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DAS BLÄTTCHEN/2019: Das Schlimmste verhindern


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
25. Jahrgang | Nummer 13 | 20. Juni 2022

Das Schlimmste verhindern

von Hans-Peter Waldrich


Das Absurde ist also, dass, wenn man das Gerät besitzt, Moralisch-sein objektiv unmöglich ist." Dieser Satz des Philosophen Günther Anders bezog sich auf die Atombombe. Er trifft den Kern der gegenwärtigen Situation. Russland besitzt die Bombe, im Rahmen der atomaren Teilhabe und als Nato-Partner gehört auch Deutschland faktisch zu den "Besitzern". Und während Deutschland von einem moralischen Sturm erfasst worden ist, in dem der Ruf nach Waffen fast schon als ethisches Postulat bejubelt wird, droht aus dem Hintergrund "das Gerät" - ohne im moralisierenden Diskurs eine wirkliche Rolle zu spielen.

Es ist ja keine Frage, dass Putin eine Lehre erteilt werden sollte. Niemand, der die Grundsätze des Völkerrechts ernst nimmt, wünscht sich dies anders. Die Prinzipien des Völkerrechts, schwer errungen während langer Jahrhunderte, haben zur fortschreitenden Moralisierung des Krieges immerhin ein wenig beigetragen. Andererseits sollte Moral nach Möglichkeit die gesamte vorliegende Realität ins Auge fassen, nicht nur einen Ausschnitt. Unter Einbezug der Tatsache, dass sich die Verteidigung der Ukrainer gegen eine Atommacht richtet und die Unterstützer der Verteidiger ebenfalls über Atomwaffen verfügen, fragt es sich: wohin wird das führen? Sollte man Moral nicht vom Ende her denken, jedenfalls wenn dieses Ende eine unvorstellbare Katastrophe sein könnte?

Eine Expertengruppe aus Informatikern und Friedensforschern mit der Bezeichnung "Atomkrieg aus Versehen", unter ihnen der Informatiker und Spezialist für künstliche Intelligenz Prof. Karl Hans Bläsius, befasst sich mit der Frage, unter welchen Umständen eine Nuklearkrieg ausbrechen könnte. Etwa dann, wenn aus der Sicht des einen oder des anderen Kontrahenten eine bestimmte Reizschwelle überschritten wird.

Betrachten wir die USA im Hintergrund als Mitakteure in diesem Konflikt, beträfe diese Frage nicht nur Russland. Befinden wir uns also zurzeit in einem Vabanquespiel, bei dem niemand weiß, wie es ausgeht? Karl Hans Bläsius drückt es so aus: "Jeder kleine Einsatz von Mitteln - Waffenlieferungen, Unterstützung mit Überwachungsdaten, Sanktionen - könnte eine Schwelle erreichen, die zum Einsatz von Atomwaffen führt. Auch die Wirkungen von kleinen Maßnahmen ist nicht kalkulierbar. Für jede einzelne, noch so kleine Aktion kann gelten, dass sie Auslöser eines Einsatzes von Atomwaffen sein kann. Jeder weitere Schritt könnte einer zu viel sein."

Dabei richtet sich das besondere Interesse der Expertengruppe auf einen gerne ignorierten Tatbestand. Es handelt sich um die hochgradige Automatisierung atomarer Einsatzentscheidungen. Vernetzte Frühwarnsysteme sollen gegnerische Angriffe melden - aber sie können versagen und haben das schon mehrfach getan. Die Entscheidung über den Einsatz von Nuklearwaffen kann daher an das Verfahren launch on warning delegiert werden. Melden die Systeme einen Angriff, ist es die Technik, die innerhalb von Sekunden vorschlägt, dass ein augenblicklicher Gegenschlag erfolgen sollte, noch bevor der Angriff seine Ziele erreicht hat. "Solche Alarmmeldungen sind dann besonders gefährlich" - so Bläsius -, "wenn politische Krisensituationen vorliegen, eventuell mit gegenseitigen Drohungen, oder wenn in zeitlichem Zusammenhang mit einem Fehlalarm weitere Ereignisse eintreten, die zur Alarmmeldung in Zusammenhang gesetzt werden können."

Die moralisch begründete Forderung, die wir häufig hören, lautet: Putin muss besiegt werden. Wünschenswert wäre das. Aber denkt jemand an den möglichen Preis? Gerade in der Niederlage könnte Putin zu Atomaffen greifen, die er als letztes Mittel zu seiner Verteidigung versteht. Das erste Mal nach 1945 wäre die atomare Schwelle überschritten. Die Büchse der Pandora wäre geöffnet worden und niemand weiß, was sie ausspuckt.

Günther Anders prägte den Begriff der Apokalypse-Blindheit. Der Mensch sei zwar überaus fähig, so etwas wie die Selbstmordbombe herzustellen, aber es fehle ihm die emotionale Fähigkeit, sich deren Wirkung tatsächlich eindrücklich vorzustellen. Hat Anders recht, so ist es kein Wunder, dass die politische Moral zurzeit viel zu kurz greift. Das unabsehbare Grauen eines thermonuklearen Kriegs kommt darin nicht wirklich vor.

2019 veröffentlichten Forscher um den Klimawissenschaftler Owen Brian Toon an der Universität von Colorado/USA eine Studie über die möglichen Folgen eines eher "kleinen", regional begrenzten nuklearen Schlagabtauschs zwischen Indien und Pakistan. Ihre Ergebnisse sind für alle jene desillusionierend, die hoffen, dass ein solches Ereignis zwar schlimm, aber letztlich zu verschmerzen wäre.

Zunächst würden die meisten Menschen "nicht an den Explosionen selbst sterben, sondern an den unkontrollierten Bränden, die folgen würden," so die Forscher. Anschließend käme es aufgrund der riesigen Massen aufgewirbelten Staubs zu einer gravierenden Störung des Weltklimas und in dessen Gefolge zu einer beispiellosen globalen Hungerkatastrophe. Es bedarf nur geringer Phantasie, um sich vorzustellen, dass eine Zivilisation, wie wir sie kennen, nicht mehr aufrechtzuerhalten wäre. Verteilungskämpfe wären unvermeidlich, Epidemien und die medizinischen Folgen des Desasters würden die Menschheit ruinieren.

Im Grunde ist es überflüssig, ernsthaft moralische Folgerungen aus solchen Alpträumen zu ziehen, die nicht auf eine einzige Konsequenz hinauslaufen: nämlich auf möglichst baldige Verhandlungen. Und natürlich sind solche Verhandlungen nicht alleine Sache der Ukraine und Russlands. Wer den geopolitischen Hintergrund dieser Auseinandersetzung übersieht, hat nicht verstanden, worum es geht. Daher werden es diplomatische Verhandlungen im großen Stil sein müssen, auch unter Teilnahme der USA. Wie auch immer: Alles lieber heute als morgen!

Der Autor ist Politikwissenschaftler und lebt in Freiburg im Breisgau.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 13/2022 vom 20. Juni 2022, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 2. Juli 2022

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