der Kanal, der in den ersten 50 Jahren in den Händen der ausländischen Investoren ist (alle zehn Jahre gehen 10% der Aktien an den Staat) der nicaraguanischen Gesellschaft? Wird man den Kanalbau für die Berufsausbildung hunderttausender qualifizierter nicaraguanischer ArbeiterInnen, TechnikerInnen, IngenieurInnen nutzen können? Oder wird sich die nicaraguanische Gesellschaft auf das Einfachste stürzen: die Fressstände, Spelunken und Bordelle entlang des Kanals, um nicht von der jedem Grossprojekt inhärenten Korruption zu reden?

Die Grundfrage ist: wie Nicaragua so stärken, dass es im Stande ist zu kontrollieren, was mit seinen Ressourcen und seinem Territorium geschieht? Auch wenn die Antworten auf diese Fragen komplex sind, scheint es dennoch für das heutige Nicaragua nur eine mögliche Alternative zu geben. Wie ein Ingenieur unserer Partner-NGO sagte, wird man mit dem Bau des Kanals (falls es soweit kommt) unter der Leitung der sandinistischen Regierung und einer sozialen Entwicklungsvision an Stelle einer simplen Laissez-faire-Rechtsregierung auf jeden Fall das Schlimmste verhindern.

Gegen die widerlichen Lügen, die unterstellen, alles sei schon entschieden, ist zu betonen, dass das letzte Wort nicht dem Unternehmen HKND und auch nicht den Machbarkeitsstudien zukommt, sondern der zuständigen Regierungskommission und dem Präsidenten von Nicaragua, der immer betont hat, dass er den Lago Cocibolca niemals opfern werde, falls dieses Risiko bestünde.

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(dd) Den Bock zum Gärtner machen.

Bestimmt zu Recht schlägt die Ökoorganisation Centro Humboldt Alarm: Das Ausbaggern der Kanalrinne im Lago Cocibolca rührt die Sedimente auf und gefährdert so so das gigantische Süsswasserresservoir. Zu Unrecht schlägt sie keinen Alarm, dass beim jetzigen, vom Megaprojekt «unberührten» Gang der Dinge, der See droht, in den nächsten 20 Jahren zur Riesenpfütze zu werden. Das lässt sich weniger gegen den Sandinismus verwenden... Nun, die Sandinistas machen den Bock zum Gärtner, bewusst. Die dringend nötige Wiederaufforstung im Einzugsgebiet des Sees von 40.000 qkm übersteige die finanziellen Kapazitäten Nicaraguas (inklusive Hilfe von Venezuela u. a.) bei weitem. Einzig ein kapitalintensives Unterfangen wie der Kanalbau, bei dem die Investoren alles Interesse an der Rettung des Lago Nicaragua haben, stelle eine Lösung dar. Denn der Kanal braucht das See-Wasser für sein Funktionieren. Vielleicht doch mehr als eine Logik des Grauens à la Weltbank?

Doch was, wenn auch nur einer dieser Tanker eine Havarie im See hat? Wo blieben die Abermilliarden, nötig, um das Allerschlimmste zu mildern, bei der Exxon-Küstenzerstörung in Alaska? (Auf dem Konto von Exxon, natürlich.) Nicaragua pobrecita... Die Investitionssumme von $40 Mrd. übersteigt das nationale BIP bei weitem ... Grössenverhältnisse, Gewaltverhältnisse. Das britische Unternehmen ERM soll die Umweltstudie erstellen. Es hat früher offenbar das Keystone XL-Projekt befürwortet (Transport von Schieferöl aus Kanada in die Raffinerien im Midwest der USA), das Obama letztes Jahr aufgrund von massivem Protest aussetzen musste. Dass Präsidentengattin Rosario Murillo die Mutter Gottes als Schutzpatronin des «Grossen Kanals» anruft, vermag eben so wenig zu beruhigen wie das Mitwirken von Topshots aus dem imperialen Kader. Laut Presseberichten sollen McLarty Associates, langjährige intimer Businesspartner von Henry Kissinger, die internationalen Investoren gewinnen. «Sí», sagen die Sandinistas, «wir arbeiten mit Haien - nur sie haben das nötige Kleingeld für die Wiederaufforstung. Wir setzen auf technische Innovationsschübe samt qualifizierter Berufsausbildung, den politischen Rahmen garantieren wir.» Diese Antwort müssen wir nicht schlucken, aber zumindest zu kennen und verstehen suchen.

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 175, 21. September 2013, S. 6-7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2013