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DAS BLÄTTCHEN/1134: Deutsch-Europa


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
4. Jahrgang | Nummer 20 | 3. Oktober 2011

Deutsch-Europa

von Erhard Crome


Am 3. Oktober finden wieder die Feiern zur Vereinigung Deutschlands statt. Offiziell wird das zelebriert als Fortsetzung der "Wende" in der DDR und des Mauerfalls mit anderen Mitteln. Als sei es die einzige historische Möglichkeit gewesen. Es gab aber eine offene Situation vom Herbst 1989 bis in den Winter 1990, in der die staatliche Vereinigung nur eine der möglichen Varianten war. Es hätte auch eine deutsche Zweistaatlichkeit geben können, zwei deutsche Republiken, die sich nicht bekämpfen, sondern freundlich kooperieren. Wie das heutige Deutschland mit Österreich, das schließlich bis 1866, dem Reichs-Einigungs-Krieg Bismarcks gegen Österreich, auch zu Deutschland gehört hatte.

Die US-amerikanische Sozialwissenschaftlerin Joyce Marie Mushaben betonte vor zehn Jahren etwas, das heute gern in den Hintergrund geschoben wird (Berliner Debatte Initial, Heft 3/2001): dass es die ältere Generation war, die die Vereinigung gemacht hat, angefangen mit Willy Brandts Diktum: "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört", bis zu Kanzler Kohl und Ministerpräsident de Maizière. Mushaben schrieb: "Wäre die Wende etwa fünf Jahre später zustande gekommen, hätte es wohl nicht zu einer Wiederherstellung der deutschen Einheit in dieser Form kommen können. Bis dahin hätte man im Osten voraussichtlich eine andere, eher reformorientierte Machtkonstellation vorgefunden (da Honecker selbst schon erkrankt war und viele SED-Mitglieder die Notwendigkeit einer radikalen Umkehr eingesehen hatten). Im westlichen Teil der Nation wäre die nächste Generation, inklusive der Frauen, ein großes Stück weiter aufgerückt (besonders in den Bundestag). Dass Frauen weniger Wert auf 'nationales Tun und Gehabe' legen, habe ich woanders dargelegt. Nach meinem Empfinden sind die ostdeutschen BürgerInnen der mittleren Generationen eher bereit, sich zu einer neuen nationalen Identität zu bekennen, vorausgesetzt, dass sie an der Definition dieser deutschen (sprich nation alen) Identität als Gleichberechtigte teilnehmen dürfen. Eins hat die DDR im Laufe ihrer 40-jährigen Existenz geschafft, was in der BRD nie gelungen war, nämlich die Wörter 'Liebe' und 'Vaterland' immer wieder in einem Satz unterzubringen, z.B. in der Wendung 'Liebe zum sozialistischen Vaterland'. Für viele Ostdeutsche ist der Begriff Vaterland positiv besetzt geblieben, auch wenn sein sozialistischer Charakter das Volk 1989 dazu veranlasst hat, andere Facetten dieses Vaterlandsbezuges zu betonen, z.B. Deutschland als einig Vaterland. Westdeutsche Angehörige der Lange-Marsch-Generation (der 68er - E.C.) hatten dagegen - nach schwerwiegenden politischen und persönlichen Auseinandersetzungen darüber, was Deutsche/r sein nicht heißen darf - Ende der achtziger Jahre gerade eine Entwicklung hin zu einer unverbindlichen, postnationalen (und dennoch ausdrücklich bundesrepublikanischen) Identität vollzogen, mit der sie glaubten, gut leben zu können."

Am Ende zitierte Mushaben Antje Vollmer (eine damals prominente Grünen-Politikerin), die 1991 geschrieben hatte: "Diese alten Männer haben es gut gemeint mit uns. Sie haben eine freie und demokratische Republik aufgebaut. Sie haben eine freie und kritische Presse ermöglicht. Sie haben sogar eine politische Opposition geschaffen, die sich als regierungsfähig erwiesen hat. Jetzt wollen sie uns einen letzten Gefallen tun, fünfundvierzig Jahre nach dem Kriegsende wollen sie uns Deutschland zurückgeben, und nicht mal ein nationalistisches. Nein, einfach ein zivilisiertes Land."

Hatte sie damit Recht? Oder ist die Pointe nach zwanzig Jahren eine andere? Dieses Deutschland vereinigte sich 1990 mit Zustimmung aller seiner Nachbarn, mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag waren die Grenzen endgültig festgeschrieben. Deutschland war nach der Vereinigung zwar wieder größer als jedes andere europäische Land (außer Russland), aber schien gut eingerahmt in den Institutionen der Europäischen Union.

Die entstand seit den 1950er Jahren, um die Interessen der Kapitalverwertung der west-europäischen Bourgeoisie zu verbessern: durch einheitliche Regeln des Marktes innerhalb der Wirtschaftsgemeinschaft, eine gemeinsame Handelspolitik nach außen, Abschaffung von Zöllen, schließlich durch eine gemeinsame Währung. Zugleich aber haben der Wegfall von Personenkontrollen und Visa an den Grenzen innerhalb der EU oder der Euro als gemeinsame Währung auch die konkreten Lebensbedingungen der Menschen verbessert. Nach den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Lissabon ist die EU ein Gefüge, das mehr ist als ein Staatenbund. Sie ist inzwischen der real existierende Wirtschafts-, Währungs- und Rechtsraum, in dem sich europäische Entwicklung und Politik (der teilnehmenden Staaten, Nationen und Gesellschaften) abspielt. Gerade die Zuspitzung der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise zeigt, dass insbesondere die sozialen Kosten eines Zusammenbruchs der EU immens wären und ihr Zerfall kein vertretbares Ziel ernsthafter Politik sein kann, im Gegenteil. Ebenso, wie nach 1871 die immer wichtigere politische Ebene nicht mehr Sachsen oder Württemberg war, sondern Deutschland, ist es heute nicht mehr Deutschland, Frankreich oder Griechenland, sondern die EU.

Im Prinzip ist das so. Aber es sich eine veränderte Konstellation durchgesetzt, in der die Herrschenden Deutschlands zunehmend bestimmen, was in diesem Europa passiert, ohne dass sich an dem institutionellen Arrangement etwas geändert hätte. Im ersten und zweiten Weltkrieg wollten sie auch formell den Kontinent beherrschen; die jetzige Dominanz ist informell, aber tatsächlich. Der EU-Präsident Barroso kommt nach Berlin, um sich Order zu holen, wie es mit dem "Rettungsschirm" für den Euro weitergehen soll. Der Ministerpräsident Griechenlands, das durch die Schuldenkrise am meisten gebeutelt ist, tritt in Berlin an als Bittsteller, um der Kanzlerin und einer Versammlung von Wirtschaftsführern seine Versicherungen abzugeben, zwei Tage vor der entscheidenden Sitzung des Deutschen Bundestages.

Zugleich hat die Bevölkerung Deutschlands Zweifel an den Vorzügen dieser EU. Nach einer Umfrage, die die EU-Kommission in den EU-Staaten hat machen lassen, zweifelt eine Mehrheit der Deutschen daran, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit in der EU Vorteile für sie bringen würde. 65 Prozent der Befragten sind der Auffassung, der Binnenmarkt nutze nur den Großunternehmen, und 57 Prozent widersprachen der Aussage, der habe ihren Lebensstandard gehoben. Von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird dies als Vorbehalt gegen die EU und den "Rettungsschirm" für den Euro interpretiert. Tatsächlich ist es nur Ausdruck dessen, dass die Menschen sehr wohl wissen, was geschieht. Deutschland ist auch weiterhin "Vize-Exportweltmeister" (nach China): Das Land erwirtschaftete 2010 insgesamt einen Exportüberschuss von 153,5 Milliarden Euro. Darunter stammten 122,4 Milliarden (79,8 Prozent) aus der EU, 85,5 Milliarden (55,8 Prozent) aus der Eurozone. Es stimmt, dass Deutschland Hauptnutznießer des Euros ist - die Schulden der anderen sind die äußere Kehrseite des deutschen Gewinns, oder anders gesagt: Wenn die deutsche Politik die EU-Schuldner schlachtet, beseitigt sie die wichtigsten Käufer deutscher Waren. Das ist der Irrwitz der derzeitigen Schulden-Politik.

Zugleich weiß man in Deutschland sehr wohl, dass die Absenkung der Löhne und der Binnenkaufkraft die innere Kehrseite jener Exportkraft ist. Indem die EU, der Euro oder "die Griechen" zu Schuldigen gemacht werden, wird von der Verantwortung der deutschen Politik abgelenkt. Für die Versuche, den Kontinent formell und vor allem militärisch zu beherrschen, mussten die Herrschenden der Bevölkerung in Deutschland etwas von Herrenmenschentum einreden. Heute werden im Namen der Gleichheit und der Demokratie die von ihrer Arbeit lebenden Deutschen genauso schlecht behandelt, wie die in Griechenland oder in Portugal. Aber das ist ja auch ein Fortschritt. Nur müsste daraus nicht Skepsis, sondern eine neue Solidarität wachsen.


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Quelle:
Das Blättchen Nr. 20/2011 vom 3. Oktober, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 14. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2011