Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


DAS BLÄTTCHEN/1815: Flanieren an der Seine - Schabbat Schalom im jüdischen Marais


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
21. Jahrgang | Nummer 15 | 16. Juli 2018

Flanieren an der Seine: Schabbat Schalom im jüdischen Marais

von Gertraude Clemenz-Kirsch


Das Marais, deutsch der Sumpf, liegt zwischen der Place de la République und der Place de la Bastille im dritten und vierten Arrondissement von Paris. Lange Zeit war es ein Sumpfgebiet außerhalb der ersten Stadtmauer, bis man im 13. Jahrhundert mit der Trockenlegung begann. Im 17. Jahrhundert siedelte sich der Adel an, bis er im Zuge der Revolution vertrieben wurde. So findet man dort noch heute seine reichen Stadtpaläste wie das Hôtel Salé, das heutige Musée Picasso oder das Hôtel Carnavalet mit einer umfangreichen Präsentation der Pariser Stadtgeschichte.

Schon Anfang des 13. Jahrhunderts hatten sich die Juden im Marais ihr eigenes Zuhause geschaffen. Später verstreuten Pogrome sie in alle Winde, aber irgendwann kamen die Menschen wieder, auch durch die Gesetze Napoleons - bis sie erneut unter den Nazideutschen mit der Beteiligung des Vichy-Regimes deportiert und vernichtet wurden. Zahlreiche Tafeln wie die folgende erinnern noch heute daran: "Verhaftet durch die Polizei des Gouvernements von Vichy, Helfeshelfer der Nazi-Okkupanten, wurden mehr als 11.000 Kinder von 1942 bis 1944 von Frankreich nach Auschwitz deportiert und ermordet, weil sie als Juden geboren wurden."

Diese Schicksale haben den Einwohnern des jüdischen Viertelchens, wie das in Paris Pletzl genannt wird, einen Zusammenhalt gegeben, der noch immer besteht. Wie kommt es, fragt man sich, dass dieser Stadtteil so in sich geschlossen jüdisch blieb? Einen Grund nennt Esther Benbassa in ihrem Buch "Integration ist nicht Assimilation - Gedanken zur Geschichte der Juden in Frankreich": "Die Assimilation war für die Mehrheit der Juden Frankreichs keineswegs erforderlich, um in die öffentliche Sphäre vorzudringen und Zugang zu höchsten Ämtern zu erlangen, auch wenn es durchaus Hindernisse auf diesem Weg gab. Die Strukturen des jakobinischen Nationalstaates wiesen der Religionsausübung ihren Ort in der Privatsphäre zu, was die Juden davor bewahrte, sich mit den Worten Heines das Entréebillet in die Gesellschaft um den Preis einer Konversion erkaufen zu müssen [...] Hier liegt auch ein wesentlicher Aspekt der im Verhältnis zum übrigen Europa einzigartigen jüdischen Erfahrung in Frankreich, der dazu beitrug, den Diskurs der Juden über sich und die Nation, ihre Selbstwahrnehmung als Juden und Bürger sowie ihr Urteil über das Land, das ihnen die Staatsbürgerschaft gewährt hatte, zu formen. Ebenso groß wie die Illusionen und Hoffnungen war natürlich auch die Enttäuschung bei jedem Vertrauensbruch zwischen den citoyens jüdischer Konfession und der Nation, sei es anlässlich der Dreyfus- Affäre, antisemitischer Schübe oder unter dem Vichy-Regime."

Wie es gerade hier im Marais zur Ansiedlung der Juden kam, ist bei Nina Gorgus zu lesen: "Dadurch, dass sich das Marais mit der Französischen Revolution und dem Wegzug der Adligen im 18. Jahrhundert zum Arme-Leute-Viertel mit preiswerten Wohnungen ohne Komfort wandelte, konnten sich viele Migranten, darunter auch Juden, niederlassen. Für ihre Ansiedlung sprach zudem die unmittelbare Nähe des Handelsortes Carreau du Temple. Das Pletzl, wie jiddisch sprechende Immigranten das Viertel zwischen der Rue de Rivoli und dem Handelszentrum Carreau du Temple seit Beginn des 20. Jahrhunderts nannten, war für viele die erste Station in Paris [...] Zwischen 1900 und 1930 richteten sich hier Juden aus Osteuropa, vor allem aus Polen und Russland, ein. Paris galt, trotz Dreyfus-Affäre und einer starken antisemitischen Strömung als die Stadt Europas, in der ein sozialer Aufstieg möglich war."

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg zogen osteuropäische Juden zu. Die Finkelsztajns etwa kamen damals aus Polen. Dora und Itzig Finkelsztajn erwarben 1946 eine Bäckerei in der Rue des Rosiers, im Herzen des Marais. Sie waren glücklich, den Leuten die Spezialitäten aus Mitteleuropa und Russland in großväterlicher aschkenasischer Tradition anbieten zu können. Schon die nächste Generation erfand neue Kreationen, doch immer in ihrer ostjüdischen Tradition hergestellt. Und noch heute gibt es dort die unterschiedlichsten Sorten Vatrouchka: die eine mit Vanille und Weintrauben, die andere mit Kirschen oder Zimt-Orange, die nächste erfrischend mit Zitrone - alles gefüllt mit einem cremigen Quark, der von selbst im Munde zergeht. In der Auslage duften die unterschiedlichsten Strudel, der Wiener mit Äpfeln, Mandeln, Rosinen, Orangeat und Zimt, der polnische mit Mohn und der rumänische Strudel mit Mandeln und Trauben. Dazu Brotsorten, deren Namen schon sagen, wie sie schmecken werden: Pain au cumin, Baigel, Halès. Und Matzen? Dazu hatte schon Egon Erwin Kisch die richtige Antwort: "Als der alte Moses vor dreieinhalbtausend Jahren seine strenge Verordnung erließ, zur Erinnerung an die Leiden der Wüstenwanderung sei alljährlich eine Woche lang ungesäuertes Brot zu essen, ahnte er [...] nicht, was aus diesem Befehl werden würde. Im Pariser Ghetto Le Plätzl bekommt man das ganze Jahr Mazzes zu kaufen, aus einer Sache der Entsagung, aus einer Fastenspeise, ist ein Leckerbissen geworden."

Und wie ging es zu im Pletzl der Nachkriegsjahre, als auch die Finkelsztajns dort ankamen? Beim Stöbern im Klatsch- und Tratscherbe des Marais findet sich Aufschlussreiches dazu:

"Jeder lebte mit offenen Fenstern. Man wusste immer, was bei dem oder dem so passierte. Da kam sogar mal ein Paar vor, das ein Durchgangszimmer hatte: Da war Bewegung drin! Aber heute haben die Leute ihre Vorhänge zugezogen, man weiß gar nicht mehr, was bei ihnen los ist", bedauert Jean Dizambourg.

"Als die Nachbarin zu Hause ihren Sohn gebar, hat sie sich ans Fenster gestellt und ihn den Nachbarn gezeigt. Alle haben applaudiert", erinnert sich Lina Zajac.

"Nach zehn Uhr abends musste man bei der Concierge klingeln, sich gut die Schuhe abstreifen, seinen Namen und 'cordon s'il vous plaît' rufen. Wenn ich spät abends nach Hause kam, ging ich mit meinen Schuhen in der Hand die Treppen hoch, aber so gut wie immer erwischte mich eine beißende Bemerkung von hinten. Die Concierge schätzte meine nächtlichen Ausflüge gar nicht. Aber nicht das diskreteste Ereignis im Leben der Bewohner ihres Hauses entging ihr. Der unzähmbare Zerberus war konkurrenzlos im Erkunden verschlossener Briefumschläge. Sie übergab einem die Post immer mit nettem Kommentar. Wehe, es waren Steuerforderungen oder Mietrückstände", weiß Alphonse Halter zu berichten.

Der Buchhändler Rosenberg in der Rue des Ecouffes stellte sich gern vor seine Ladentür, um die Geschehnisse besser beobachten zu können - zum besonderen Leidwesen von Charles Schonbuch, der im Haus gegenüber wohnte: "Wenn man eine Freundin mitnahm, sofern die Eltern nicht zu Hause waren, tat er lauthals über die Straße hinüber sein Missfallen kund. Heimlichkeiten waren schwierig."

In der Rue des Ecouffes, eine winzige Querstraße der Rue des Rosiers, ist der Besuch in Nummer 18, in der Synagoge, jederzeit willkommen. Sie wurde zum Andenken an den jungen Tzadik Roger Fleischman, einen Medizinstudenten, der im Alter von neunzehn Jahren gestorben war, gegründet. Gegen eine Spende beim freundlichen Synagogendiener darf man den Raum in Ruhe betrachten. Wenn man freundlich darum bittet, öffnet der Diener den Thoraschrein, der hinter einem Vorhang verborgen ist, und präsentiert dessen Schätze. Wertvolle Rollen, umhüllt mit Stoff, dem Thoramantel, ziehen den Blick an. Auf jeder dieser Rollen glänzt die Thorakrone, und um die überaus reich verzierten und bestickten Mäntel hängt ein zierliches Thoraschild mit eingravierten Schriften. Ein Thorazeiger liegt dabei, denn keiner darf die Schrift mit bloßer Hand berühren. Wenn man zum Laubhüttenfest dort ist, wird im Hof der Synagoge eine große Laubhütte mit Früchten unter dem Dach gebaut.

Der Rückweg über die Rue Geoffroy-l'Asnier führt den Besucher vorbei am größten europäischen Zentrum für Information und Forschung über die Geschichte des Holocaust. Das Mémorial de la Shoa, das 2005 eröffnet wurde, ist ein Ort der Erinnerung, eine Mauer, in die die Namen von 76.000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern eingraviert sind, die aus Frankreich deportiert worden sind.

Noch 2008 konnte die Autorin an dieser Mauer in sicherer Ruhe verweilen. Heute müssen Militärs mit aufgepflanzten Schnellfeuergewehren und parkenden Polizeiautos Synagogen und jüdische Schulen in Frankreich schützen. Präsident Macron warnte in seiner jüngsten Rede vor dem Conseil Représentatif des Institutions Juives de France (Crif), dem Dachverband der jüdischen Organisationen Frankreichs, dass man kollektiv dem Irrglauben erlegen gewesen sei, der Antisemitismus in Frankreich sei endgültig überwunden; der sei vielmehr nach wie vor lebendig.

Trotzdem sollte sich niemand davon abhalten lassen, dieses sanguine Viertel zu besuchen!

*

Quelle:
Das Blättchen Nr. 15/2018 vom 16. Juli 2018, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang