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CORREOS/199: El Salvador - Der Terror der Maras und seine(r) Bekämpfung


Correos de las Américas - Nr. 181, 15. Mai 2015

Der Terror der Maras und seine(r) Bekämpfung

von Dieter Drüssel


Der sog. Waffenstillstand, die Tregua, zwischen den Strassengangs oder Maras, hatte zuerst ein schönes Gesicht. Sie kam ab dem Moment zustande, als der vorherige Präsident Mauricio Funes 2012 alle FMLN-Leute aus den entscheidenden Posten in den Sicherheitskräften rausgeworfen und in der Polizei jene Washington-nahen Kräfte wieder ans Ruder geholt hatte, die berüchtigt waren für Menschenrechtsverbrechen und teilweise Drogenhandelconnections. Mit der Tregua sank die Mordrate von 12-14 Morden auf 5-6 pro Tag. Die Kehrseite: Das faktische Stillhalteabkommen zwischen Polizei und Maras brachte diesen ein Ausmass an Straffreiheit, das sie für eine massive Ausweitung ihrer Kontrolle über vor allem Unterklassenzonen benutzten.


Alltagsrealitäten
Die Sicherheitslage ist eindeutig ein Terrain, auf dem der Frente in den nächsten ein, zwei Jahren massive Verbesserungen erreichen muss. Alle Basismitglieder des FMLN, mit denen ich gesprochen habe, haben das betont. Mit Grund: Ein Freund, der oft bis spät nachts arbeitet und dann nach Hause ins Unterklassenquartier in Apopa fährt, ruft nach 10 h nachts den lokalen Mara-Chef an, um die Erlaubnis für die Fahrt ins eigene Wohnquartier zu erhalten. Wer Arbeitseinkommen hat (und sei es ein erbärmlicher ambulanter Marktstand), zahlt den Maras einkommensabhängige Steuern - oder riskiert, von ihnen spitalreif geschlagen oder ermordet zu werden. Kaum eine Kneipe, kaum ein Taxifahrer, die nicht «Rente» zahlen. Es kommt vor, dass Regierungsämter - sie zahlen keine «Rente» - Arbeiten in gewissen Zonen nur nach Absprache mit den lokalen Herren der Maras in Angriff nehmen - zum Schutz des Personals. Befreundete BäuerInnen, Ex-Guerillas, koordinieren ihren Alltag, seit sie von den Banden bedroht werden, weil sie ihnen keine «Rente» zahlen. «Wir hatten Krieg gegen die Ausbeutung geführt - jetzt sollen wir das schlucken?!», wie einer von ihnen sagte. Zu den Hafterleichterungen für gefangene Mara-Grandes während der Tregua, des Waffenstillstands, gehörte die Wiederzulassung von Intimbesuchen. Oft läuft das so: Die junge Frau, das Mädchen in den Mara-Zonen wird angewiesen, den wildfremden Jefe «intim zu besuchen», ansonsten sie oder ihre Familie Schaden nehmen würde. Nur um die reichen Zonen machen die Maras einen Bogen - sie wissen um die privaten Sicherheitsarmeen dieser Klasse.

Die FMLN-Regierung von Sánchez Cerén war und ist nicht bereit, diesen «Waffenstillstand» weiterzuführen. Seither ist die Mordrate wieder gestiegen, im März auf katastrophale 16 Morde am Tag. (Laut Polizeiangaben handelt es sich bei 70 % der Täter und bei 35 % der Opfer um Mareros.) Neu kommt es zu systematischen Morden an Polizeimitgliedern (allein 19 in diesem Jahr) und selbst an Soldaten. Zu Beginn der Regierung Funes hatte mir ein Genosse, der Marktverkäufer ist und schon damals unter dem Bandenterror litt, gesagt: «Jetzt muss die Regierung durchgreifen. Noch respektiert der Marero die Uniform. Es ist noch nicht wie in Mexiko. Doch entweder sie greift durch oder wir werden hier mexikanische Zustände kriegen.» Wir hatten diskutiert, er war für den Einsatz der Armee in der Kriminalitätsbekämpfung, ich dagegen. Er war bedroht, ich nicht. Heute, nach dem «Waffenstillstand», wird «die Uniform» nicht mehr respektiert, sondern angegriffen. Kein revolutionärer Akt. Der Einfluss der nationalen und internationalen Drogenkartelle bei einem Teil der Maras scheint massiv gestiegen zu sein. Nach dem Wegfall der Tregua ist offenbar wieder offener Krieg um die lukrative Kontrolle der Drogentransitrouten ausgebrochen. Es sind offenbar minoritäre Teile der Maras, die sich über den Kleindeal hinaus dafür instrumentalisieren lassen. Aber sie sind gefährlich. Nach aktuell zirkulierenden Gerüchten haben sich einige hundert Mareros von mexikanischen Kartellen in Guatemala zu professionellen Auftragskillern ausbilden lassen.

Es besteht kein Zweifel, dass in einigen Gebieten die Maras die Bevölkerung zum richtigen Wahlverhalten gezwungen haben - gegen den FMLN. Seit die Wahllokale näher an den Wohnorten der Leute liegen, können die Maras einschätzen, ob ihren Anweisungen Folge geleistet wurde oder nicht. Sie können ungefähr wissen, wer wählen ging und wer nicht - und wer sich nicht an ihre «Orientierung» gehalten haben könnte. Zumindest glauben das die Leute vor Ort.

Wer solche Realitäten mitschneidet, kann nicht einfach gegen Repression sein. Allerdings: Trotz massiver Verbesserungen im Polizeikorps gibt es da immer noch eine menschenrechtsverletzende, folternde Seilschaft. Die ist nicht minder gefährlich. Und zumindest kommt man bei der Meldung von Ende März ins Sinnieren: Polizisten gerieten in einen Hinterhalt, riefen Verstärkung herbei, mit dem Resultat von einem verletzten Polizisten und acht toten Mareros.... Oder dieser von April: Eine Armeepatrouille nähert sich einer Gruppe Verdächtiger, wird beschossen und erwidert das Feuer. Ergebnis: neun tote Mareros und ein toter oder verletzter (je nach Quelle) Soldat. Das sieht nach Hinterhalt, nach Massaker, aus. Weite Teile der Bevölkerung werden applaudieren, klar. Aber Menschenrechtsprokurator David Morales, ein engagierter Verteidiger der Menschenwürde, hat Recht, wenn er von der Regierung Auskunft verlangt darüber, wie sie verhindern will, dass neue geplante Einsatzeinheiten der Armee nicht systematisch die Menschenrechte verletzen. Ein Blick über die Grenze, nach Honduras, nach Guatemala, nach Mexiko lässt erschaudern.


Die Frente-Strategie

Die Frente-/Regierungsstrategie versucht, das erfolgreiche nicaraguanische Modell einzuführen. Die eine Schiene: Repression gegen den hard core der Maras, aber auch der organisierten und «respektablen» Kriminalität. Die andere: den Maras die Kids abspenstig machen, einschliesslich Integrationshilfe für Aussteigewillige. National bis ins Wohnviertel oder ins Kaff hinein sollen möglichst alle gesellschaftlichen Kräfte zusammenkommen und gemeinsam Strategien gegen die Unsicherheit entwickeln und umsetzen. Die Regierung, die Kirchen, die sozialen Organisationen, die Unternehmerverbände, die Parteien, die Kulturschaffenden, die Sicherheitskräfte, die Sportvereine - vor Ort der Pastor, die Ladenbesitzerin, der Organisator des Fuss-ballturniers, die neuen GemeinschaftspolizistInnen (community policing). Sie kennen die Leute, wissen um die Probleme, sollen eingreifen können, bevor es wirklich heavy wird. Gepaart mit sozialen und beruflichen Integrationsangeboten, wobei es bei letzte-ren düster aussieht. Welches Unternehmen stellt Exbandenmitglieder ein, wer gibt ihnen Kredit?

Es ist klar, in Hard-Core-Zonen der Banden wird sich dieses Konzept nicht so schnell durchsetzen lassen. Eine FMLN-Aktivistin ging vor ein paar Monaten an ein erstes derartiges Treffen in ihrem Wohngebiet in der Mara-Zone. Nach ihrer Heimkehr klopfte es an der Tür, ein Nachbarjunge wollte wissen, was genau besprochen worden sei und liess ausrichten, sie nehme da besser nicht mehr teil. Die Frau ist aus dem Frente ausgetreten, aus Angst um sich und ihre Kinder. In anderen Zonen kann das Konzept Erfolg zeitigen und von dort aus langsam auch in «schwierigere» Gebiete ausstrahlen. Tatsache ist, dass in einigen, aber klar nicht in allen Gebieten mit starker Frenteorganisierung der Bevölkerung die Maras keinen fruchtbaren Boden vorfinden. Ich war kürzlich in der Berggemeinde Tejutepeque im Department Cabañas. Hier hatte der Frente die Lokalwahlen gewonnen. Auf die Frage nach den Maras meinte ein Compañero vom lokalen Komitee: «Ab und an gibt es Probleme. Aber nicht sehr grosse. Im Allgemeinen ist es ruhig. Wir kennen die Leute und wir reden mit unseren Kindern.»

In der Gemeinde San Fernando im Department Chalatenango, spürbare FMLN-Tradition, sagte mir die Krankenschwester: «Als Frau kann ich noch nachts um 12 allein auf die Strasse. Vielleicht gibt es mal einen Besoffenen, der etwas Ärger macht. Aber nichts Schlimmes.» Eine Aussage in El Salvador, nicht auf einem anderen Planeten! Und zudem in einer Gemeinde, die als Transitort für den Drogentransport aus Honduras nach Guatemala und al norte gilt. Einige Stunden später, im traditionell eher rechten Weiler Ocotal: ein Dorffest, am Rande eine Gruppe zugedröhnter Männer und einer Frau der lokalen Mara, ihre Haltung lässt keinen Zweifel, wer hier ihrer Meinung nach das Sagen hat.


Gegen ARENA, ANEP und die Maras

Gelingt es dem FMLN, auf diesem Gebiet reale Verbesserungen in Gang zu setzen und - nicht minder schwierig - dies medial zu transportieren, hat er die nächsten Wahlen gewonnen. Wenn nicht - gute Nacht. Immerhin, ganz chancenlos ist er wohl nicht. Vor einigen Tagen, am 26. März, hatte der «Rat für BürgerInnensicherheit» - so heisst das nationale Gremium um die Regierung herum - zu Demos im ganzen Land für Frieden, für Sicherheit, gegen Gewalt aufgerufen, auf die Tradition der «Märsche in weiss» zurückgreifend. Die Parlamentsmehrheit hatte den Tag zum nationalen Feiertag erklärt, gegen den wütenden Protest von ARENA und ANEP, dem Grossunternehmerverband, und ihrer Medien. Wichtig dabei war der Versuch, die Leute anzuturnen, sich selber - vorerst symbolisch - für eine Veränderung der Lage einzusetzen. Präsident Sánchez Cerén sprach am nächsten Tag von einer halben Million von TeilnehmerInnen. Es war jedenfalls die grösste Mobilisierung in der Geschichte des Landes. Die Rechte hatte ihre Medien pausenlos auf Demobilisierung setzen lassen. Kurz nach den Wahlen fuhr sie so eine erste Niederlage ein. Zwar berichteten ihre Zeitungen am Tag nach den weissen Märschen so gut wie nichts darüber, doch Radio und Fernsehen waren am 26. während einer halben Stunde in einer nationalen Sendekette zusammengeschlossen und mussten so die Bilder der Riesendemos zeigen. Bemerkenswert: viele, sehr viele Jugendliche dabei.

Und noch wer setzte auf Demobilisierung: die Maras. In den Wohnzonen, wo sie das kontrollieren konnten, überprüften sie, wer «unentschuldigt» abwesend war.

Es ist schon eigenartig, wie aus einem Phänomen von Banden von Unterklassenjugendlichen innert 20 Jahren eine neue, moderne Form des Gewaltterrors, der früher als Militärdiktatur wirkte, entstanden ist. Eine Form von brutalem, «primitiven» Kapitalismus, gesteuert über Rahmenbedingungen und Zurverfügungstellung von Waffen, Protektion etc., aber alimentiert von unten. Die Maras sind keine Neuauflage der Guerilla, wie manchmal versichert wird. Es gibt keinen «Bürgerkrieg», kein gespaltenes Land. Sie kämpfen nicht für, sondern gegen die arme Mehrheit, auch wenn sie aus ihr stammen. Dies nimmt ihnen die Basis für etwas wie einen Bürgerkrieg. Aber sie können einen neuen Paramilitarismus fördern, sie verstärken die neoliberale Idylle des «Jede/r gegen Jede/n». Die Tregua hat diese Entwicklung dynamisiert. Die US-Behörden gaben sich kritisch-abwartend dazu, doch Adam Blackwell, in der Organisation der Amerikanischen Staaten zuständig für «multidimensionale Sicherheit», agierte bei Treffen mit Mara-Jefes als wichtiger Promoter der Tregua und unternahm Anstrengungen, dieses «Erfolgsmodell» nach Honduras und Guatemala zu exportieren.

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Quelle:
Correos de las Américas, Nr. 181, 15. Mai 2015, S. 12-13
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
Tel.: 0041-(0)44/271 57 30
E-Mail: zas11@sunrise.ch
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2015

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