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CORREOS/214: Venezuela - Votum gegen die Gewalt


Correos de las Américas - Nr. 188, 16. September 2017

Votum gegen die Gewalt

von Martin Schwander


Als «Gegner im eigenen Land» bezeichnet Teletext den Präsidenten Venezuelas, und der Berner «Bund» titelt «Diktator Maduro». Schubladisierungen dieser Art bringenden ehemaligen Botschafter der Schweiz in Caracas, Walter Suter, in Rage.


Der 74jährige Walter Suter stand während Jahrzehnten im Dienst der Schweiz. Als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei eher ein Exot im diplomatischen Corps unseres Landes, vertrat er die konsularischen und diplomatischen Interessen der Eidgenossenschaft in so unterschiedlichen Staaten wie dem Libanon, Spanien, China, Indien, Chile, Argentinien und Paraguay, um nur einige seiner Stationen zu nennen. Im Februar 2003 schickte ihn der Bundesrat als Botschafter nach Caracas, wo das Volk kurz zuvor einen Putsch gegen die rechtmässig gewählte Regierung von Hugo Chávez zerschlagen hatte.

«Ich kam zu einem äusserst spannenden Zeitpunkt nach Venezuela», unterstreicht der pensionierte Berufsdiplomat, der bis 2015 für die SPS im Vorstand der SP Europa sass und auch die Internationale Sektion der SP präsidierte. «Das Land hatte sich 1999 eine Verfassung gegeben, die voll auf die direkte, partizipative Demokratie ausgerichtet war und versuchte nun, diese Demokratie mit konkreten Inhalten zu füllen. Persönlich hat mir aber besonders gefallen, dass mit der Vertiefung der Demokratie auch die Schaffung von sozialer Gerechtigkeit einherging, der Abbau einer seit Jahrhunderten angehäuften sozialen Schuld. Ich dachte: Endlich geht etwas hier, ich kannte Lateinamerika ja bereits seit 30 Jahren.» Es sei eine eigentliche Kulturrevolution in Gang gesetzt worden, indem die Massen, die vorher nichts zu sagen hatten, nicht nur einbezogen sondern auch ermächtigt wurden: «Aus den Objekten wurden plötzlich Subjekte des Staats.»

«Ich habe gleich zu Beginn meines Mandates den Kontakt mit dem neu konstituierten Wahlrat, dem Consejo Nacional Electoral (CNE) aufgenommen und mein Interesse am ganzen Prozess angemeldet.» Auf seine Vermittlung hin besuchte der CNE verschiedentlich die Schweiz und tauschte sich hier sowohl mit Behörden wie auch mit dem Föderalismusinstitut an der Universität von Freiburg. Dass Walter Suter noch heute vom CNE immer wieder als Wahlbegleiter nach Venezuela eingeladen wird, zeugt davon, wie sehr diese Hilfestellung von der venezolanischen Seite estimiert worden war.


Viszeraler Hass

Als Walter Suter 2003 dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez sein Beglaubigungsschreiben übergab, stand das Land erst am Anfang tiefgreifender sozialer Veränderungen. «Die oberen Schichten hatten sich eine feudale Mentalstruktur bewahrt und für die einfachen Menschen und ihre Bedürfnisse nur Verachtung übrig. Zu dieser Gleichgültigkeit gegenüber den elementaren Bedürfnissen der Menschen nach Würde, Bildung und Gesundheit sei aber auch blanker Hass hinzugekommen. «Dieser viszerale Hass gegen den 'Abschaum', wie das einfache Volk von der Oberschicht genannt wird, hat sich mit den Jahren noch gesteigert und schlägt heute in reine Gewalt um.»

«Die Rechte hat nie akzeptiert, dass sich eine linke Regierung etabliert. Dass trotzdem 1,5 Millionen Analphabeten lesen und schreiben lernten, dass der kostenlose Zugang zur Bildung und zum Gesundheitswesen für alle durchgesetzt werden, dass Hunderttausende eine neue Wohnung beziehen konnten usw. ist angesichts der ständigen Sabotage durch die rückwärts gerichteten Kräfte eine enorme Leistung.»


It's Oil, stupid!

«Dass sich neben Venezuela eine ganze Reihe von Linksregierungen eingerichtet haben auf einem Territorium, das von den USA seit der Monroe-Doktrin von 1823 als ihr Interessensgebiet beansprucht wird, passt Washington natürlich gar nicht», betont Walter Suter. «Insbesondere dann nicht, wenn ein Land wie Venezuela, das über die grössten Erdölreserven der Welt verfügt, mit der Souveränität plötzlich ernst macht und sie mit Inhalten füllt. Das darf nicht sein und so wird alles versucht, die Kontrolle zurückzugewinnen, via die lokalen Kräfte, die massiv mit Geld und medial unterstützt werden oder mit Subversion und direkter Intervention.»


Die Probleme sind nur friedlich zu lösen

Walter Suter wünscht dem venezolanischen Volk, dass es seine Probleme friedlich lösen kann. Dass viele Probleme existieren, durch äussere und innere Sabotage, aber auch durch Korruption und Misswirtschaft, ist offensichtlich und hat dazu geführt, dass die Chavisten bei den Wahlen von 2015 deutlich abgestraft worden sind. Diese Probleme können jedoch nur im Frieden angegangen werden. «Genau das war die Motivation der Regierung von Präsident Maduro, auf das Mittel der Verfassungsgebenden Versammlung zurückzugreifen», erläutert der ehemalige Schweizer Diplomat. Verschiedentlich habe er versucht, mit der Opposition, die seit dem Winter 2015 die Mehrheit im Parlament besitzt, in einen fruchtbaren Dialog zu treten, auch mit ausländischer Unterstützung, beispielsweise des Vatikans sowie des Ex-Ministerpräsidenten Rodríguez Zapatero und anderer Ex-Präsidenten, doch hätten sich die Rechtsparteien letztlich immer wieder zurückgezogen und am Schluss nur noch auf die Strasse, die Gewalt und die Einmischung von aussen gesetzt.

Für Walter Suter gibt die Verfassungsgebende Versammlung «dem ganzen Volk die Möglichkeit, eine Auslegeordnung zu machen und von Grund auf neu zu definieren, wie das Zusammenleben gestaltet werden kann und in welcher Richtung der Staat sich entwickeln soll.» Vorgesehen ist dieses Instrument in der Verfassung von 1999. Einberufen werden kann die Versammlung entweder vom Präsidenten des Landes gemeinsam mit dem Ministerrat, von zwei Dritteln der Parlamentsabgeordneten oder einem Fünftel aller Wahlberechtigten. Einmal gewählt, steht sie bis zur Verabschiedung einer neuen Verfassung als «originäre Gewalt» über sämtlichen anderen Staatsgewalten.


Intellektuelle Unredlichkeit

Dass verschiedene Regierungen und auch die Schweiz Venezuela im Vorfeld der Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung aufgefordert hatten, auf ihre Einsetzung zu verzichten, kann Walter Suter überhaupt nicht nachvollziehen: «Das Instrument existiert in der gültigen Verfassung und selbst die rechten Parteien haben ja 2014 damit geliebäugelt, es anzuwenden. Dass die Ansetzung dieser Wahl vollkommen rechtens war, hat übrigens auch der CEELA festgestellt, und zwar ohne Wenn und Aber.» Der CEELA ist der Rat der Wahlexperten Lateinamerikas, ein unabhängiger Organismus, der aus Fachleuten gebildet wird, die in ihren Herkunftsländern in der Regel selbst einmal eine Wahlbehörde geleitet haben. Seit ihrer Gründung vor etwa 15 Jahren hat das Gremium um die 120 Wahlgänge begleitet. «Die Glaubwürdigkeit des CEELA ist enorm und sie wird von sämtlichen Staaten Lateinamerikas als Fachinstanz akzeptiert. Von den fünf Experten aus Honduras, Kolumbien, El Salvador und Ecuador, die sämtliche Phasen der Wahl vom 30. Juli begleitet und ihren Bericht danach einstimmig abgegeben haben, sind vier in ihren Ländern übrigens in konservativen oder liberalen Parteien aktiv und keine Linken», betont Walter Suter, der sich ärgert, dass ihr offizieller Bericht in unsern Medien mit keinem Wort erwähnt worden ist. «Die Unehrlichkeit, die intellektuelle Unredlichkeit der Medien gegenüber den Vorgängen in Venezuela ist unglaublich. Es gibt eine weltweite Kampagne der Diffamierung, der Destabilisierung und Destruktion.»

Gewählt wurden am 30. Juli schliesslich 537 Mitglieder, denen sich noch 8 Vertreter indigener Völker anschlossen, die aber nach traditionellen Bräuchen dieser Volksgruppen selbst bestimmt wurden. Die 537 Abgeordneten, die an der Urne aus etwas über 6000 Kandidierenden ermittelt worden sind, setzen sich ihrerseits zusammen aus je einem Abgeordneten pro Gemeinde resp. zwei aus den Provinzhauptstädten und 7 aus Caracas und 173 sog. sektoriellen Vertretern. «Das ist ja genau der Zweck dieser Versammlung», meint Walter Suter. «Sie soll nicht nur aus Politikern bestehen, sondern die Bevölkerung breit einbeziehen. Deshalb wurden neben den Gemeindevertretern auch Vertreter der Arbeitnehmer, der Bauern, der Behinderten, der Unternehmer, der Pensionierten, der Studierenden und der LGBT gewählt.» Die Abstimmenden konnten so auch Abgeordneten aus jenen Sektoren bestimmen, zu denen sie selbst gehörten.

Die rechten Parteien stellten keine Kandidaturen und boykottierten den Wahlgang aktiv. «Die Wahl wurde am 30. Juli stark behindert», unterstreicht Walter Suter, der wie bei den Parlamentswahlen von 2015 den Abstimmungssonntag als Wahlbegleiter vor Ort verfolgt hatte. «Zahlreiche Abstimmungslokale wurden vorgängig verwüstet oder blockiert und Abstimmungswillige massiv angegriffen. Trotzdem haben 41.5% der Stimmberechtigten teilgenommen und mit etwas über acht Millionen Abstimmenden sogar eine Zahl erreicht, die weder die Chavisten noch die Opposition in der Vergangenheit je für sich erreichen konnten. Es war eine Manifestation, ein Votum für den Frieden und gegen die Gewalt.» Die Experten des CEELA übrigens, die vor und während der Wahlen sieben Audits durchgeführt hatten, bescheinigten dem Wahlgang die völlige Korrektheit und Überprüfbarkeit. «Auch diese Schlussfolgerung hat es natürlich nicht in unsere Medien geschafft...»


Straflosigkeit beenden

Obwohl sich die Situation auf der Strasse seit dem 30. Juli schlagartig verbessert hat, die Barrikaden weggeräumt sind und das Leben wieder zu pulsieren beginnt, bleibt die Lage Venezuelas kompliziert. «Es ist ein schwieriger Versuch, mit den Instrumenten der bürgerlichen Demokratie eine friedliche Revolution durchzuführen. Vieles hängt nun von der konkreten Arbeit der Verfassungsgebenden Versammlung ab», unterstreicht Walter Suter. Als dringend hält er die Aufarbeitung der Gewaltexzesse der vergangenen Monate: «Der Straflosigkeit muss ein Ende gesetzt und jene, die zur Gewalt aufgerufen haben, müssen zur Rechenschaft gezogen werden.» Die Verantwortung für die Gewalt auf der Strasse, die den Alltag in Venezuela allzu lang geprägt hat, liegt für Suter eindeutig bei den sogenannt friedlichen Demonstrationen, in welche sich gewaltbereite Elemente eingereiht hätten. Walter Suter erinnert daran, dass über 20 Menschen von diesem Pöbel bei lebendigem Leibe angezündet wurden und ihren schweren Verletzungen zum Teil auch erlegen sind. «Darüber schreibt Amnesty International natürlich nicht.»

Neben der Aufarbeitung dieser Vorgänge, der sich in der Verfassungsgebenden Versammlung eine Kommission für Wahrheit, Justiz und Reparationen widmen wird, stehen eine ganze Reihe anderer Punkte auf der Tagesordnung: «Die Abgeordneten werden sich der ganzen Wirtschaftsproblematik widmen müssen, der nach wie vor schwierigen Versorgungslage, dem ganzen Import- und Verteilungssystem. Und natürlich der Diversifizierung der Wirtschaft und der Forcierung eigener Produktionen. Weitere Herausforderungen werden sein, die bisherigen Errungenschaften auf sozialem Gebiet auf Verfassungsgrundlage zu stellen und den Rechtsstaat weiter zu entwickeln, insbesondere auch was den Kampf gegen die Korruption und das Schüren von Hass anbelangt. Zudem wird sich die Verfassungsgebende Versammlung mit dem Ausbau der partizipativen Demokratie beschäftigen und die in den letzten Jahren entstandenen neuen Formen der direkten Mitbestimmung, etwa die Arbeiterräte, in der Verfassung festschreiben.»

Zwei Jahre hat die Verfassungsgebende Versammlung laut Walter Suter nun Zeit, sich zu bewähren und der Bevölkerung innert dieser Frist eine neue Verfassung zur Abstimmung vorzulegen. Auch wenn das Organ während dieser Zeit über sämtlichen andern verfassungsmässigen Gewalten steht und deshalb auch einige der parlamentarischen Kompetenzen übernommen hat, funktionieren die demokratischen Institutionen weiter. Im Dezember 2017 zum Beispiel stehen die Gouverneurswahlen an und Teile der Opposition, die den 30. Juli noch zu verhindern suchten, haben bereits beschlossen, sich an diesen Wahlen zu beteiligen. Präsident Maduro hat sie zu ihrem Entschluss beglückwünscht.

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Quelle:
Correos de las Américas, Nr. 188, 16. September 2017, S. 7-8
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
E-Mail: zas11@sunrise.ch
 
Correos erscheint viermal jährlich.
Abonnement: 45,-- CHF


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Oktober 2017

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