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DAS BLÄTTCHEN/1104: Supergau des Finanzsystems?


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
14. Jahrgang | Nummer 12 | 13. Juni 2011

Supergau des Finanzsystems?

Von Heerke Hummel


Der 33. Deutsche Evangelische Kirchentag in Dresden soll Beobachtern zufolge in besonderem Maße von politischen Themen geprägt gewesen sein. Man kann auch darin ein Zeichen dafür sehen, dass wir eine Zeit hoher gesellschaftlicher Brisanz durchleben. Die Weltgesellschaft ist so sehr in Bewegung geraten, dass die irdischen Probleme so stark wie lange nicht die Gläubigen eben auch auf ihren eigentlich religiösen Veranstaltungen beschäftigen.

Im Kirchenvolk gärt es schon geraume Zeit, und ein zentrales Problem, das die Menschen beunruhigt, ist die Ökonomik am Beginn des 21. Jahrhunderts, insbesondere die Krise des Finanzsystems. So groß sind die Sorgen, dass Menschen unterschiedlichster Provenienz aus christlicher Verantwortung heraus sogar das "kapitalistische Gesellschaftssystem" infrage stellen, beispielsweise in der nach einem langfristig funktionierenden alternativen Wirtschaftssystem suchenden "Akademie auf Zeit Solidarische Ökonomie" (siehe Das Blättchen 25/2008). Deren Mitstreiter verstehen sich als Teil einer breiten Anti-Kapitalismus-Bewegung. In ihren Diskussionen spiegelt sich die Erwartung eines GAUs dieses Gesellschaftssystems wider. Die bisherigen Erfahrungen lehrten, hört man beispielsweise, dass er erforderlich sei. Auch Marx und Lenin (!) hätten dazu Grundsätzliches und durchaus Richtiges formuliert, zum Beispiel die Zuspitzung der Widersprüche als Triebkraft für Veränderungen betreffend. Für manche scheint Weltuntergangsstimmung zu herrschen. Für sie stellt sich sehr ernsthaft die Frage, wie viel Zeit wir überhaupt noch haben, um eine Katastrophe zu verhindern. Denn sie denken, dass das bestehende Finanzsystem kurz vor dem Kollaps stehe. Durch die w eltweiten finanziellen Verknüpfungen sei es nur eine Frage der Zeit, bis das ganze aufgeblähte und völlig aus dem Gleichgewicht geratene System vollständig zusammenbricht. Von nur ein bis zwei Jahren ist beispielsweise sogar die Rede.

Das Problematische solchen Aktionismus' aus Bürgerbewegungen heraus: Politökonomische Analysen der derzeitigen Ökonomik als Ganzes - um auf das Wesen der Erscheinungen zu schließen - werden durch Kritik der Erscheinungen an der Oberfläche ökonomischer Vorgänge und der Gesellschaft ersetzt, um eine bessere Welt zu schaffen und "soziale Gerechtigkeit" herzustellen. Doch was ist in dieser Welt gerecht und was ist notwendig? Und statt wissenschaftlich begründeter Lösungen zur Durchsetzung des Notwendigen werden "Ideen" geboten, damit das beim zu erwartenden Zusammenbruch vermutlich einsetzende Chaos beherrschbar bleibe und totalitäre Entwicklungen verhinderbar seien; zum Beispiel: Zinsen abschaffen, Entprivatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge oder auch die Idee eines existenzsichernden bedingungslosen Grundeinkommens. Dem Wahlvolk sollen so seine Existenzängste genommen werden. Das würde die Menschen, so nimmt man an, gesellschaftsverändernden Ideen gegenüber aufgeschlossener machen. Aber auch gegensätzliche Ansichten gibt es da. Angesichts der jüngsten Erfahrungen in der AKW-Bewegung sei es unerlässlich, dass es zu diesem "Super-GAU" auch wirklich und tatsächlich kommt. Den vielleicht bisher erhofften "sanften Übergang" zwischen Kapitalismus und Solidarischer Ökonomie könne es nach allen bisherigen Erfahrungen nicht geben. Dafür seien die Beharrungskräfte und Interessen im gegenwärtigen System viel zu stark beziehungsweise die reformerischen Kräfte zu schwach. Darum sei der vollständige Zusammenbruch in absehbarer Zeit geradezu notwendig, um wirklich weiterzukommen, und man sollte ihn daher auch gar nicht verhindern wollen. Gab es ganz ähnliche Debatten nicht schon vor hundert Jahren?

Den Erfahrungen der letzten hundert Jahre nach ist die bürgerliche Gesellschaft wohl doch so flexibel und anpassungsfähig (wenn auch nicht im theoretischen Sinne - jedenfalls bisher - lernfähig), dass mit dem finanziellen oder auch gesellschaftlichen Super-GAU eher nicht zu rechnen ist. Denn unzählige Reaktionsmöglichkeiten gesellschaftlicher Institutionen können einer solchen Katastrophe und auch speziellen Krisen - mehr oder weniger gezielt - entgegen wirken und sichern, dass die gesellschaftliche Reproduktion funktioniert. Entscheidend für das Leben der Gesellschaft und aller ihrer Mitglieder ist die Schaffung ihrer sachlichen Existenzbedingungen. Als 1971 die westliche Welt sich in einer der heutigen vergleichbaren kritischen finanzpolitischen Situation befand, hob US-Präsident Richard Nixon den Goldstandard des USA-Dollars auf. Es war ein Schritt, den alle Welt bis dahin für unmöglich gehalten hatte, weil man glaubte, er würde ein Finanzchaos verursachen. Doch was passierte dann? Die Börsen stellten vorübergehend ihre Tätigkeit ein, Produktion und Austausch von Waren, den sachlichen Existenzbedingungen der Menschen, gingen weiter, und nach wenigen Tagen funktionierte alles wie gehabt, wenn auch mit gewissen Einschränkungen von Rechten und Kompetenzen der ökonomischen Akteure. Warum also sollten die Institutionen der EU oder auch beispielsweise ein G8-Gipfeltreffen im Falle eines drohenden Desasters nicht auch wieder (wie in den letzten Jahren des öfteren) aktiv werden, Kredite geben, Schulden erlassen, Zinsen je nach Einschätzung der Lage erhöhen, senken oder ganz abschaffen, Bankkonten und sonstige Finanzwerte sperren oder nur begrenzt verfügbar machen, vielleicht sogar bestimmte Rohstoffe und Materialien oder Energie rationieren beziehungsweise ihren Handel limitieren oder Preise, Einkommen und so weiter begrenzen? Die Welt wird sich zu helfen wissen, wenn Not am Mann ist.

Hinauslaufen wird das immer auf gesellschaftliche Auseinandersetzungen - so wie derzeit vor allem in Griechenland, wo mutige Menschen für ihre Rechte und Ansprüche kämpfen. In Portugal allerdings haben sie eine Regierung (um)gewählt, die noch drastischer zu sparen beabsichtigt als die vorige. Was Not tut, ist eine gesellschaftliche, weltweite Umverteilung des Reichtums. Sonst funktioniert das Finanzsystem als die gesellschaftliche Buchführung über Produktion und Verbrauch des gesellschaftlichen Reichtums nicht auf Dauer, sind die Reichen zu reich, um "das Ihre" zu verbrauchen, während die Armen borgen müssen, um ihren Hunger zu stillen. Wichtig ist in dieser Situation vor allem, dass der Staat als ordnungspolitisches Instrument der Gesellschaft die Macht und den Willen behält, dem Notwendigen zu seinem Recht zu verhelfen. Die Tragik besteht zurzeit wohl besonders in dem offensichtlichen Mangel an Einsicht in die Notwendigkeit. Wo umzuverteilen wäre, glaubt man - vielleicht sogar ehrlichen Herzens - sparen zu müssen. Doch wo es an wissenschaftlicher Einsicht mangelt ist das Empfinden Zehntausender Tag für Tag vor das griechische Parlamentsgebäude gezogener Opfer des heutigen Finanzsystems der Wahrheit und Realität wohl näher als der hochmütige Glaube von Tätern und von diese protegierenden Parlamentariern. Die Demonstranten in Athen forderten, dass der schwer verschuldete Staat seine Gläubiger nicht mehr bezahlt. Viele beschimpften die Politiker des Landes als "Diebe und Verräter". Sie riefen die Völker Europas auf, ihnen in ihrem Kampf beizustehen. Seien wir solidarisch - auch im wohl verstandenen eigenen Interesse!

Und die Wissenschaft? Sie wird in vielleicht nochmals hundert Jahren, wenn Wirtschaftspraktiker und Politiker lange genug nach der Methode "Versuch und Irrtum" herumgewurstelt und die gangbaren Wege der Zukunft gefunden haben, endlich feststellen, dass die Menschheit schon lange in einem neuen gesellschaftlichen System lebt, mit einer neuen Ökonomik als der materiellen Basis und dann auch mit einem neuen geistigen und politisch-kulturellen Überbau.


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Quelle:
Das Blättchen Nr. 12/2011 vom 13. Juni, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 14. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juni 2011