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DAS BLÄTTCHEN/1863: Afghanistan fallen lassen, zum Zweiten


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
22. Jahrgang | Nummer 1 | 7. Januar 2019

Afghanistan fallen lassen, zum Zweiten

von Thomas Ruttig


Nun ist es wohl passiert, schneller als erwartet: US-Offizielle bestätigen bereits anonym, Trumps Entscheidung über einen Truppenteilabzug aus Afghanistan - bis zur Hälfte der etwa 14.000 Soldaten - sei gefallen.

Also erst der Abzug aus den Kurdengebieten in Syrien, wo die Kurden Assad und Erdogan zum Fraß vorgeworfen werden, und jetzt Afghanistan. Trump übersetzt seine America-First-Politik ins Außenressort, ohne Rücksicht auf Verbündete.

Nicht dass so etwas zum ersten Mal geschieht: Bush senior, nach seinem Ableben gerade noch als "einer der außenpolitisch erfolgreichsten US-Präsidenten" (ARD-Tagesschau) gepriesen, opferte Iraks aufständische Schiiten und Kurden Saddam Hussein. Auch die Afghaninnen und Afghanen sind ja schon einmal vom gesamten Westen im Stich gelassen worden, nach dem Abzug der damals sowjetischen Invasoren 1989.

Über ein paar Zwischenstufen führte das zur Herrschaft der rückwärtsgewandten, misogynen, menschenrechts- und demokratiefeindlichen Taleban. Während das hierzulande weitgehend vergessen ist, auch bei den meisten Politikern und Parlamentariern (ohnehin fehlt ein institutionelles Gedächtnis, was Afghanistan betrifft), ging es in die afghanische nationale Erzählung ein. Der mögliche Beginn des amerikanischen Afghanistan-Rückzugs wird ihnen einen Schauer den Rücken hinunter jagen.

Politisch-strategisch passt selbst ein Teilabzug jetzt überhaupt nicht. Immerhin hat Trump gerade einen Sonderbeauftragten geschickt, mit den Taleban ein Ende des Kriegs und - dann! - einen Truppenabzug herbei zu verhandeln. (Nicht dass dieser ein großer Hoffnungsträger ist. Zalmay Khalilzad, selbst afghanischer Herkunft, passt als business-orientierter Neocon aus der Rand-Stiftung eigentlich gut zu Trump. Er hat sich über die letzten Jahre per Consulting-Unternehmen auch mehr um den Zugriff auf afghanische Gas-, Öl- und Kupfervorkommen gekümmert, die die afghanische Regierung an chinesische Investoren vergeben hat. Khalilzads Mitarbeitern zufolge stünden diese aber den Amerikanern zu, die ja immerhin "blood and money" in Afghanistan investiert hätten.)

Stellt sich die Teilabzugsentscheidung Trumps als wahr heraus, schwächte das deutlich die eigene Verhandlungsposition und die der lokalen US-Verbündeten beziehungsweise -Klienten, der Ghani/Abdullah-Regierung. Trump wiederholte damit Obamas Fehler von 2014, den er selbst häufig als Fehlentscheidung angeprangert hat: Obama hatte damals auch einen Truppenabzug mit Endtermin angekündigte. Die Gegenseite musste dann bis zu diesem Termin einfach nur überleben (was die Taleban auch taten). Allerdings wurde der Abzug dann auch gestoppt. Eine Frage ist nun, ob es jetzt, wie unter Obama, wieder einen Ausstieg aus dem Abzug gibt. Nach einer Zusicherung, zur afghanischen Regierung zu halten, sieht das jedenfalls nicht aus.

Das gilt selbst, wenn der Teilabzug zahlenmäßig dramatisch aussieht, es inhaltlich vielleicht aber gar nicht ist. Einiges hängt davon ab, welche Einheiten genau Trump abziehen will. Die Special Forces und ähnlich kämpfende Komponenten werden wohl im Land bleiben. Wahrscheinlich wird eher die Ausbildungskomponente ab- und Druck aufgebaut, dass andere NATO-Staaten diese Lücke füllen. Das ist meines Erachtens sowieso schon immer mehr oder weniger eine Feigenblattoperation gewesen.

Jonathan Schroden, der 2013 vom US-Kongress beauftragt worden war, eine Einschätzung der Lage in Afghanistan zu schreiben, meldete sich gerade mit einem Update zu Wort und erklärte, woran es den afghanischen Streitkräften mangelt. Er sagte, trotz einiger Fortschritte bei der Mobilität der afghanischen Truppen blieben diese "in vielen ihrer selbst einfachsten Fähigkeiten beklagenswert von Koalitionsunterstützung abhängig". Neben der Mobilität seien das "Luftunterstützung; Logistik [also Versorgung, Wartung, Vertragsvergabe]; Informationssammlung und Analyse; Kommunikation und Koordination zwischen den verschiedenen bewaffneten Komponenten [also Armee, Polizei, Geheimdienst, die verschiedenen Milizen und Quasi-Milizen]; Rekrutierung und Ausbildung von Personal mit spezialisierten Fähigkeiten. Insgesamt seien die afghanischen Sicherheitskräfte Jahre davon entfernt, unabhängig diese Funktionen auszufüllen. Internationale Umsetzungshilfe - einschließlich von Beratern - werde für sie essentiell für wenigstens fünf bis zehn Jahre sein - und sogar noch länger für die Luftstreitkräfte. Wenn hier einiges wegfalle, verschlechtere sich die Situation der afghanischen Regierungsseite tatsächlich drastisch.

Auch politisch kann das einen Domino-Effekt auslösen. Afghanische Milizen (und mit ihnen ihre Kommandeure und Warlords) könnten zu dem Eindruck kommen, sie stünden jetzt auf der Verliererseite und - wie oft gehabt in Afghanistan - die Seite zum mutmaßlichen Gewinner wechseln. Die für April 2019 geplante Präsidentenwahl könnte im Chaos untergehen. Die Taleban können sich genüsslich zurücklehnen und warten, ob die Kabuler Regierung zerbröselt oder zusammenbricht.

Hinzu kommt: Bei Trump ist das alles keine Politik, sondern nur noch Ressentiment. Man erinnere sich an seine Vor-Wahl-Tweets: "Unsere Truppen werden von den Afghanen getötet. Wir vergeuden dort Milliarden. Wir bauen Straßen und Schulen für Leute, die uns hassen." Seine "Intuition" lege ihm einen Abzug nahe, aber er habe sich von den Generälen überreden lassen, den Afghanen noch eine Chance zu geben. (Ein weiterer dieser Generäle, Verteidigungsminister Mattis, ist gerade zurückgetreten.)

Trumps Ansichten sind natürlich grob vereinfacht. Vergurkt haben die Amerikaner ihr Ansehen bei den Afghanen mit ihrer Besatzermentalität selbst. Denn: Die Afghanen würden die Amerikaner gern lieben, immerhin hatten sie ihnen die Taleban vom Leib geschafft. Aber dann wollten ihre Soldaten nur noch "ass kicken" (also in Ärsche treten, ein beliebter Ausdruck von ihnen), also so viele Taleban wie möglich töten, was aber häufig die Falschen traf - zivile Opfer. Und wenn einen die eigenen Ausbilder ständig als "motherfucker" bezeichnen (nicht dass es diesen Ausdruck in afghanischen Sprachen nicht auch gäbe), dann ist es auch kein Wunder, wenn mancher afghanische Soldat seine Knarre mal umdreht und abdrückt.

In den sozialen Medien und regierungsseitig mehren sich jetzt trotzige Reaktionen. Ein Abzug werde "keinen Einfluss" auf die Sicherheitslage haben, heißt es aus dem Präsidentenbüro, denn schon in den letzten Jahren sei man bereits "voll in Kontrolle" gewesen. Nebbich! Jeder in Afghanistan weiß, dass Kundus 2015 und 2016, Ghasni 2018 und andere Städte dauerhaft an die Taleban gefallen wären, hätten nicht US- und andere Spezialkräfte eingegriffen und in Kundus 2015 zum Beispiel die Eroberung des Flughafens durch die Taleban in letzter Minute abgewendet. Dann hätte die Regierung keine Verstärkungen mehr heranführen können und die Taleban hätten die Möglichkeit gehabt, von Kundus aus Provinz für Provinz aufzurollen.

In jedem Fall werden es die Afghanen sein, die die US-Entscheidung ausbaden werden müssen. Wieder einmal. Sicher, das Land wird überleben, wie es in den sozialen Medien hieß. Die Frage ist nur, wie dieses Leben aussehen wird: zunächst eine Regierung in Kabul, die intern zerstritten und oft dysfunktional ist und sich noch ein paar Jahre durchwurschtelt, solange nicht auch der Geldhahn zugedreht wird? Fraktions- oder Bürgerkrieg, als 1990er reloaded? Oder beides, je nach Gegend? Oder akuter Zusammenbruch und ein Neo-Taleban-Regime, eventuell verstärkt durch die Seiten wechselnde Warlords, die ohnehin ebenfalls größtenteils Islamisten sind, und mit ein paar Mädchenschulen und der Verpflichtung, al-Qaeda und den IS nicht ins Land zu lassen, damit die internationalen Proteste nicht gar so laut werden?

Wenn die Taleban Champagner trinken würden, könnten sie jetzt die Flaschen entkorken.


Mehr Informationen bei Afghanistan Analysts Network (Kabul/Berlin):
https://www.afghanistan-analysts.org/

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 1/2019 vom 7. Januar 2019, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Januar 2019

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