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DAS BLÄTTCHEN/1685: Kein "Hakuna Matata" in der NATO


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
20. Jahrgang | Nummer 8 | 10. April 2017

Kein "Hakuna Matata"* in der NATO

von Wulf Lapins, Pristina


Die Europäer leisteten zu wenig für ihre Sicherheit. Die USA seien es leid, in der NATO fortgesetzt den bei weitem höchsten Anteil an den Kosten für den Beistand zu schultern, während die Verbündeten demgegenüber in der Hängematte niedriger Militärbudgets lägen und sich für die eingesparten Summen hohe Lebensstandards leisteten.

So beschallt seit Amtsantritt von Donald Trump der laute Weckruf in Endlosschleife die Hauptstädte der europäischen Partner. Und wenn die Europäer nicht endlich mehr Geld für ihre Verteidigung beisteuerten, so die unverhohlene Warnung aus Washington, würden die USA "moderate its commitments", also Anteil, Beitrag und Mitwirkung im Bündnis verringern. Was schlussendlich sogar ein Überdenken der Beistandsklausel gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrages bedeuten könnte.

Die Reaktionen darauf bei den Regierungen der europäischen Allianzmitglieder oszillieren in der Bandbreite zwischen beklemmender Ratlosigkeit, mitunter gar Entsetzen, und der politischen Beschwichtigung, dass nichts so heiß gegessen wie es gekocht werde.

Die Abwiegler verweisen auf die schon zur Tradition geronnenen Mahnungen und Drohungen der USA seit Anfang der 1970er Jahre: Mehr Lastenausgleich oder weniger militärische Gesichertheit. Und tatsächlich - liest man hierzu einen Beitrag von Theo Sommer vom Februar über den gegenwärtigen Zoff wegen der auseinanderklaffenden transatlantischen Militärbudgets in Synoptik mit einem Artikel seines früheren Redaktionskollegen Kurt Becker vom Oktober 1970, reibt man sich wie bei einem Déjà-vu die Augen. Denn bereits vor 47 Jahren stritten sich die USA und Europa über die Kostenverteilung der Bündnisverteidigung. Lastenausgleich hieß das damals. Die Regierung unter Richard Nixon forderte eine signifikante Zahlungsübernahme für die amerikanische Truppenstationierung in Europa.

Die Pessimisten hingegen sind überzeugt, dass Präsident Trump es wirklich ernst meint mit dem Junktim: Nur wer mehr zahlt, bekommt künftig auch militärische Hilfe. Aber viel mehr noch. Nur einen Tag nach dem gemeinsamen Treffen mit Kanzlerin Merkel twitterte Trump, wie als eine Art Rückreise-Danaergeschenk, dass Deutschland den USA und der NATO "riesige Summen" schulde und für die "gewaltige und sehr teure Verteidigung" nachzahlen müsse.

Das Weiße Haus als Inkassobüro?

Im Kern geht es bei dem US-Postulat darum, dass alle NATO-Länder zwei Prozent ihres Bruttoinlandprodukts (BIP) für ihre Verteidigungshaushalte ausgeben sollen. Wer sich hier nun jedoch empört oder erschauert gibt, weil bei guter Wirtschaftsleistung dann auch der Rüstungsaufwuchs konsequent hoch ausfällt, hat vergessen, seine Hausaufgaben zu machen. Denn die Trump - Administration fordert lediglich etwas ein, wozu sich die NATO-Mitglieder selbst verpflichtet haben. Deren Staats- und Regierungschefs vereinbarten nämlich bei ihrem Treffen im Rahmen des Nordatlantikrates in Wales am 5. September 2014, "den Trend der rückläufigen Verteidigungshaushalte umzukehren", und dass "Bündnispartner, deren Anteil vom BIP für Verteidigungsausgaben gegenwärtig unter diesem Richtwert liegt [...], "darauf abzielen, die realen Verteidigungsausgaben im Rahmen des BIP-Wachstums zu erhöhen" und "sich innerhalb von zehn Jahren auf den Richtwert von 2 Prozent zuzubewegen".

Wie ein katholisches Dogma liest sich das nicht. In diesem Sinne relativierte der Wehrbeauftragte der Bundeswehr, Hans-Peter Bartels, (SPD) auch jüngst die Bündnisvereinbarung als lediglich "eine Art regulative Idee, damit die heute sehr unterschiedlichen Ausgabenquoten der NATO-Nationen sich annähern." Und selbst Bundeskanzlerin Merkel steht in einer Art Ja-aber-Haltung dazu: "Diese Verpflichtung hat sich bis heute nicht verändert. Das heißt, wir beabsichtigen weiter, diesen Weg zu gehen [...] Wir müssen natürlich die zusätzlichen Mittel auch absorbieren können."

In seiner SWP-Analyse mit dem bemerkenswerten Titel "Die Zwei-Prozent-Illusion der NATO" vom August 2014, einen Monat vor dem Gipfel in Wales, behauptete der Autor Christian Mölling daran, dass die Allianz sich sogar bereits 2002 zum Zwei-Prozent-Ziel bekannt hatten und die USA stets auch die Einhaltung (vergeblich) eingeforderten. Demzufolge trägt also das Bündnis seit nunmehr 15 Jahren also diese (unerfüllte) Selbstverpflichtung wie eine Monstranz vor sich her? Zur Erinnerung: 2002 wurde der 1997 etablierte Gemeinsame Ständige NATO-Russland-Rat zum NATO-Russland-Rat zur gegenseitigen Konsultation, Kooperation und gemeinsamen Entscheidungsfindung erweitert und ausgebaut. Die Zwei-Prozent-Marge hatte zu dem Zeitpunkt folglich nichts mit einer perzipierten "russischen Bedrohung" oder der Bekämpfung des IS zu tun. Letzterer existierte damals noch gar nicht.

Mölling machte seine Angabe allerdings ohne jeden Quellennachweis, und leicht nachzuprüfen ist, dass bei keinem der wichtigen NATO-Treffen 2002 - der Staats- und Regierungschefs in Prag, der Außenminister in Reykjavík sowie der Verteidigungsminister in Brüssel - eine Zwei-Prozent-Formel in den Abschlussdokumenten erwähnt wurde.

Doch hier geht es nicht um Archivforschung auf der Suche nach dem Ursprung dieser Formel, vielmehr soll nach dem sicherheitspolitischen Rational und den Implikationen einer Fixierung auf Militärausgaben in Höhe von zwei Prozent des jeweiligen BIP gefragt werden. (Und zwar unter ausdrücklicher Ausklammerung der Urfrage westlicher militärisch gestützter Sicherheitspolitik: Ist das Bündnis real überhaupt in der Lage zu gewährleisten, im Verteidigungsfall nicht all das, was verteidigt werden soll, zu zerstören? Ob also der Bündnisraum überhaupt kollektiv vor einem Angriff zu schützen, respektive ein solcher aussichtsvoll abzuwehren wäre. Dies hatte schon 1971 ein Forschungsteam unter Carl Friedrich von Weizsäcker als das Grunddilemma westlicher Militärpolitik herausgearbeitet.)

Zum eigentlichen Thema: Keine Zwei-Prozent BIP/Verteidigungsausgaben - Cosi fan tutte. So machen es alle. Nein, nicht alle 28 NATO-Mitglieder. Denn die USA, Griechenland, Großbritannien, Estland und Polen erfüllen die "Pflichtvorgabe" bereits jetzt - und nicht erst 2024, also in zehn Jahren, wie es in Wales festgelegt worden war. Für alle anderen hatte die Marge wohl eher nur eine symbolische Bedeutung. So auch für Deutschland. Es liegt (2016) mit seinen mageren 1,19 Prozent im Ranking der Zwei-Prozent Apologeten im unteren Feld auf Platz 16, hinter Albanien (1,21) und vor Dänemark (1,17). Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen folgt inzwischen dem politischen Basiswissen, dass Stimmungen auf der politischen Bühne (USA) oft als manifeste Faktoren wirken, und ist abgekehrt von der Kultur der militärischen Ausgabenbeschränkungen. Vor noch nicht so langer Zeit nannte man diese zufrieden und stolz noch Friedensdividende. Doch nun ist Schluss mit lustig. Russland und den IS erklärt sie zum "Treiber" verschärfter Unsicherheit und bemüht in Richtung Washington die bekannte Demutsformel "Wir haben verstanden.", verbunden mit der Zusicherung der Zwei-Prozent-Planerfüllung: "Wir haben den festen Willen, dies stufenweise zu erreichen."

Außenminister Sigmar Gabriel steht der Zwei-Prozent-Monstranz hingegen sehr skeptisch gegenüber. Zu Recht verweist er auf das schiefe Bild, einen rapiden Aufwuchs des Verteidigungsbudgets nicht als einzigen und gesonderten Faktor der Gewährleistung von Sicherheit und Schutz zu definieren. Deutschland liefere schließlich im Rahmen seiner Entwicklungshilfe wie auch der enormen finanziellen Aufwendungen für die Flüchtlingsintegration signifikante Beiträge im Rahmen eines erweiterten Sicherheitsbegriffes. Der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rainer Arnold, sekundiert: Der Indikator zwei Prozent würde 66 Milliarden Euro Verteidigungsausgaben gegenüber den für 2017 geplanten 37 Milliarden bedeuten.

Wenn sozialdemokratische Politiker in diesem Kontext zudem davor warnen, dass mit einem solch hohen Budget Deutschland zur stärksten Militärmacht in der EU aufsteigen würde, weist diese Mahnung zwar die richtige Denkrichtung - ist aber final nicht zwangsläufig. Denn auch die Militäraufwendungen anderer größerer europäischer Mitglieder, die derzeit unter der Zwei-Prozent-Marke liegen, würden beim Erreichen des Klassenziels zwangsläufig ebenfalls zunehmen. Immerhin aber, zwei Prozent BIP sind in Deutschland eine andere Größenordnung als in Italien oder Spanien.

Gleichwohl, derzeit übersteigt der Verteidigungshaushalt von Frankreich den von Deutschland ohnehin. Im weltweiten Ranking von militärischer Stärke auf der Basis von 50 Faktoren liegt Frankreich auch auf Platz fünf, Deutschland wird an neunter Stelle positioniert. Der Unsinn solcher Listungen, denen die hypothetische Annahme abstrakt-militärischer Duellsituationen zugrunde liegt, die in dieser die tatsächliche Komplexität simplifizierenden Form nie auftreten werden, ist offensichtlich. Ganz abgesehen von der politischen Frage: Cui bono? Also Hände weg von Narrativ-Bildungen: Wer ist die mächtigste Militärnation in EU-Europa?

Die Paradoxie der gegenwärtigen Gegenüberstellung von Militärausgaben und BIP, wie die USA sie den Europäern vorhalten, verdeutlicht sich bei Griechenland besonders. Dessen Verteidigungsausgaben machten 2016 2,38 Prozent des BIP aus. Dies sagt jedoch nichts über die Effizienz des griechischen Militärs aus. So würde auch kein NATO-Staat auf die Idee kommen, die Hellenische Republik - sie steht dem nominalen Anteil des Verteidigungssektors am BIP nach im NATO-Ranking direkt hinter der USA (3,61 Prozent/BIP) - als zweiten Sicherheitsanker in der Allianz zu bezeichnen. Homerisches Gelächter würde in solchem Falle durch das NATO-Hauptquartier in Brüssel schallen.

Den Vorwurf von angeblichem europäischem sicherheitspolitischen Schmarotzertum begründet die Trump-Administration damit, dass die USA 2016 mit 664 Milliarden Dollar fast 72 Prozent der gesamten Verteidigungsaufwendung in der NATO getragen haben. Der 26-Prozent-Anteil der 26 europäischen Partner mache hingegen nur magere 239 Milliarden Dollar aus. (Auf Kanada entfallen die restlichen zwei Prozent.) Nun ist es eine Binsenwahrheit, dass statistische Daten allzu oft interessengeleitet verwendet werden. So auch hier. Denn für die europäische Sicherheit unmittelbar geben die USA nur etwa 28,2 bis 30,2 Mrd. Dollar aus, was lediglich 4,2 bis 4, 5 Prozent ihres enormen Militäraufkommens entspricht. Der Großteil des Militärhaushalts wird demnach nicht für die kollektive Sicherheit im NATO-Verbund, sondern für singuläre US-Sicherheitsinteressen im Weltmaßstab ausgegeben.

Dass die Militärbudgets der NATO-Länder sich aus keinen einheitlichen standardisierten Kennziffern zusammensetzen, ist ein weiteres Manko im Hinblick auf ihre Vergleichbarkeit. Es ist eben ganz unterschiedlich geregelt, welche verteidigungsrelevanten Einzelposten gegebenenfalls unter anderen Haushaltsetats verbucht werden. Des Weiteren differiert der Anteil von Positionen im Wehretat. Ein bekanntes Beispiel sind die Kosten für die Pensionszahlungen. In Deutschland machen sie 17 Prozent des Verteidigungshaushalts aus, in Frankreich 24 Prozent, in Belgien gar über 30 Prozent.

Nachdem nun die Debatte über eine gerechtere transatlantische Kostenteilung eröffnet wurde, die die Europäer aller Wahrscheinlichkeit nach dieses Mal nicht wie früher einfach werden aussitzen können, sollte aus der Not eine Tugend gemacht, und die transatlantische Kontroverse als Chance zu begriffen werden. Die NATO sollte Russland zum Aufbau neuer Vertrauensbildung einladen, eine gemeinsame Diskursplattform über Militärdoktrinen und Militärhaushalte könnte am Anfang stehen. Denn auch Moskau gerät bei einer Umsetzung der Zwei-Prozent-Zielmarke in der Allianz unter Druck, im Rahmen seiner Rüstungspolitik darauf zu reagieren. Das wäre vor dem Hintergrund des wechselseitigen tiefen Misstrauens sicher ein langer und beschwerlicher politischer Jakobsweg. Gefragt wären Geduld, Beharrlichkeit, Empathie, Kompromissbereitschaft und vor allem der Wille, das Richtige in einer schwierigen politischen Zeit - Kooperation statt Konfrontation - anzustreben. Das wäre den Schweiß der Edlen aber allemal sehr viel mehr wert als jegliche Zwei-Prozent-Rabulistik.


* Kennern des Disney-Zeichentrickfilmes "Der König der Löwen" dürfte dieses afrikanische Swaheli-Sprichwort kein Rätsel aufgeben; salopp übersetzt besagt es: "Alles in Butter!"

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 8/2017 vom 10. April 2017, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 20. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. April 2017

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