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EXPRESS/760: Es geht ums ganze Streikrecht


express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit
Nr. 12/2014

Es geht ums ganze Streikrecht
ILO-Konventionen unter Beschuss

von Armin Schuhmacher



Während die schwarz-rote Regierung hierzulande noch bestreitet, dass die gesetzliche Fixierung der sog. Tarifeinheit Konsequenzen für das Streikrecht hat, und GewerkschafterInnen darüber debattieren, ob die Einschränkung nun gewollt oder 'nur' ein, sei's erwünschter, sei's notwendiger oder befürchteter Nebeneffekt ist, werden die Weichen für die Abschaffung des Streikrechts längst auf höherer Ebene gestellt. Armin Schuhmacher hat sich die Angriffe der Kapitalvertreter auf die ILO-Konventionen 87 und 98 vorgenommen und zeigt, wohin die Reise international geht, wenn die Unternehmerlobby inner- und außerhalb der Gremien, international und im Land nicht ausgebremst wird.


Hierzulande steht derzeit die gesetzliche Fixierung einer sogenannten Tarifeinheit mit existenzbedrohenden Folgen für kleinere Gewerkschaften im Zentrum der öffentlichen und gewerkschaftlichen Debatte. Ein Gesetz von der Wunschliste der Unternehmer, das sich allerdings großer Unterstützung aus einzelnen Gewerkschaften erfreut, die offenbar damit die Hoffnung verbinden, lästige Konkurrenz loszuwerden. Kritiker dieses Gesetzes lehnen es zuallererst aus grundsätzlichen Erwägungen ab; vor allem aber, weil es eine Einschränkung des Rechts auf Streik bedeutet, nicht nur für die »Minderheitsgewerkschaft«, sondern auch generell. So steht es zwar nicht im Gesetzentwurf, es hätte aber zweifelsohne diese Wirkung. Der frühere IG Medien-Vorsitzende, Detlef Hensche, hat dazu alles Notwendige gesagt.(1)

Gewerkschaftliche Befürworter der sog. Tarifeinheit, die die Streikrechtseinschränkung nicht sehen können oder sogar billigend in Kauf nehmen, sollten sich darüber klar werden, dass es dem Kapital schon längst ums Ganze - nämlich ums ganze Streikrecht - geht. Die Tarifeinheit ist ein Puzzlestück in diesem Vorhaben. Beim Kampf gegen das Recht auf Streik geht es manchmal brachial zu, wie die Einschränkungen von Tarifautonomie und Streikrecht in den Ländern Südeuropas zeigen. Manchmal, dafür aber umso gefährlicher, kommt der Angriff aber auf leisen Sohlen daher und auf internationalem Parkett.

Einer dieser Angriffe auf leisen Sohlen hat das Potenzial, einer groß angelegten Schleifung von Gewerkschafts- und Streikrechten im nationalen Rahmen die Tür zu öffnen: Ziel der Attacken ist das Streikrecht in den Konventionen der International Labour Organisation (ILO).

Praktisch unbemerkt von der allgemeinen und leider auch gewerkschaftlichen Öffentlichkeit findet dieser Angriff seit zwei Jahren statt. Obwohl die ILO eine dreigliedrige Organisation ist, in der neben den Mitgliedsstaaten und den Arbeitgebern auch Arbeitnehmer vertreten sind, blieb die Angelegenheit bislang eine Sache von ILO-Funktionären und VölkerrechtsexpertInnen. Seltsam, dass sie keinerlei Aufmerksamkeit in der deutschen Gewerkschaftsöffentlichkeit erfuhr. Hält man sie für einen Sturm im Wasserglas, nimmt man sie nicht ernst, weil man das Streikrecht für gesichert hält? Für derartige Selbstberuhigung besteht kein Anlass. Oder nimmt man die ILO nicht für voll, weil man sie als ein bürokratisches Gebilde mit wenig direkter Macht ansieht und sich deshalb nicht darum kümmert, was dort geschieht? Es scheint so. Die Kapitalseite unterschätzt die ILO jedenfalls nicht, sie weiß genau, wie eminent wichtig die ILO für das Recht auf Streik ist und setzt genau dort die Axt an: an den für das Streikrecht so wichtigen Konventionen 87 und 98 und dem Überwachungssystem der ILO.

Die Bedeutung der ILO liegt nicht nur in der Verabschiedung von Konventionen und Empfehlungen (wie zuletzt die Konvention 189 für Hausbedienstete, s. express 9/2014), sie dokumentiert und kritisiert darüber hinaus Verletzungen von Beschäftigten- und Gewerkschaftsrechten und hilft damit, diese Rechte international durchzusetzen. ILO-Konventionen und das Überwachungssystem sind zugleich wichtiger Referenzrahmen für nationale und übernationale Gerichte, sie sind Bezugspunkt in internationalen Übereinkommen, zum Beispiel der Europäischen Sozialcharta, und sie gehen durch die Ratifizierung von Konventionen ins nationale Recht ein. Nicht zuletzt sind sie Referenzpunkt für Sozialstandards in Ethikrichtlinien, Nachhaltigkeitsrankings, Grundrechtereports usw. Die ILO setzt damit Standards, und je niedriger deren Niveau, desto mehr können auch die Beschäftigten- und Gewerkschaftsrechte in den Nationalstaaten gedrückt werden.


Was ist passiert?

Im Juni 2012 trafen sich die Sprecher der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmergruppe, um die jährliche Liste jener 25 Mitgliedsstaaten zu beschließen, denen die schwerwiegendsten Verstöße gegen ILO-Konventionen und Empfehlungen vorgeworfen werden. Diese Fälle waren dem Bericht des »Sachverständigenausschusses für die Durchführung der Übereinkommen und Empfehlungen der ILO« (kurz: Committee of Experts) entnommen und sollten in der darauffolgenden Woche im dreigliedrig besetzten »Konferenzausschuss für die Anwendung der Normen« (Conference Committee on the Application of Standards, CAS) diskutiert werden.

Der Bericht des Committee of Experts von 2012 befasste sich schwerpunktmäßig mit der Umsetzung der acht Kernarbeitsnormen der ILO (s. Kasten) in den Mitgliedsstaaten.(2) Das Committee of Experts hatte diese in vielen Fällen dafür kritisiert, dass bei ihnen das Recht auf Streik gemäß der ILO-Konvention 87 nicht garantiert sei.


Kasten

Die acht ILO-Kernarbeitsnormen

Nr. 29: Forced Labour Convention - Zwangsarbeit (1930)

Nr. 87: Freedom of Association and Protection of the Right to Organise Convention - Vereinigungsfreiheit und Schutz des Vereinigungsrechts (1948)

Nr. 98: Right to Organise and Collective Bargaining Convention - Vereinigungsrecht und Recht auf Kollektivverhandlungen (1949)

Nr. 100: Equal Remuneration Convention - Gleichheit des Entgelts (1951) express Nr. 12 2014

Nr. 105: Abolition of Forced Labour Convention - Abschaffung der Zwangsarbeit (1957)

Nr. 111: Discrimination (Employment and Occupation) - Diskriminierung (Beschäftigung und Beruf) (1958)

Nr. 138: Minimum Age Convention - Mindestalter (1973)

Nr. 182: Worst Forms of Child Labour Convention - Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit (1999)

Kasten Ende


Die Arbeitgebergruppe drohte nun, eine Zustimmung zu der Liste von Fällen zu verweigern, wenn diese einen Bezug zum Streikrecht enthalte. Für ihr Vorgehen führte sie drei Gründe an:

Erstens werde in Konvention 87 überhaupt nichts über ein Recht auf Streik gesagt, dem Committee of Experts stehe es entsprechend nicht zu, darüber eine Meinung zu äußern. Interpretationen der Konvention 87 könnten daher nur ohne Bezug auf ein Streikrecht erfolgen.

Zweitens habe das Committee of Experts ohnehin kein Mandat, die ILO-Konventionen zu interpretieren, sondern dürfe ihre Anwendung allenfalls kommentieren. Definitive Interpretationen kämen nur dem Internationalen Gerichtshof (International Court of Justice - ILC) zu.

Drittens sei das Committee of Experts ein unabhängiges, nicht-tripartistisches Gremium, dessen Berichte keine von Organen der ILO autorisierten Texte darstellten. Nur die dreigliedrigen Organe könnten über die Bedeutung von ILO-Konventionen befinden.

Aus diesen Gründen verlangte die Arbeitgebergruppe im Abschlussbericht (General Survey) zusätzlich eine Klausel, die klarstellte, dass es sich nicht um einen von den dreigliedrigen Organe der ILO autorisierten Text handele.(3)

Es wurde zwar eifrig nach einer Lösung dieses Disputes gesucht, die Arbeitgebergruppe verstand es aber mit ihrer Taktik, dafür zu sorgen, dass die Arbeiten von der CAS nicht beendet werden konnten. Die aufgelisteten schwerwiegenden Verstöße gegen ILO-Konventionen, besonders gegen das Recht auf Streik, konnten somit nicht vor einem internationalen Forum debattiert werden - für die Betroffenen manchmal die einzige Chance, sich international Gehör zu verschaffen.

Im darauffolgenden Jahr 2013 wiederholte sich der Vorgang. Zwar konnten sich beide Seiten auf eine Liste einigen, aber nur unter der Bedingung, dass das Recht auf Streik nicht diskutiert würde. Darüber hinaus gelang es der Arbeitgebergruppe durchzusetzen, dass das Committee of Experts im Abschlussdokument trotz sieben Fällen, die es moniert hatte (Bangladesch, Kanada, Ägypten, Fidschi, Guatemala, Swaziland, Simbabwe), darauf hinweisen musste, dass ein Bezug auf Konvention 87 und ein Recht auf Streik nicht erfolge, weil dieses von den Arbeitgebern nicht anerkannt werde.(4)

Es dürfte schon bis hierher klar geworden sein, dass es sich bei den Vorgängen in Genf nicht um Petitessen handelt und diese nicht als juristische Spitzfindigkeiten der Arbeitgeberbank abgetan werden können. Der ITUC (2014)(5) und andere ExpertInnen(6) haben sich intensiv mit den völkerrechtlichen Grundlagen des Rechts auf Streik in den ILO-Konventionen und -Empfehlungen sowie weiteren völkerrechtlichen Institutionen beschäftigt. Diese Analysen können hier nicht ausgebreitet, sondern nur in ihren Argumentationslinien nachgezeichnet werden. Dabei wird deutlich, was das Ziel der Angriffe auf das ILO-Recht auf Streik ist.

Sowohl Hofmann/Schuster (2014) als auch der ITUC (2014) beschreiben die Angriffe von 2012 und in den Folgejahren als einmalig und ohne historisches Vorbild. Sie argumentieren, dass sehr wohl ein Recht auf Streik im Rahmen der ILO existiere, und zwar seit mindestens 1948/49 mit der Verabschiedung der Konventionen 87 und 98. Zwar werde weder in der Konvention 87 noch 98 explizit ein Recht auf Streik erwähnt, aber die Existenz eines solchen könne aus den verwendeten Begrifflichkeiten abgeleitet werden. Arbeitskämpfe würden als ultima ratio von den Gewerkschaften gebraucht, um ihre ökonomischen und sozialen Interessen durchsetzen zu können. Das Committee of Experts und das Committee on Freedom of Association (CFA) hätten 60 Jahre lang diese Sichtweise geteilt und das Recht auf Streik als »zentralen Bestandteil und unverzichtbare logische Folge der Vereinigungsfreiheit« (Hofmann/ Schuster 2014) betrachtet.

Allerdings wurde das Recht auf Streik niemals bedingungslos gewährt, auch von besagten Gremien nicht. Wem es zukam und wie die Modalitäten von Streiks sind, war stets umstritten. Zunächst bedeutet schon die Definition des Arbeitskampfs als ultima ratio eine Einschränkung des Rechts auf Streik. Einschränkungen sahen Spruchpraxis und Regularien der ILO darüber hinaus bei Streiks im öffentlichen Dienst, bei Sympathiestreiks und politischen Streiks vor. Hofmann/Schuster sowie der ITUC führen in ihren Texten weitere Belege aus diversen Konventionen, Empfehlungen, Resolutionen sowie Dokumenten aus der Entstehungszeit von Konventionen und ILO selbst an, denen man ein Streikrecht entnehmen kann. Dennoch: Diese Verweise sind indirekt und meist eher schwach, ein Recht auf Streik findet sich nirgendwo so explizit, dass es als wirklich unstrittig gelten könnte. In Analogie verweisen Hofmann/Schuster (2014) auf Artikel 9.3 des Grundgesetzes. Auch hier sei das Recht auf Streik nicht explizit erwähnt, durch die Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichtes jedoch bestätigt und nie zur Disposition gestellt worden. Des Weiteren führen sie, ebenso wie der ITUC (2014), die Spruchpraxis übernationaler Gerichte an, so des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), sowie die Europäische Menschenrechtskonvention, die Europäische Sozialcharta und die Vereinten Nationen.

Genannt werden unter anderem die Urteile des EuGH in Sachen Viking und die des EGMR in Sachen Demir u. Baykarja/Türkei sowie Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei, die alle die Verletzung des Rechts auf Streik zum Inhalt haben und in denen die Gerichte sich auf ILOKonventionen beziehen. So verweist zum Beispiel der EuGH im Viking-Urteil von 2007 ausdrücklich auf die Europäische Sozialcharta und die ILO-Konvention 87, an der die EUMitgliedsstaaten jeweils mitgewirkt und die sie unterzeichnet haben. Der EGMR argumentiert im Urteil Enerji Yapi-Yol Sen, dass das Recht auf Streik »von den Kontrollorganen der ILO als untrennbarer Teil der von der Konvention C 87 der ILO uiber die Vereinigungsfreiheit und den Schutz der Vereinigungsrechte anerkannt worden« sei.(7)

Als weiteres aktuelles Beispiel führt der ITUC (2014) den Fall der britischen Transportarbeitergewerkschaft RMT vs. United Kingdom an, in dem der EGMR nach ausgiebiger Prüfung der Dokumente des Committee of Experts und der CFA zu dem Schluss kam, Sekundärstreiks seien als Teil der Gewerkschaftsfreiheit durch die Konvention 87 und die Europäische Sozialcharta anerkannt und geschützt.(8) Dieses Urteil wird die Unternehmer nicht gefreut haben.

Hier kommt man dem Kern des Konfliktes schon recht nahe: Internationale Gerichte und Organisationen beziehen sich auf die ILO-Konventionen und -Empfehlungen sowie auf die Interpretationen durch die ILO-Gremien, namentlich des Committee of Experts. Obwohl nirgendwo in der ILO explizit ein Recht auf Streik kodifiziert ist, führt die Aufnahme der bisher unbestrittenen Auslegung der ILO-Konventionen durch nationale und übernationale Gremien und Gerichte dazu, dass aus dem 'soft law' der ILO Schritt für Schritt ein 'hard law' wird. Genau das gilt es in den Augen der Kapitalseite zu verhindern, zum einen durch Neuinterpretation von Wortlaut und Sinn der Konventionen, zum anderen durch Schmälerung der Autorität der ILO-Gremien, die deren Umsetzung überwachen und interpretieren. Hofmann/Schuster sehen genau hierin den wesentlichen Grund für die Angriffe der Kapitalseite auf das Committee of Experts:

»Die Aussagen der ArbeitgebervertreterInnen legen jedoch nahe, dass gerade dieser Anwendungsfall des transnationalen Rechtsprozesses (ein) Grund dafür ist, - am konkreten Beispiel des Streikrechts - das Mandat des Sachverständigenausschusses grundsätzlich in Frage zu stellen und sogar so weit zu gehen, den Überwachungsmechanismus fuir IAOÜbereinkommen als gänzlich beschädigt zu bezeichnen, um eine weitere rechtliche Verfestigung der Ansichten der IAO-Kontrollorgane zu verhindern.« (Hofmann/Schuster 2014)


Warum gerade jetzt?

Die Angriffe auf das Streikrecht im System der ILO seit 2012 sind zwar einzigartig in ihrer Massivität, es gab aber Vorläufer. Diese begannen mit dem Ende des Kalten Krieges und des Sowjetblocks. Bis dahin stellte die Kapitalseite die Existenz eines durch die ILO gestützten Rechts auf Streik nicht in Frage. Der ITUC interpretiert das dahingehend, dass die Allianz zwischen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmergruppe gegen den Ostblock nicht mehr notwendig war. Der internationale Arbeitgeberverband (International Organisation of Employers IOE) bestätigt dies sogar in einem Schreiben an das Committee of Experts vom 1. September 2014(9): Es habe für die Zeit vor Ende des Kalten Krieges zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmergruppe eine Art stillschweigende Vereinbarung gegeben, die Frage des Streikrechts nicht anzusprechen. Die Arbeitnehmergruppe hätte aus dem Schweigen der Arbeitgebergruppe aber den falschen Schluss gezogen, diese würde ein Recht auf Streik im ILO-System anerkennen.

Erste Klagen der Kapitalseite kamen 1989 und 1992 auf. 1994 wurde dann eine lange Kritik des Rechts auf Streik, wie es vom ILO-Überwachungssystem, insbesondere durch das Committee of Experts, entwickelt worden war, veröffentlicht. Damals argumentierte man lediglich gegen ein umfassendes und unbegrenztes Recht auf Streik - das aber, wie oben beschrieben, so nie vertreten wurde. Erst 2012, aber dann massiv, bestritt die Arbeitgeberbank die Existenz eines internationalen Rechts auf Streik überhaupt.

Neben der Spruchpraxis übernationaler Gerichte spielt sicherlich eine Rolle, dass zunehmend mehr CSR-Richtlinien von Unternehmen und Banken die ILO-Konventionen und ihre Interpretationspraxis integrieren. Zivilgesellschaftliche Menschen- und Arbeitsrechtsorganisationen beziehen sich auf diese und machen Konzerne und Staaten verantwortlich für die Einhaltung gängiger Standards der Vereinigungsfreiheit inklusive des Rechts auf Streik. In den letzten Jahren entstanden diverse Nachhaltigkeitsrankings für Unternehmen und Finanzinvestitionen, die ebenfalls die Einhaltung von ILO-Konventionen als Maßstab verwenden und damit die Grundlage für Investitionsentscheidungen von Nachhaltigkeits- und Ethikfonds liefern. Es gibt Bestrebungen, in Handelsabkommen inner- und außerhalb der WTO Sozialstandards aufzunehmen, die sich ebenfalls auf die ILO-Konventionen beziehen.

Man kann darüber streiten, ob Sozialstandards in Handelsabkommen oder Nachhaltigkeitsrankings mehr sein können als Placebos, die der Wirklichkeit der Arbeitsbeziehungen und wirtschaftlichen Dynamiken im Welthandel ohnehin nicht standhalten; allerdings ist auch klar, dass diese mit Sicherheit keinerlei Wirkung entfalten können, wenn die zugrunde liegenden ILO-Konventionen ausgehöhlt und die Autorität der Überwachungsgremien geschwächt wird. Das heißt im Falle des Rechts auf Streik: Wenn es kein anerkanntes internationales Recht auf Streik und auch keinerlei funktionierende Überwachung mehr gibt, sind Sozialstandards in Handelsabkommen (und anderswo) wirkungslos. Weder Staaten noch Konzerne sind dann noch für deren Verletzung zu kritisieren oder gar rechtlich zur Verantwortung zu ziehen.


Kasten

ILO-Gremien und internationale Organisationen

ILO: International Labour Organisation - Internationale Arbeitsorganisation IAO

CEACR: Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations (kurz: Committee of Experts) - Sachverständigenausschuss für die Durchführung der Übereinkommen und Empfehlungen der IAO. Das Committee of Experts wurde 1926 eingerichtet und besteht aus 20 Mitgliedern, üblicherweise JuristInnen. Die Mitglieder werden vom dreigliedrigen »Governing Body« der ILO für drei Jahre bestellt, sind jedoch formal unabhängig. Das Committee trifft sich jährlich, um die eingegangenen Berichte und Beschwerden der Mitgliedsstaaten, der Arbeitgeber und Arbeitnehmer auszuwerten und zu bewerten, inwiefern sie im Einklang mit den ratifizierten Konventionen stehen. Es ist zu betonen, dass viele Staaten viele Konventionen nicht ratifiziert haben.

CAS: Conference Committee on the Application of Standards - Konferenzausschuss für die Anwendung und Durchführung der Normen (kurz: »Normenanwendungsausschuss«)

CAF: Committee on Freedom of Association - Ausschuss für Vereinigungsfreiheit

ITUC: International Trade Union Conference - Internationaler Gewerkschaftsbund

Kasten Ende


Fernziel: Angriffe auf nationale Streikrechte

Aber es geht auch um Einschränkungen des Rechts auf Streik auf nationaler Ebene, die durch dessen Neu- oder Weginterpretation in den Konventionen 87 (und 98) ermöglicht werden. Laut Sitzungsprotokoll der CAS gab die Arbeitgebergruppe als Begründung gegen ein »ILORecht auf Streik« an, mit einer »unkorrekten« Interpretation von Konvention 87 laufe man Gefahr, das Streikrecht gleichsam zu einem international akzeptierten Menschenrecht zu erheben. Dann aber wäre nationalen Regierungen die Möglichkeit genommen, ihre je eigene Regelung des Streikrechts zu treffen.(10)

Hofmann/Schuster (2014) verweisen auf ein Youtube-Video mit Chris Syder von der Confederation of British Industry (CBI), dem aktuellen Sprecher der AG-Gruppe in der ILO. In dem Video wird er deutlich: Bevor man Hand an das nationale Streikrecht legen könne, müssten erst die internationalen ILO-Normen, namentlich die Konventionen 87 und 98, geschliffen werden.

Das Gespräch fand 2011 anlässlich der Forderung nach »Reformen« des britischen Streikrechts statt. Hintergrund sind die zunehmenden Proteste und Streiks gegen die Kürzungs- und Privatisierungspolitik in Großbritannien (und anderswo) in Folge der Finanzkrise. Die geforderten gesetzlichen »Streikrechtsreformen« waren bis dato von der konservativ-liberalen Regierung nicht angegangen worden. Syder begründet seine Einschätzung, solche »Reformen« seien von der Regierung in der nahen Zukunft auch nicht zu erwarten, damit, dass in diesem Falle Arbeiterorganisationen wie die britische Gewerkschaftsföderation TUC sofort Beschwerde bei der ILO einlegen würden. Er sieht die Aufgabe des CBI darin, genau diese Konventionen zu »korrigieren« und dafür weitere Verbündete zu gewinnen. Im Video nennt er neben den spanischen und französischen Arbeitgeberverbänden auch den BDA, die alle ähnliche Besorgnisse wie der CBI umtreiben würde.

Der Disput in der ILO geht jedenfalls weiter. Auch 2014 kam es nicht zu einer Einigung über die Liste - diesmal, weil die Arbeitnehmergruppe in drei von 19 Fällen die Zustimmung zu der von den Arbeitgebern geforderten Klausel verweigerte.


Sprengsatz Freihandelsabkommen

Eine Neuinterpretation der ILO-Konventionen dahingehend, dass es kein internationales Recht auf Streik gibt, könnte in Freihandelsabkommen wie TTIP oder CETA und in Verbindung mit dort möglicherweise kodifizierten Investorenschutzklauseln und privaten Schiedsgerichten eine enorme Sprengwirkung entfalten. Wenn das Recht auf Streik im ILO-System nicht mehr unzweifelhaft garantiert ist, können Konzerne nationale Streikrechte als profitschädigendes Handelshemmnis betrachten, die Staaten vor die privaten Schiedsgerichte zerren und dort Milliarden an Entschädigungen einklagen.

Es ist durchaus zweifelhaft, ob das Streikrecht in Artikel 9.3 GG dem standhalten würde.


Anmerkungen:

(1) Detlef Hensche: »Koalitionsfreiheit unter Beschuss«, in: Junge Welt, 12.11.2014; Detlef Hensche: »Schwarz-rotes Streikverbot«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 1/2014, S. 34-38

(2) »General Survey on the fundamental Conventions concerning rights in the light of ILO«, Report of the Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations, International Labour Conference, 101st Session, 2012, Nr. ILC.101/III/1B, online unter:
http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/ed_norm/relconf/documents/meetingdocument/wcms_174846.pdf

(3) »The General Survey is part of the regular supervisory process and is the result of the Committee of Experts' analysis. It is not an agreed or determinative text of the ILO tripartite constituents.« Der gesamte Vorgang ist nachzulesen in den Sitzungsprotokollen, insbesondere in den Absätzen 147ff. Der Text der Klausel findet sich in Absatz 150 der Dokumentation »International Labour Conference, 101st Session, May-June 2012, PR No. 19 / Part 1(Rev.) - Report of the Committee on the Application of Standards: General Report«. Online unter:
http://ilo.org/wcmsp5/groups/public/ed_norm/relconf/documents/meetingdocument/wcms_183031.pdf

(4) 102nd International Labour Conference: »Full text of the Conclusions of the Committee on the Applications of Standards«, List of the 25 countries that were part of the Committee on the Applications of Standards at the International Labour Conference 2013, online unter:
http://www.ilo.org/actrav/WCMS_217148/lang--en/index.htm

(5) ITUC: »The right to strike and the ILO: The legal foundation«, March 2014, S. 10. Download:
http://www.ituc-csi.org/the-right-to-strike-and-the-ilo?lang=en

(6) Claudia Hofmann / Norbert Schuster: »Internationale Arbeitsorganisation, quo vadis? Einige Gedanken zur Debatte um das Streikrecht und das Mandat des Sachverständigenausschusses«, in: Archiv des Völkerrechts, Nr. 51. 2014, 4, S. 483-508. Als Zusammenfassung siehe Claudia Hofmann: »Streik(recht) in der Internationalen Arbeitsorganisation. Steht das System zur Überwachung internationaler Arbeits- und Sozialstandards auf der Kippe?«, Friedrich-Ebert-Stiftung 2014, online unter:
library.fes.de/pdf-files/iez/10738.pdf

(7) EGMR (III. Sektion), Urteil vom 21. April 2009 - 68959/01, in: NZA 2010, 1423, 1424, zit. nach Hofmann/Schuster (2014)

(8) EGMR (IV. Section), Urteil vom 8. April 2014 im Fall National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT) v UK, Application No. 31045/10, zit. nach ITUC (2014: 52)

(9) IOE: »Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations (CEACR)«, Schreiben vom 1. September 2014, online unter:
http://ioeemp.org/fileadmin/ioe_documents/publications/Policy%20Areas/international_labour_standards/EN/_2014-09-02__G-613_Link_-_IOE_Submission_to_ILO_CEACR_on_Application_of_C.87__Sept._2014_.pdf

(10) International Labour Conference, 101st Session, May-June 2012, PR No. 19 / Part 1(Rev.) - Report of the Committee on the Application of Standards: General Report, Absatz 149

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express 12/2014 - Inhaltsverzeichnis der Printausgabe
Gewerkschaften Inland
  • Jörg Nowak: »Umkämpftes Streikrecht« - Die Gefahren der Tarifeinheit
  • Wolfgang Hien: »Anpassen bis zur Selbstabschaffung« - zu den gesundheitlichen Folgen betrieblicher Restrukturierungen, Teil I
  • Isabell Merkle: »Die Unsichtbaren« - zur Situation migrantischer HaushaltsarbeiterInnen in Deutschland
Betriebsspiegel
  • Peter Nowak: »Streiksolidarität« - zu den Amazon-Protesten
  • Wolfgang Schaumberg: »Haupttendenz im echten Leben« - zu den Problemen sozialistischer Betriebsarbeit
Internationales
  • Armin Schuhmacher: »Es geht ums ganze Streikrecht« - zu den Auseinandersetzungen in der ILO
  • Heino Güllemann: »Anwerbung mit Goldrand?« - zur Rekrutierung von Pflegekräften aus aller Welt
  • Johannes Schulten: »Sozialneid schüren - warum nicht?« - zum vielversprechenden Start der spanischen Partei Podemos
Rezension
  • Dieter Wegner: »Muster - Gültig« - Dokumentation eines Konfliktes bei BMW Berlin in den 80ern
  • Jane Slaughter: »Aufstands-Falle« - über Eli Friedmans Studie zu Streiks in China
  • Frank-Uwe Betz: »Fundstücke gegen Antiziganismus« - über neue Veröffentlichungen zu Sinti und Roma im NS
  • Torsten Bewernitz: »Eine Theorie der Passivität?« - ein Comic zum Werk Pierre Bourdieus

Leserbrief

- Antwort auf Christian Frings' Text zu Thomas Piketty

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Quelle:
express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit
Nr. 12/2014, 52. Jahrgang, Seite 2-4
Herausgeber: AFP e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Januar 2015


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