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DAS BLÄTTCHEN/1932: Nukleare Rüstungskontrolle auf der Kippe


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
22. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2019

Nukleare Rüstungskontrolle auf der Kippe

von Jerry Sommer


2010 haben die USA und Russland den sogenannten New-START-Vertrag abgeschlossen. Darin haben sich beide Länder verpflichtet, ihre weitreichenden strategischen Nuklearwaffen zu begrenzen: auf jeweils maximal 1550 Sprengköpfe und 700 Abschussvorrichtungen. Im Februar 2021 läuft der Vertrag aus. Er kann allerdings um bis zu fünf Jahre verlängert werden. Darauf drängt Russland schon seit langem. Die Trump-Administration jedoch hat sich in dieser Frage noch nicht festgelegt. Eine Entscheidung soll es erst in fünf Monaten, im Februar geben. Der Nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten, John Bolton, hat allerdings wiederholt erklärt, es sei unwahrscheinlich, dass der Vertrag verlängert werde.

Im April wurde bekannt, dass Donald Trump seine Administration angewiesen hat, Vorschläge für eine trilaterale Rüstungskontrolle zu erarbeiten. Diese soll neben den USA und Russland auch China einschließen. Viel zu viel Geld werde für Rüstung, inklusive Atomwaffen ausgegeben, sagte er ebenfalls im April. Bilaterale Rüstungskontrolle zwischen Russland und den USA sei nicht mehr zeitgemäß, behaupten auch hohe US-Regierungsvertreter. Die Chancen für eine Einbeziehung Chinas sind derzeit allerdings gleich Null, sagt Oliver Meier von der Berliner "Stiftung Wissenschaft und Politik": "China hat wie auch andere kleine Atommächte mehrfach gesagt, dass sie nicht bereit sind, an multilateralen Gesprächen teilzunehmen, solange die USA und Russland nicht ihrerseits zunächst weiter ihre Atomwaffen reduzieren."

Nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI besitzt China gegenwärtig etwa 290 Atomsprengköpfe. Russland und die USA verfügen hingegen jeweils über mehr als 6000 atomare Gefechtsköpfe - also rund 20 Mal mehr als Peking. Die Nuklearwaffen aller Atommächte zu begrenzen, ist zweifelsohne ein erstrebenswertes Ziel. Aber angesichts der großen Ungleichgewichte wird es wohl erst zu erreichen sein, wenn zunächst die nuklearen Supermächte ihre Arsenale weiter vermindern.

Wie schwierig eine multilaterale Verständigung ist, zeigen auch die Diskussionen der fünf offiziellen Atommächte Russland, USA, Frankreich, Großbritannien und China im Rahmen der UN - die sogenannten P-5-Gespräche. Dort konnte man sich trotz mehrjähriger Debatten nicht einmal auf ein gemeinsames Verständnis der in der Nuklearstrategie verwendeten Fachausdrücke einigen.

Auch haben die USA bisher keinerlei konkreten Vorschläge gemacht, wie China in solche Verhandlungen einbezogen werden könnte. Wenn man das ernsthaft anstrebte, müsste Washington seinerseits Angebote unterbreiten, die China als eine Stärkung seiner Sicherheit ansehen könnte. Dabei gebe es Chancen für Kompromisse, glaubt Tong Zhao vom "Carnegie-Tsinghua Center" in Peking: "Die Hauptsorge Chinas sind die US-Raketenabwehrsysteme. Diese treiben die nuklearen Modernisierungspläne Chinas an. Wenn die USA bereit wären, über eine Begrenzung ihrer Raketenabwehr zu reden, könnte das chinesische Interesse an Rüstungskontrollgesprächen mit den USA deutlich steigen."

Nach dem Ende des INF-Vertrages hat Pentagon-Chef Mark Esper angekündigt, die USA würden "sobald wie möglich" neue landgestützte Mittelstreckenraketen im asiatischen Raum gegen China aufstellen. Auch das dürfte die Bereitschaft Chinas nicht erhöhen, sich an Rüstungskontrollverträgen zu beteiligen. Befördert werden dadurch eher militärische Aufrüstungsmaßnahmen Pekings.

Viele Experten halten die Ankündigung der Trump-Regierung, China jetzt in nukleare Abrüstungsverträge einzubeziehen, daher für wenig glaubwürdig. Zum Beispiel Pavel Podvig vom UN-Institut für Abrüstungsforschung UNIDIR in Genf: "Ich glaube, die US-Regierung oder Trump selbst wissen sehr gut, dass es unmöglich ist, China zum jetzigen Zeitpunkt an Bord zu holen. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass sie mit dieser Forderung nur ihre eigene Verantwortung für die Nicht-Verlängerung des New-START-Vertrages verschleiern wollen."

In der US-Regierung gibt es verschiedene Auffassungen zur Rüstungskontrolle: Einige Offizielle sind prinzipiell gegen Rüstungsabkommen, weil sie die Handlungsfreiheit der USA einschränkten. Andere lehnen Rüstungskontrolle ab, solange sich Russland nicht an Verträge halte. Eine weitere Gruppe wiederum befürwortet Verträge über die Atomarsenale - aber nur wenn sämtliche Forderungen der USA erfüllt würden. Der große Unbekannte sei allerdings Präsident Trump, meint der Nuklearwaffenexperte Brad Roberts, der unter Präsident Obama einer der stellvertretenden US-Verteidigungsminister war: "Seine Entscheidung ist schwer vorauszusehen. Eins ist aber sicher: Er will in die Geschichte eingehen als jemand, der alle Deals von Obama verbessert hat. Und obwohl seine Regierung größtenteils anti-russisch und gegen Rüstungskontrolle ist, sieht er Putin als Partner an und glaubt, als der große nukleare Friedensstifter in die Geschichte eingehen zu können."

Ein besserer Deal als der New-START-Vertrag - das könnte bedeuten, in einem neuen Abkommen mit Russland die Zahl der nuklearen Sprengköpfe weiter zu verringern - zum Beispiel auf jeweils 1.000. Eine andere Möglichkeit wäre, auch die Atomsprengköpfe kurzer und mittlerer Reichweite einzubeziehen. Ein besserer Deal könnte zudem neuartige atomare Waffensysteme beschränken, schätzt Oliver Meier von der "Stiftung Wissenschaft und Politik": "Russland hat im März letzten Jahres eine Reihe von neuen strategischen Waffen vorgestellt, die zum Teil schon in der Entwicklung sind, die extrem destabilisierend wären, wenn es sie denn gäbe. Die USA machen große Fortschritte im Bereich der konventionellen weitreichenden Waffen. Also es gibt einige Dinge, die Gesprächsgegenstände sein können, die über den Rahmen von dem jetzigen vorhandenen Atomabkommen hinausgehen.

Nach Ansicht von Oliver Meier müssten zudem die russischen Bedenken in Bezug auf die US-Raketenabwehrsysteme thematisiert werden. Moskau kritisiert unter anderem, dass beim jüngsten Test einer neuen landgestützten US-Mittelstreckenrakete der gleiche Startkanister-Typ benutzt worden ist, der bereits in Rumänien für die US-Raketenabwehrwaffen stationiert ist - und demnächst auch in Polen aufgestellt wird. Russland und China sind besorgt, dass ihre Zweitschlagfähigkeit - also das nukleare Vergeltungspotenzial - durch die US-Raketenabwehr neutralisiert werden könnte. Doch Washington ist bisher nicht bereit, seine Raketenabwehr zu begrenzen. Begründet wird das mit den nordkoreanischen und iranischen Nuklearwaffen- und Raketenprogrammen. Brad Roberts, einer der ehemaligen stellvertretenden US-Verteidigungsminister, hält es für unwahrscheinlich, dass sich daran etwas ändert:

"In den USA gibt es einen nationalen Konsens, dass wir die Freiheit haben müssen, jegliche Raketenabwehrsysteme zu bauen, die nötig sind, um diesen neuen Gefahren nicht entblößt gegenüberzustehen."

Und es gibt ein weiteres großes Problem: Selbst wenn die Trump-Regierung ein neues, umfassenderes Abkommen allein mit Russland anstreben würde - bis zum Auslaufen des New-START-Vertrages im Februar 2021 bleiben nur noch 16 Monate. Pavel Podvig vom UN-Abrüstungsinstitut in Genf kommt daher zu dem Schluss: "Selbst unter den besten Umständen ist es für die USA und Russland in der verbleibenden Zeit unmöglich, einen neuen Vertrag auszuhandeln. Deshalb ist es jetzt das Beste, den New-START-Vertrag zu verlängern und die Zeit zu nutzen, um einen neuen Vertrag auszuarbeiten oder den New-START-Vertrag auszuweiten."

Dass Donald Trump aber einer Verlängerung eines von Obama ausgehandelten Abkommens zustimmt, ist eher unwahrscheinlich. Es spricht also vieles dafür, dass es schon demnächst keine vertraglichen Begrenzungen und Überprüfungen der Atomwaffenarsenale der USA und Russlands mehr geben wird. Die nukleare Aufrüstung würde wohl verstärkt weitergehen - wenn nicht die atomare Gefahr dann doch durch Rüstungskontrollverträge begrenzt wird.

Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag des Autors für die Senderreihe "Streitkräfte und Strategien" (NDR-Info, 7.9.2019). Die Interviews mit den Experten führte der Autor am Rande einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 19/2019 vom 16. September 2019, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Oktober 2019

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