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DAS BLÄTTCHEN/1600: Er "erfand" die Schwarzen Löcher


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
19. Jahrgang | Nummer 12 | 6. Juni 2016

Er "erfand" die Schwarzen Löcher

von Dieter B. Herrmann


Schwarze Löcher zählen zu den besonders exotischen und damit auch für den Laien faszinierenden Objekten des Universums. Sie gelten heute als Endstadium der Entwicklung sehr massereicher Sterne. Der jeweilige Stern stürzt nach dem Abklingen seiner Energiefreisetzung soweit in sich zusammen, dass keine Materie, nicht einmal Licht seinem Gravitationsfeld zu entkommen vermag. Somit können sie auch nicht direkt beobachtet werden. Doch wie stieß man auf diese kosmischen Monster?

Der Mann, dessen Name auf immer mit jenen rätselhaften Objekten verbunden ist, heißt Karl Schwarzschild. Er starb am 11. Mai vor einhundert Jahren inmitten des I. Weltkriegs in Potsdam.

Schwarzschild zählt zu den bedeutendsten Wissenschaftlern des 19. und 20. Jahrhunderts. Zahlreiche Ehrungen in aller Welt wurden ihm zuteil, und an seiner ehemaligen Wirkungsstätte in Göttingen gab es ihm zu Ehren gerade ein ganztägiges Fach-Kolloquium der Ernst-August-Universität. Die Schwarzen Löcher tauchen allerdings erst ganz am Ende seines kurzen Lebensweges auf. Zuvor hat sich Schwarzschild, der 1873 als Sohn einer begüterten jüdischen Kaufmannsfamilie in Frankfurt am Main Geborene, mit einer Fülle anderer wissenschaftlicher Probleme befasst und überall in die Zukunft weisende Spuren hinterlassen. Ungewöhnlich ist nicht allein die thematische Breite seiner Forschungen, sondern auch der von ihm vollzogene Brückenschlag zwischen grundlegenden theoretischen Arbeiten und ganz praktischen Themen. Ihn beschäftigten experimentelle Fragen ebenso wie die Entwicklung instrumenteller Hilfsmittel, astronomische Beobachtungen gleichermaßen wie die Auswertung großer Datenmengen. Damit steht er einzigartig unter seinen Zeitgenossen da. Nur die wichtigsten von Schwarzschilds Arbeiten können hier kurz skizziert werden. Erstaunlich ist bereits der frühe Start seiner wissenschaftlichen Laufbahn, denn schon im Alter von 16 Jahren - noch vor seinem Abitur - veröffentlichte er erste geistreiche himmelsmechanische Arbeiten in den international renommierten Astronomischen Nachrichten.

Nach einem Studium der Astronomie in Straßburg und München promovierte er im Alter von 23 Jahren und ging dann für zwei Jahre als Assistent an die von dem Bierbrauer Moritz Kuffner geschaffene Privatsternwarte in Wien-Ottakring. Hier gelang ihm eine erste wichtige Entdeckung. Die Fotografie war damals noch eine junge Methode der astrophysikalischen Forschung. Neben den Spektren der Sterne, aus denen man chemische und physikalische Kenngrößen ermitteln konnte, spielte die Helligkeitsmessung von Sternen eine große Rolle. Doch die Vermessung der Helligkeiten mit Fotometern für jeden einzelnen Stern war ein mühevolles Geschäft. Schwarzschild fragte sich, wie man hier vielleicht die fotografische Platte einsetzen könnte, um gleichzeitig eine große Zahl von Sternen zu erfassen und deren Helligkeiten zu bestimmen. Dazu musste man allerdings wissen, wie die Helligkeit eines Sterns in Abhängigkeit von der Belichtungszeit mit der auf der Platte hervorgerufenen Schwärzung zusammenhängt. Auch die Farben der Sterne waren dabei zu berücksichtigen, denn die fotografischen Platten reagierten auf verschiedene Farben unterschiedlich. Schwarzschild gelang das Kunststück, und er schuf auf diese Weise die Grundlagen der fotografischen Fotometrie.

Gleich nach seiner Habilitation an der Universität München erhielt Schwarzschild einen Ruf an die Universität Göttingen und übernahm dort 1901 auch die Leitung der berühmten Universitäts-Sternwarte, deren erster Direktor der bedeutende Mathematiker Carl Friedrich Gauß gewesen war. Hier entstand als ein wichtiges praktisches Ergebnis seiner fotografischen Arbeiten die "Göttinger Aktinometrie" (1910), ein Katalog mit den bis dahin genauesten Sternhelligkeiten von knapp 4000 Objekten eines ausgewählten Himmelsabschnittes. In Göttingen begann Schwarzschild aber auch mit der Bearbeitung neuer sehr verschiedenartiger Themen. Einerseits widmete er sich der Physik der Sonne, andererseits aber auch der geometrischen Optik. Letztere war von der Wissenschaft seit den Arbeiten von René Descartes vor damals mehr als 270 Jahren vernachlässigt worden. Schwarzschilds bahnbrechende theoretische Untersuchungen (1905) führten zur Entwicklung neuartiger Teleskope und sind bis heute fruchtbar geblieben. Die größten Teleskope der Welt, ebenso wie auch das frei fliegende Hubble Space Telescope oder spezielle Empfänger für Röntgenstrahlung aus dem All basieren mehr oder weniger auf Schwarzschilds Theorie optischer Systeme. Die Sonnenphysik verdankt ihm die Klärung des Strahlungstransports durch die Einführung des sogenannten Strahlungsgleichgewichts. Bis dahin hatte man meist angenommen, dass der Austausch der Wärme der verschiedenen Schichten der Sonne, die innen viel heißer und dichter ist als außen, durch auf- und absteigende Gasströme zustande kommt, also gleichsam durch Konvektion. Schwarzschild kam zu dem Ergebnis, dass der Energietransport von innen nach außen viel effektiver funktioniert, wenn man eine hydrostatische Schichtung annimmt. Jede Schicht verschluckt ebenso viel Energie wie sie auch wieder ausstrahlt, das heißt, es besteht Strahlungsgleichgewicht. Sogar eine Überprüfung dieser theoretischen Überlegungen gelang ihm. Dazu benutzte er die Randverdunklung der Sonne. Die Sonnenscheibe zeigt nämlich im Teleskop eine deutlich erkennbare Abnahme der Helligkeit zum Rande hin. Am Sonnenrand blicken wir in höhere, kühlere und deswegen auch dunklere Schichten der Sonnenatmosphäre. Schwarzschild konnte zeigen, dass sich die Helligkeitsabnahme zum Rande hin bei konvektivem Transport der Wärme anders verhält als bei Strahlungsgleichgewicht. Die gemessene Randverdunklung bestätigte vollkommen seine theoretischen Überlegungen.

Ein weiteres Forschungsfeld Schwarzschilds galt dem Aufbau und der Bewegung der Sterne im Milchstraßensystem. Hier wurde er zu einem der Pioniere der Stellarstatistik. Denn nur mit statistischen Mitteln war dem Problem beizukommen. Eigentlich hätte man von allen Sternen der Galaxis die Entfernung kennen müssen, um ihre räumliche Verteilung zu beschreiben. Doch das ist wegen der großen Zahl der Sterne nicht möglich. Deshalb beschrieb Schwarzschild die Verteilung in Form einer Integralgleichung, in der unter anderem auch eine aus Beobachtungen zu bestimmende Größe enthalten ist (1910). Die Resultate sind allerdings heute nur noch historisch interessant, denn man wusste um diese Zeit noch nichts von jenen weit verbreiteten lichtverschluckenden Staubmassen, die das Licht ferner Sterne systematisch schwächen. Das Resultat war deshalb ein viel zu kleines Sternsystem mit nur etwa 30 000 Lichtjahren Durchmesser (tatsächlicher Wert: 100 000 Lichtjahre).

1909 ging Schwarzschild als Direktor an das Astrophysikalische Observatorium Potsdam, einer Forschungsstätte mit Weltgeltung auf dem noch jungen neuen Forschungsfeld. Nur fünf Jahre ungestörten wissenschaftlichen Wirkens waren ihm hier beschieden, denn 1914 brach der I. Weltkrieg aus. Wie viele hervorragende Geistesschaffende war auch Schwarzschild von dem weit verbreiteten Zustimmungstaumel ergriffen und meldete sich freiwillig zum Militäreinsatz. Zunächst als Leiter einer Feldwetterstation in Belgien tätig, kam er später auch nach Russland. Selbst unter diesen Umständen setzte er seine wissenschaftlichen Arbeiten fort. Dazu ließ er sich aktuelle Veröffentlichungen von Kollegen zusenden, um "auf dem Laufenden" zu bleiben. Einerseits beschäftigte ihn die Quantentheorie, insbesondere die Erklärung des Zustandekommens der Spektrallinien wasserstoffähnlicher Atome und die Aufspaltung solcher Linien im elektrischen Feld. Mit einer für ihn typischen Leichtigkeit und perfekten Beherrschung der erforderlichen mathematischer Methoden stellte er diese Arbeit binnen acht Tagen fertig und konnte die vollständige Übereinstimmung seiner Theorie mit den bereits bekannten Messergebnissen feststellen. Zwei weitere Arbeiten, die ebenfalls noch im Felde entstehen, befassen sich mit Einsteins inzwischen veröffentlichter Allgemeiner Relativitätstheorie. Einstein hatte für seine Theorie bei deren Präsentation vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften im November 2015 keine exakten Lösungen angegeben. Schwarzschild löst die Gleichungen erstmals exakt in geschlossener Form zunächst für einen Massenpunkt und dann auch für eine Flüssigkeitskugel. "Ich hätte nicht gedacht", schreibt ihm Einstein, "dass die strenge Behandlung des Punktproblems so einfach wäre." Für Einstein vielleicht nicht, für Schwarzschild aber schon. Die Konsequenzen waren verblüffend: Selbst Licht kann dem Schwerefeld einer Masse in einem bestimmten Abstand nicht mehr entkommen. Es handelt sich um die Grundgleichung für die Eigenschaften eines "Schwarzen Loches". Der Begriff allerdings wird von Schwarzschild nicht verwendet. Der Radius, von dem ab eine Masse die Eigenschaft eines "Schwarzen Loches" annimmt und den er in seiner Formel angegeben hatte, heißt jedoch heute völlig zu Recht "Schwarzschild-Radius". Freilich konnten weder Schwarzschild noch Einstein damals ahnen, dass es Objekte dieser Kompaktheit im realen Kosmos tatsächlich gibt. Die Masse unserer Erde müsste auf eine Kugel mit dem Radius von 1,8 Zentimeter komprimiert werden, damit die aus der Raumfahrt bekannte Fluchtgeschwindigkeit von 11,2 km/s, die eine Rakete benötigt, um dem Schwerefeld zu entkommen, auf die Lichtgeschwindigkeit von 300.000 km/s anwächst.

Schwarzschild kehrte schwer krank im Frühjahr 1916 aus dem Feld zurück. Eine heimtückische Autoimmunkrankheit hatte ihn befallen, der er noch am 11. Mai desselben Jahres erlag. Ein genialer Forscher, dessen Liebenswürdigkeit, Humor und Bescheidenheit von all seinen Zeitgenossen bezeugt wurde, hatte die Welt nach ungewöhnlich kurzem Aufenthalt verlassen. An seinen "Schwarzen Löchern" beißt sich die Wissenschaft noch heute die Zähne aus. Ständig erreichen uns neue Nachrichten. So wurde erst unlängst in einem relativ kleinen Sternsystem ein zentrales massives Schwarzes Loch entdeckt, das nicht weniger als 21 Milliarden Sonnenmassen beinhaltet. Unser eigenes Milchstraßensystem, das rund 200 Milliarden Sterne enthält, verfügt in seinem Zentrum über ein Schwarzes Loch von "nur" 4,2 Millionen Sonnenmassen. Neuerdings hofft man, die Allgemeine Relativitätstheorie ein weiteres Mal direkt am Rande eines Schwarzen Loches zu überprüfen, wo die Verzerrung der Raumzeit maximal sein müsste. Ein Netzwerk von neun über alle Kontinente verteilten Radioteleskopen soll dabei zum Einsatz kommen.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 12/2016 vom 6. Juni 2016, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 19. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juni 2016

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