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GEGENWIND/367: Das skandinavische Wohlfahrtsmodell


Gegenwind Nr. 247 - April 2009
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

"Das skandinavische Wohlfahrtsmodell" - Geschichte, Analysen und Vergleiche
Waren es die Wikinger?

Von Edda Lechner


Nicht nur bei den Linken in Schleswig-Holstein wird das Sozialmodell der skandinavischen Länder Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland gerne als ideales Modell angesehen, das die Probleme des Gesundheitswesens, der Rentenversicherung und der Zeiten von Arbeitslosigkeit bestens regele und möglichst auch in Deutschland übernommen werden sollte. Die zahlreichen Arbeitslosen Schleswig-Holsteins, die in den letzten Jahren in Dänemark eine Anstellung gefunden haben, loben neben dem hohen Lohnstandard auch die soziale Versorgung bei Krankheit und im Alter, bei der Arbeitslosigkeit und Weiterbildung. Seit der PISA-Studie zieht außerdem das kostenlose Kinder-Versorgungssystem und der schulische Bildungsstandard dieser Länder Experten in seinen Bann.


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Manchmal versteigen sich Genossen zu der psycho-historischen Behauptung, die Skandinavier seien eben immer schon - seit Wikingerzeiten - solidarischer miteinander umgegangen als ihre deutschen Nachbarn. In diesem Artikel will ich dem gegenwärtig existierenden "nordischen Modell" sowohl historisch, wie wirtschaftlich und politisch nachgehen und dazu einen Vergleich mit anderen Sozialsystemen Europas vornehmen.


Typen des Wohlfahrtsstaates in Europa

Um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Typen von Wohlfahrtsstaaten besser erkennen zu können, nahm der skandinavische Sozialwissenschaftler Goesta Esping-Andersen 1990 in seinem Buch "Three Worlds of Welfare Capitalism" eine vergleichende Studie vor. Er geht dabei von zwei bedeutenden Machtfaktoren aus: dem Kapital mit ungleich verteilten Ressourcen von Unternehmern auf der einen und dem politischen Staatsgebilde mit den vorhandenen (Wahl-)Rechten für die Arbeitnehmer auf der anderen Seite. Demnach konnte sich auch erst im kapitalistischen System überhaupt das Gebilde eines "Wohlfahrtsstaates" herausbilden. Im Folgenden unterscheidet er drei Typen von Wohlfahrtsstaaten

1. Der Liberale Wohlfahrtsstaat sieht vor, dass Sozialleistungen möglichst streng limitiert werden, um den Griff nach sozialer Wohlfahrt statt nach Arbeit zu erschweren. Es gibt nur schwache Sozialversicherungsleistungen, so dass es - besonders in der Mittel- und Oberschicht - zu privaten Wohlfahrtsinitiativen kommt. Arme erhalten, wenn überhaupt, nur Minimalleistungen über die Versicherungen und den Staat (USA, Australien).

2. Der Konservativ-korporatistische Wohlfahrtsstaat ist um die Erhaltung von Statusunterschieden besorgt. Individuelle Rechtsansprüche auf bestimmte Leistungen und deren Höhe sind von der Zugehörigkeit zu eine bestimmten Masse oder Berufsgruppe abhängig, traditionelle Familien- und Frauenstrukturen sollen erhalten bleiben. Die umverteilende Wirkung ist gering (Deutschland, Frankreich, Österreich).

3. Der Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat ist durch ein universales Versicherungssystem, universale Leistungen und der Idee der damit verbundenen Umverteilung von Reichtum charakterisiert. Er strebt eine Gleichheit nicht der Minimalstbedürfnisse, sondern des höchsten Standards an. Arbeiter, Angestellte und Beamte, Männer, Frauen, und deren Kinder, Jung und Alt, werden solidarisch in allen Lebenssituationen unterstützt und gefördert. Der soziale Staat übernimmt dafür die Verantwortung und Kontrolle (Skandinavische Länder).


Die geschichtliche Entwicklung der Sozialversicherungen

Wohlfahrtsstaaten entstanden ausschließlich in Gesellschaften, in denen die kapitalistische Wirtschaft und der Nationalstaat bereits fest etabliert waren. Im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurde zunächst in den Ländern in Nordamerika, Australien, Neuseeland und Westeuropa mit der Einführung von öffentlichen Leistungen im Gesundheits- und Bildungswesen begonnen. Unter dem Kanzler Otto von Bismarck schuf das deutsche Kaiserreich im Zusammenhang mit seiner Staatsgründung 1871 als eines der ersten weltweit eine Kranken-, bzw. Unfall- und Pensionsversicherung. Diesem Beispiel einer "Sozialpolitik von oben" folgten bald die meisten westeuropäischen Staaten. Natürlich mit dem politischen Ziel, den aufkommenden sozialen und revolutionären Bewegungen den Boden zu entziehen.

Erst Ende des Ersten Weltkrieges zogen auch die USA nach und in den meisten westeuropäischen Ländern wurde nun auch eine Arbeitslosenversicherung etabliert. In der Regel geschah das nach dem liberalen und konservativen Wohlfahrtsmodell mit moderaten Leistungen, in die auch die Ärmsten einbezogen wurden. Diese Entwicklung setzte nach dem 2. Weltkrieg fort. Ab 1975 wurden im Zuge der Globalisierung des Kapitals und einer wachsender Konkurrenzsituation auf den Weltmärkten schrittweise - trotz erheblichem Widerstand der Betroffenen - soziale Abstriche gemacht und Einschränkungen vorgenommen.

In den nordischen Ländern setzte die Entwicklung vom armen Agrarland zum modernen Industriestaat erheblich später ein. Dennoch haben sie ihre Sozialgesetzgebung parallel zu den anderen europäischen Ländern Ende des 19. Jahrhunderts erstaunlich früh etabliert und in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts verbessert. Erst nach 1945 entstand aber das eigentliche "Nordische Modell". Besonders bekannt wurden schon frühzeitig die Maßnahmen des schwedischen Sozialdemokraten Olof Palme, in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, mit seinem "Schwedischen Experiment" ab 1960. Er forcierte eine hohe interventionistische Politik, ein starkes Ansteigen der Regierungsausgaben für soziale Zwecke und die Schaffung eines stark progressiven Steuersystems (in den höchsten Einkommensklassen bis zu 83%). Die übrigen drei nordischen Länder folgten im wesentlichen diesem "Dritten Weg".

In den 80er und 90er Jahren wurde auch Skandinavien wie seine europäischen Nachbarn nicht von der Globalisierung, dem Konkurrenzdruck, Firmenpleiten und wachsender Arbeitslosigkeit verschont. Neue "bürgerliche" und nicht mehr ausschließlich die sozialdemokratischen Parteien kamen in den skandinavischen Ländern an die Regierung und versuchten Abstriche an der staatlichen Sozialfürsorge zu machen: Einfrieren der Löhne, Reduzierung des Krankengeldes, Senkung der Leistungen zur Arbeitslosigkeit u.a. Sie stießen dabei auf heftigen gewerkschaftlichen und bürgerlichen Widerstand. 1998 legten bis zu 500.000 Beschäftigte in einem Generalstreik fast zwei Wochen lang ganz Dänemark lahm. Das Ergebnis: Beibehaltung der sozialen Errungenschaften und der weiteren Zahlung eines hohen Arbeitslosengeldes sowie zusätzliche Urlaubs- und Feiertage. Aber die Regierung führte auch das sogenannte "Flexicurity"-System ein, das den bisherigen Kündigungsschutz aufhob und eine starke Reglementierung des Arbeitsmarktes durch den Staat beinhaltet. Auf jeden Fall konnte es sich bisher keine skandinavische Regierungsmehrheit von der Sozialdemokratie über die Mitte bis zu den Rechten leisten, die "heilige Kuh", die staatlich finanzierte, umfassende Sozialfürsorge zu schlachten.


Die Ursachen für die Entwicklung der unterschiedlichen Sozialsysteme

Goesta Esping-Andersen selbst erklärt die Tatsache, dass es drei ganz unterschiedliche Arten von Umverteilung gibt, durch unterschiedliche "politische Klassenkoalitionen". Die Mittelschicht habe in verschiedenen Ländern jeweils ein unterschiedliches Interesse an sozialstaatlicher Umverteilung gezeigt. In Großbritannien z.B. gelang die Koalition mit den Sozialisten nicht, die Mittelschicht setzte nicht auf den Staat sondern auf den Freien Markt und private Versicherung. Auf dem Kontinent wiederum waren bei der Konstruktion des Sozialstaats konservative Interessen im Spiel, an denen die Kirchen besonders beteiligt waren und schon früh die "Christdemokraten" entstehen ließ.

Diese Analyse führt nun der Konstanzer Politikwissenschaftler Philip Manow fort, worüber Jürgen Kaube in seinem unten aufgeführten Artikel berichtet.

"Er setzt,... bei den unterschiedlichen europäischen Wahlsystemen an... Bei Mehrheitswahlrecht tendiert das Parteiensystem zur Ausbildung zweier starker Parteien, einer Mitte-Links-Partei, die von der Unterschicht, und eine Mitte-Rechts-Partei, die von der Oberschicht präferiert wird... Die Mittelschicht aber schlägt sich auf die Seite rechts der Mitte, weil sie andernfalls zu hohe Steuern fürchten muss, ohne wie die Arbeiterschicht in den vollen Genuss des durch sie finanzierten Sozialstaates zu kommen. Herrscht jedoch Verhältniswahlrecht, bilden sich zumindest mehrere Parteien aus. Damit steigt die Chance für die Mittelschicht zu Koalitionen, die eine progressive Besteuerung und Transfer durchsetzen, die auch ihr zugute kommen... Die Mittelschicht stimmt allerdings nur links, wenn aus Sozialisten Sozialdemokraten werden!"

Als ein weiterer Faktor kommt hinzu:

"In Skandinavien und auf dem Kontinent habe es diesseits von Links-rechts-Konflikten historisch jeweils andere gesellschaftliche Spaltungslinien gegeben. Im Norden war es die zwischen Stadt und Land, Agrarsektor und Industrie, auf dem Kontinent hingegen die zwischen Staat und Kirche. Überall gab es in Skandinavien starke Bauernparteien, die wiederum in Deutschland oder Frankreich weitgehend unbekannt sind. Jeweils etwa 25, 21, 14 und 9 Prozent erlangten über die gesamte Nachkriegsgeschichte hinweg die Agrarier bei Wahlen in Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden."

Die Bauernparteien im Norden wehrten sich gegen einkommensabhängige Sozialversicherungen, weil ihre Klientel oft kein kontinuierliches Einkommen hatte. Sie waren also geneigt, dem sozialdemokratischen staatlichen Modell zuzustimmen, weil sie dadurch von dauerhafter Versicherungsleistung befreit waren und nur noch darauf zu achten hatten, dass in der Steuerfinanzierung ein Wechsel von der Grund- zur Konsumsteuer stattfand und die progressiven Steuerlasten erträglich blieben.

"Was dem Norden die Bauern, waren dem Kontinent die Katholiken - so könnte man Manows Argument zusammenfassen. Deutschland, die Niederlande, Italien, Frankreich, Belgien und Österreich sind historisch vom Konflikt zwischen katholischer Kirche und den liberalen Staatseliten geprägt... Die durchschnittliche Dauer der Regierungsbeteiligung der Christdemokraten von 1945 bis 1999 beträgt 43,5 Jahre gegenüber 34,3 Jahren bei den Sozialdemokraten. In Skandinavien kommen die Christdemokraten gerade einmal auf sechseinhalb Regierungsjahre im halben Jahrhundert, die Agrarparteien hingegen auf gut achtzehn... Es sind diese starken historischen und politischen Unterschiede von Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht und die Besonderheit der bäuerlichen-sozialdemokratischen Parteien in Skandinavien gegenüber den kirchlich-christdemokratischen Parteien auf dem Kontinent, die so verschieden Typen von Vorsorgestaaten hervorgebracht haben."

Mit den Wikingern und einem generell solidarischen Menschentyp hat dies nichts zu tun. (Alle Zitate dieses Abschnittes stammen aus dem Artikel Jürgen Kaubes, worin er das in diesem Jahr erschienene Buch von Philip Manow vorstellt, siehe Quellenangaben.)


Vergleich

Betrachten wir jetzt die unterschiedlichen Sozialsysteme zwischen den skandinavischen Ländern und dem westlichen Europa anhand konkreter Beispiele vor allem in Bezug auf die Arbeitsverhältnisse.

Das hohe Beschäftigungsniveau ist der entscheidende Aspekt für Skandinavien. Es liegt bei 75 % der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahren. Nur die Niederlande - allerdings durch Teilzeitarbeit - und annähernd die Schweiz und die angelsächsischen Länder erreichen diese Werte, Deutschland, Frankreich und Italien zeigen ein besonders niedriges Niveau. Dieses Beschäftigungsniveau schließt Frauen und Ältere mit ein. Die Beschäftigung der über 55 Jährigen ist um mehr als 50 % höher als in Deutschland. Außerdem haben Frauen in - den nordischen Ländern feste Vollzeit- und kaum Teilzeitarbeitsplätze. Die hiesige "Beruf-oder-Haushalt-Ideologie ist diesen Ländern fremd. Der Prozentsatz befristeter Arbeitsverhältnisse im skandinavischen Durchschnitt gleicht dem auf dem Kontinent. Der Kündigungsschutz ist Teil des Sozialsystems. Eine Ausnahme bildet nur - wie schon erwähnt - das Flexicurity-System in Dänemark. Bei einem breit angelegten Vergleich über den Zusammenhang von Arbeitsmarktstruktur, sozialer Sicherung und Beschäftigung schnitt dieses Land aber dennoch 2007 mit "best case" ab.

Dänemark hat nicht nur im Verhältnis zu Schleswig-Holstein vergleichsweise hohe Löhne. Lohndifferenzen zwischen Frauen- und Männerlöhnen sind eher gering. Der Niedriglohnsektor ist dem des Kontinents ähnlich und etwas zunehmend. Außer von 1996-2000 sind die Löhne in Skandinavien stärker gestiegen als auf dem europäischen Kontinent. Ursache dafür ist u.a. der hohe gewerkschaftlicher Organisationsgrad (bis zu 80 % aller Arbeitnehmer), die politische Verbindung der Gewerkschaften mit der sozialdemokratischen Staatsführung und ein gegen Neo-Liberalismus und Monetarismus beibehaltenes keynesianisches Denkmuster der nordischen Ökonomen. Streiks sind aber durchaus auf der Tagesordnung. Ein auf Streiten und Miteinander-Reden basierender Konsensualismus bleibt aber weiterhin bestehen. Mindestlöhne gibt es im skandinavischen Sozialstaatsmodell nicht, aber in der Regel werden die tariflich vereinbarten Mindestlöhne anerkannt.

Die Arbeitslosigkeit ist im Norden durchschnittlich nur halb so hoch wie auf dem Kontinent, nur Finnland steht etwas schlechter da, erklärbar durch den Verlust des Exportmarktes in der ehemaligen Sowjetunion 1990. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist in Skandinavien besonders niedrig im europäischen Vergleich, entsprechend dem Beschäftigungsniveau von Frauen und älteren Menschen. Die Lohnersatzquote mit 90 Prozent für Niedriglöhner in Dänemark ist wesentlich höher als z.B. in Deutschland mit 60 Prozent. Werden allerdings die verschiedenen Einkommensgruppen, die verschiedenen Zahlungen zu Beginn oder nach 60 Monaten Arbeitslosigkeit, sowie die Dauer der Zahlungen berücksichtigt, so gleichen sich die Summen eher an. Anders als im Gesundheitswesen und bei der Rentenversorgung ist die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit freiwillig, die Beiträge werden von Arbeitnehmern und anteilig von den Arbeitgebern bezahlt, die Auszahlung erfolgt nach staatlichen Regelungen aber nicht durch die Staatskasse. Traditionell ist der Beitritt zur Gewerkschaft verbunden mit dem Abschluss einer Arbeitslosenversicherung, daher auch der hohe Organisationsgrad. Heute gibt es aber auch - in Dänemark z.B. 37 - zusätzliche Privatversicherungen.

Eine Besonderheit sozialer Regelung sind die zahlreichen Umschulungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten durch die Einrichtung von Sonderurlauben, die auch als Elternschaftzurlaube gewährt werden. Bis 1999 gab es sogar ein sogenanntes "Sabbatjahr" (Berufsurlaub für ein Jahr). Bei Erhalt des Arbeitsplatzes werden sie mit 60 Prozent des vorherigen Lohnes vergütet und über 25-Jährigen mit Berufserfahrung gewährt. Natürlich senken die freigemachten Stellen die Arbeitslosigkeit - aber diese verursacht ja ebenfalls gesellschaftliche Kosten. Ideologisch bewirkt diese Form des Umgangs mit den Arbeitsnehmern auf jeden Fall einen höheren Grad an sozialer Wertschätzung.

Das nordische Modell hat ein steuerfinanziertes Gesundheitssystem mit geringem Anteil von Eigenleistungen für Zahnersatz und Arzneimittel und einer hohen Krankengeldzahlung bis zu 1900 Euro monatlich in Dänemark. Ein Kritikpunkt gegen das nordische System ist der relativ hohe Krankenstand: in Schweden durchschnittlich pro Arbeitnehmer 26 Tage, in Finnland 15 Tage. Dänemark passt sich mit "nur" 10 Tagen dem sonstigen europäischen Standard an: Deutschland mit 6, Irland mit 6 Tagen.

Kritiker werten auch diesen Zustand als Billigung "versteckter Arbeitslosigkeit". Dazu müsste man im europäischen Vergleich dann aber auch andere Faktoren wie hohe Frühinvalidität (Großbritannien) und Frühpensionierung (Österreich), sowie die Nutzung saisonal befristeter, meist ausländischer Arbeitskräfte (besonders in der Schweiz) zählen. Die Folgen "zu geringen" Krankenstandes bleiben auf jeden Fall in den skandinavischen Ländern aus: sie kommen bei der Bewertung des Gesundheitszustandes ihrer Gesellschaften weltweit am besten weg, obwohl sie als Länder mit z.T. sehr geringer Einwohnerzahl besondere Schwierigkeiten für eine flächendeckende Ärzte-, Krankenhäuser- und Pflegeversorgung haben. Schweden gehört zu den gesündesten Völkern der Welt.

Die Versorgung im Alter wird von einer steuerfinanzierten Grundrente (Schweden 731 Euro, Dänemark 1280 Euro), einer weiteren Rentenzulage - nach oben begrenzt - und einer kapitalgedeckten Zusatzpension als Versicherungsleistung auf eingezahlte Beiträge bestritten. Die dänische und schwedische Grundrente steht allen Bürgern und EinwohnerInnen ab dem 65. Lebensjahr mit drei Jahren Wohnsitz im Lande, allen AusländerInnen mit 10 Jahren Wohnsitz auch ohne Arbeitsverhältnisse zu.

So großzügig die Sozialleistungen bemessen werden, so stark sind zum Ausgleich die Steuerprogressionen und die Mehrwertsteuern (Dänemark und Schweden 25 Prozent, Finnland 22 Prozent). Besonders hervorzuheben ist aber, dass die gesamte Steuerfinanzierung von der Einnahme bis zur Verteilung über die Kommunen abgewickelt wird. Sie können also kurzfristig für den Bau einer sozialen Einrichtung die Steuern erhöhen und wieder senken und haben eine uns sehr ungewohnt erscheinende rigorose öffentliche Kontrolle, was aber bestimmt gut gegen Steuerbetrug wirkt. Gut Verdienende erhalten als Ausgleich für ihre hohe Steuerbelastung (bis über 50 Prozent des Lohnes in Dänemark) garantiert eine grundlegende Gesundheitsversorgung und eine akzeptable, auch progressiv steigende Altersversorgung.

Bedeutend ist aber vor allem der sozialstaatliche Umverteilungseffekt, der größer ist als in den Sozialsystemen beinahe aller anderen Länder und der von der Bevölkerung offensichtlich angenommen und gewünscht wird. Arbeitslose, Niedrigverdienende, Frauen, Ältere und vor allem Kinder profitieren davon. Wenn auch die Armutsentwicklung im Zusammenhang mit leichteren Sozialleistungskürzungen in Dänemark, Schweden und Finnland parallel zum internationalen Trend verlief und in den letzten Jahren eine Zunahme verzeichnet, so bleibt doch vor allem die Armut von Kindern fast gänzlich davon verschont. Für sie gibt es eine extensive Betreuung von Geburt an mit kostenloser Gesundheitsversorgung (Erwachsene müssen z.B. bei Zahnbehandlung zuzahlen) über ausreichende Krippen, Vorschulerziehung bis zu den Ganztags- und Gemeinschaftsschulen bis zur 10. Klasse oder zum Abitur. Und für alle Eltern weitgehend kostenlos: Die PISA-Studien bescheinigen dieser Politik vor allem eine Höchststufe der Effektivität, sozial bedingte Nachteile auszugleichen.


Trotzdem konkurrenzfähig?

Befürworter, aber vor allem Gegner des skandinavischen Modells, hinterfragen immer wieder die Konkurrenzfähigkeit dieses sozial kostspieligen Staatsmodells in guten wie in schlechten Zeiten.

Globalisierung und Wirtschaftskrisen haben selbstverständlich auch die nordischen Länder erreicht. Aber seit Anfang 1995 befinden sich Schweden, Dänemark und Finnland in einem ungebrochenen Aufschwung. Gegenwärtig hat Dänemark eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt. Die sozialen Charakteristika mit wohl schwankender, aber immer wieder stabiler wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit lässt danach fragen, mit welchen besonderen Maßnahmen dieser Zustand erreicht wird. Auf jeden Fall können es nicht nur die relativ hohen Steuern sein, die die Organisierung eines so kostspieligen Sozialstaates garantieren.

In den nordischen Staaten sind fast ein Drittel aller Berufstätigen im Öffentlichen Dienst angestellt - im personalintensiven Gesundheits-, Fürsorge-, Kinderbetreuungs- und Schulwesen. Die durch die hohe Anzahl von öffentlichen Einrichtungen und mehr Personal besser versorgten Menschen werden das begrüßen und nicht wie in Deutschland über schlechte Versorgung zu klagen haben. Gegner des nordischen Modells reden aber gerne von öffentlicher "Ineffektivität". Immerhin führen diese Einrichtungen auch wirtschaftlich zu einer hohen Beschäftigungsquote, zu gleichbleibend hohen Steuereinnahmen und geringer Arbeitslosigkeit.

Krisen werden von den Regierungskoalitionen im Norden nicht nur als Finanz- und Schuldenkrise, sondern als solche der privaten Nachfrage interpretiert. Ihre Lohn- und Beschäftigungspolitik spricht dafür. Sicher führen mehrere Wege zum Wirtschaftswachstum, aber wo in den letzten Jahren Konsum gar nicht oder nur leicht gestiegen ist, wie in Deutschland und den Niederlanden, war trotz vermehrtem Export das Wirtschaftswachstum sehr gering. Auch Untersuchungen in anderen westlichen Ländern bestätigen dies. Zur Förderung des Konsums versuchten Dänemark und Schweden, die Hauspreisentwicklung und die steuerliche Förderung von Hypotheken zu beeinflussen. Dies bewirkte, dass in den 90er Jahren auf den Häuserkauf allein ein Drittel des Konsumanstiegs zurückzuführen war. Als ab 2000 in Dänemark statt bisher 46,4 Prozent nur noch 32 Prozent der Hypothekenzinsen von der Steuer abgesetzt werden konnten, kühlte sich die Wirtschaft deutlich ab.

Auch Glück spielt im wirtschaftlichen Prozess eine Rolle. Das vor Norwegens Küste entdeckte Öl ist für dieses Land ein solcher Glücksfall. In Ermangelung sonstiger industrieller Ressourcen außer dem Fisch, kann dieses Land nur so seinen sozialen Standard und seine Konkurrenzfähigkeit erhalten. Auch Dänemark verdankt in den letzten Jahren seinen wirtschaftlichen Aufschwung in hohem Maße dem vor seiner Küste in der Nordsee gefundenen Öl. Es ist allerdings nicht ausschließlich davon abhängig, sondern hat wie Schweden und Finnland auch anderes zu bieten.

Die drei verbliebenen Länder haben zusätzlich zu ihrer hochentwickelten traditionellen Produktion - in Dänemark mit 12 Prozent die Landwirtschaft, in Schweden und Finnland mit 15 bzw. 26 Prozent die Erzeugung von Holz und in Schweden mit Industrieprodukten wie Metallen - weitere bedeutende Innovationen vorgenommen und einen neuen hochproduktiven Marktsektor hervorgebracht. Mit 4 bzw. 3,5 Prozent des Innovationsfaktors liegen um einen ganzen Prozentpunkt höher als Deutschland. Das bewirkt wiederum ein Anwachsen privater und internationaler börsenfinanzierter Investitionen. Zu den Anstrengungen, wirtschaftlich voranzukommen und in die umliegenden europäischen Länder zu exportieren, gehört auch das bereits erwähnte effektive Bildungs- und Weiterbildungssystem. Beim "Global Competitiveness Index" (weltweiter Vergleich der Wettbewerbsfähigkeit) nehmen sie jedenfalls einen Spitzenplatz ein. Eine Steigerung der Produktivität, der Spezialisierung mit komparativen Vorteilen (danish design) und ein Vordringen in den Bereich der modernen Elektronik- und Informationstechnologie (Nokia) ließ sie wirtschaftlich aufholen.


Zusammenfassung

Das skandinavische Modell ist aus einer ganz besonderen historisch-politischen Konstellation entstanden. Es ist geprägt von einem vergleichsweise hohen Bruttosozialprodukt, von einer traditionell und modern geführten Marktwirtschaft mit zahlreichen neuen Innovationen. Es kann sich auf grund dessen immer noch ein europaweit bewundertes Sozialsystem leisten, in dem alle Bürger einen hohen steuerlichen Einsatz leisten müssen, aber dafür eine ungleich gute Sozialversorgung erhalten. Ihr Umverteilungseffekt - der geringe Unterschied zwischen Arm und Reich vor allem mit seiner Wirkung auf die Situation bei Kindern - ist vorbildlich. Dem liegt neben den äußerlich wirtschaftlichen Bedingungen sicher auch eine politisch-ökonomische, keynesianistische Einstellung der Wirtschaftsunternehmen, sowie ein in den wechselnden Regierungskoalitionen geübtes System des Konsensualismus zugrunde. Für die Bevölkerung scheint diese Form des Staatswesens auf jeden Fall ideologisch das non plus ultra zu sein. Jeder Versuch ihrer Regierungen, diesen Sozialen Wohlfahrtsstaat zu beschneiden, wurde mit heftigen und erfolgreichen Widerstand gekontert - allen Wirtschafts- und Finanzkrisen zum Trotz.

Ein solch historisch gewachsenes, eigenständiges und kompliziertes Sozialmodell aber einfach auf andere kapitalistische Gesellschaften übertragen zu wollen, ist sicher von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es als Anregung für mögliche Alternativen in bestimmten Bereichen des eigenen sozialen Wohlfahrtsstaates zu nutzen, scheint geboten.


Quellen:

Uwe Becker: "Was ist dran am skandinavischen Modell?" aus: "Leviathan"; Volume 36, Number 2 / Juni 2006, Seite 229ff: Verlag für Sozialwissenschaften

Philip Manow; "The Good, the Bad and the Ugly", Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 2, 2002

Martin Bolkovac: "Sozialpolitik im internationalen Vergleich", Reihe Sozialrecht, Skript des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, 2007

Jürgen Kaube: "Was dem einen der Ackerbau, ist dem anderen die Kirche", www.ezc16.de/cms/sozialstaat-kaube.html

Goesta Esping-Andersen, "The Three Worlds of Welfare Capitalism", Cambridge 1990


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Quelle:
Gegenwind Nr. 247 - April 2009, Seite 12-16
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2009