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GEGENWIND/443: 15 Jahre "Frieden" in Bosnien


Gegenwind Nr. 266 - November 2010
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

15 Jahre "Frieden" in Bosnien:
"Hinter der Fassade ist alles in einem sehr desolaten Zustand"

Interview von Reinhard Pohl


Solveigh Deutschmann gründete 1992 gemeinsam mit anderen die Gruppe "Den Krieg überleben" in Kiel. Es war die örtliche Aktionsgruppe einer bundesweiten Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hatte, Flüchtlinge aus dem Krieg in Bosnien aufzunehmen und zu unterstützen. Später half sie Flüchtlingen bei der erneuten Existenzgründung in Bosnien, bei der Übersiedlung (Weiterwanderung) in die USA oder nach Australien, beim Kampf um ein Bleiberecht und gegen drohende Abschiebungen.
Im Sommer 2010 besuchte Solveigh erstmals seit acht Jahren wieder Bosnien. Aus diesem Anlass trafen wir uns mit ihr.


GEGENWIND: Vor ungefähr 18 Jahren hast Du angefangen, für bosnische Flüchtlinge zu arbeiten. Anlass war der damals ausbrechende Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Jetzt warst Du nach längerer Zeit in Bosnien. Wie ist Dein Eindruck von der heutigen Situation im Land?

SOLVEIGH DEUTSCHMANN: Ich war schon oft in Bosnien. Ich war während des Krieges da, habe Hilfstransporte begleitet und mir die Situation im Land angeschaut, ich war während des Wiederaufbaus zwei mal dort, und jetzt war ich nach acht Jahren wieder da. Die Situation ist sehr befremdlich. Ich hatte den Eindruck, alle Menschen dort leben mit einem Muskelkater, sind schwer beweglich. Sie wirken wie in Trance. Wenn man näher mit einzelnen zu tun hat, wirken sie eher gelöst, als schafften sie es, die Probleme, wie beispielsweise die Arbeitslosigkeit von ca. 45 prozent, zu verdrängen.

Ich war erst in Sarajewo und dann an der ehemaligen Front. Dort ist alles sehr schön wieder aufgebaut, es ist kaum noch zu erkennen, was alles mal zerstört war. Wenn man genauer hinschaut, die Krankenhäuser besucht und deren Ausstattung sieht, ist es sehr beschämend, sehr traurig. Hinter der Fassade ist alles in einem sehr desolaten Zustand, schlecht versorgt. In den Städten ist es etwas besser, aber die Ärzte haben einfach keine Mittel zum Arbeiten. Apotheken sind wieder aufgebaut, aber die Apotheken wirken wie Schlachter ohne Fleisch.

GEGENWIND: Ist der Wiederaufbau auch aus eigener Kraft erfolgt? Oder sind es ausländische Gelder?

SOLVEIGH DEUTSCHMANN: Den Aufbau haben die Bosnier nicht selbst geschafft. Nach dem Abkommen von Dayton gab es die Föderation aus Bosnien-Herzegowina und der Serbischen Republik, jetzt sagen sie nur noch Bosnien und Herzegowina. Alles trennt sich, wurde mir von vielen Einhemischen berichtet, sie sagten, in Bosnien lebten hauptsächlich die Kroaten, in der Herzegowina die Moslems. Die werden stark unterstützt, vor allem aus der Türkei, das ist sehr gut zu erkennen. Man sieht auch: Was baue ich auf, was baue ich nicht auf, das wird von den Geldgebern bestimmt. Die Leute reden ungern über die Verhältnisse vor dem Krieg. Das ganze Land ist westlich, wenn Du die Cafés oder europäisch geprägten Shoppingcenter ansiehst. Du kannst alles kaufen, wenn Du Euro hast, es ist aber häufig teurer als bei uns. Der Westen wird total abgelehnt, wir wurden auch nicht besonders freundlich angesehen, was aber offensichtlich widersprüchlich ist, da viel Unterstüzung aus EU-Ländern kommt. Die Begegnungen mit ehemaligen Flüchtlingen aus Deutschland waren noch am angenehmsten, weil die das Leben in Deutschland am besten kannten und realistisch mit ihrem heutigen Leben in Bosnien vergleichen konnten. Aber die Integration der Flüchtlinge aus Deutschland ist schwierig, sie sind oft einfach unerwünscht.

GEGENWIND: Bei 45 Prozent Arbeitslosigkeit - wovon leben die Menschen?

SOLVEIGH DEUTSCHMANN: Das kann ich nicht genau beantworten. Ich weiß nur so viel: Man muss, um überhaupt Leistungen beziehen zu können mindestens 20 Jahre sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben. Bei 40 Jahren entsteht automatisch ein Rentenanspruch und man kann diesen umgehend wahrnehmen. Das Renteneintrittsalter liegt bei 65 Jahren.

Arbeitslosenhilfe ist, wie mir eine bosnische Bekannte erzählte, eher symbolisch, was zu viel Abwanderung ins Ausland führt.

Es gibt aber augenscheinlich sehr viel Armut. Man erkennt das daran: Wenn die Menschen Essensreste, Lebensmittel wegschmeißen, werfen sie die nicht in die Mülltonne, sondern hängen sie in kleinen Plastiktüten außen an die Mülleimer ran. Dann kann jemand anders sich das nehmen.

GEGENWIND: Wie ist es mit jungen Leuten? Planen sie eine Karriere in Bosnien? Oder wollen sie weg?

SOLVEIGH DEUTSCHMANN: Ich glaube, die Menschen, die dort nicht leben wollen, leben dort auch nicht mehr. Es gibt einen Teil, der es geschafft hat, oft durch gutes Verheiraten mit Ausländern. Viele über 20 Jahren, die noch im Land leben, halte ich für traumatisiert. Es gibt wunderschöne Frauen, gut angezogen, in den Straßen zu sehen, aber ohne Wünsche für die Zukunft, ohne Plan. Auch gibt es eine große Politikverdrossenheit, die Jugend sieht in den Ideen der PolitikerInnen keine Perspektiven.

Und es wirkt so, als gäbe es bei vielen den Wunsch, wieder zu einem Krieg zu kommen. Diejenigen, die einen neuen Krieg wollen, sind stärker als die, die den Krieg ablehnen. Mir wurde gesagt, dass es ein Krieg des Westens war, der den Krieg wollte - zwei Elefanten haben gekämpft, das Gras hat gelitten. Und das Ergebnis wollen viele korrigieren, sie wollen einen neuen Krieg.

GEGENWIND: Wie sind die Wahlen jetzt ausgegangen?

SOLVEIGH DEUTSCHMANN: Auf bosnischer Seite hat Bakir Izetbegovic gewonnen. Er ist der Sohn des verstorbenen bosnischen Präsidenten während des Krieges. Er ist auch Moslem, gibt sich sehr global und tolerant. Er hat Wahlkampf mit dem Versprechen gemacht, sich zu öffnen, "die Gräben zu schließen".

Der Islam ist aber eine große Kraft im Land, viel stärker als vor dem Krieg. So wie ich es sehen konnte, gab es eine nahezu unübersichtliche Zahl von Parteien. Aber wichtiger ist mir: Die drei Volksgruppen leben kaum zusammen und wollen nicht zusammen leben. Sie gehen nicht in eine Schule, sie haben nicht viel miteinander zu tun. Moslems gehen in die moslemische Schule, Serben in die serbische Schule, Kroaten in die kroatische Schule. Und zwischen ihnen scheint es viel Haß zu geben. Anders scheint es in Sarajevo zu sein. In der größten Stadt des Landes ist mir nicht aufgefallen, dass es nennenswerte Probleme gibt.

Man kann in alle Landesteile fahren, ich war auch überall. Überall sind viele Polizeikräfte, alles wird bewacht, aber es gibt kaum Ansätze etwas gemeinsam zu machen. Die Serben sehen Russland als Verbündeten, die Kroaten die USA, die Bosniaken, das darf man heutzutage wohl wieder sagen, es wird auch gerne gesehen, nachdem es im Krieg ein Schimpfwort war - die Bosniaken schließen sich den Türken an. Die Türkei ist das einzige Land, in das sie visumfrei reisen können. Und in jedem Landesteil erkennt man sofort, wo das Geld herkommt.

GEGENWIND: Orientieren sich der serbische und der kroatische Landesteil eher nach Zagreb und Belgrad als nach Sarajewo?

SOLVEIGH DEUTSCHMANN: Ja.

GEGENWIND: Und wie wird die EU gesehen? Die hat ja faktisch durch ihren Verwalter eine Art Kolonialherrschaft übernommen.

SOLVEIGH DEUTSCHMANN: Die EU wird negativ gesehen. Alles, was von Europa kommt ist schlecht - aber sie leben und kleiden sich nach europäischem Vorbild und wollen auch in die EU. Aber an allem, was schlecht läuft, wird der EU die Schuld gegeben. Die EU ist schuld am Krieg. Ebenso wird die UN gesehen.

GEGENWIND: Hast Du im Land von der EU oder von den Truppen etwas bemerkt?

SOLVEIGH DEUTSCHMANN: Nein, im Land nicht. Ich bin mit einem Bundeswehr-Soldaten zusammen geflogen, der war im Kosovo und ist jetzt in Sarajewo. Er sagte, es ist sehr ruhig, sie fahren ab und zu rum, aber es wäre eher ein Camping-Urlaub. Sie sind da, aber gesehen habe ich nicht viele. Gesehen habe ich meist aber nur einheimische Polizei. Die europäischen Truppen rechnen anscheinend überhaupt nicht mehr mit einem neuen Krieg.

GEGENWIND: Hast Du noch Flüchtlinge getroffen, die Du aus den 90er Jahren aus Schleswig-Holstein kanntest?

SOLVEIGH DEUTSCHMANN: Nein, fast gar nicht. Ich glaube, ungefähr 10 Prozent sind hier geblieben, viele sind ins Ausland, aber der größte Teil ist zurück gegangen nach Bosnien, auch abgeschoben worden. Aber es ist jetzt zu keiner Begegnung mehr gekommen. Ich habe zu drei Familien noch Kontakt gehabt, ihnen auch geschrieben, dass ich komme, aber ohne Antwort. Ich habe eine Frau besucht, die ich von hier kannte. In Bosnien müssen sich TouristInnen und BesucherInnen bei den Polizeistellen melden, aber die Freundin, bei der ich auch gewohnt habe, wollte dies nicht. Sie wollte nicht, dass die Behörden erfahren, dass sie Besuch aus Deutschland hat.

Ich habe andere kennen gelernt, die aus Deutschland zurückgekehrt oder abgeschoben sind. Ein großer Teil von ihnen hat Arbeit, also wer einen Schulabschluss aus Deutschland mitgebracht hat, hat es leichter. Wer deutsch kann, ist sehr begehrt, zum Beispiel in Hotels. Andere haben ihre Gastronomie dort wieder aufgebaut, weil sie es in der BRD gelernt haben. Man bekommt leicht Kredite, wenn man etwas aufbauen will.

GEGENWIND: Ist das Land kreditwürdig? Oder sichert die EU einfach ab, dass Gelder fließen?

SOLVEIGH DEUTSCHMANN: Das kann ich nicht genau beurteilen. Sicher ist, dass Bosnien mit der KM (Komplatible Mark) eine an den Euro gebundene und somit relativ stabile Währung hat. Auf die Frage bezogen würde ich schätzen, dass das zweite eher zutrifft.

GEGENWIND: Wie beurteilst Du im Rückblick Deine Arbeit für die Flüchtlinge? Hat sich das gelohnt?

SOLVEIGH DEUTSCHMANN: Es lohnt sich immer Menschen zu helfen! Aber jetzt für Bosnien etwas zu machen, ist sehr schwer. Bosnien stellt kaum etwas her, ich habe gerade mal eine Marmeladenfabrik gesehen, auch Tabakfabriken gibt es. Aber eine funktionierende Industrie, wie es ja teilweise vor dem Krieg der Fall war, ist nicht erkennbar und scheint kaum angestrebt zu sein.

Aber eine Projektidee wie vor ein paar Jahren funktioniert heute nicht. Wir wollten damals 25 Nähmaschinen in einer Schule aufstellen, damit sie dort ihre Mode selbst nähen - das will heute keiner haben. Sie möchten leben wie Europäer, aber sie wissen keinen Weg dorthin.

GEGENWIND: Früher war das Land eine Fertigung für billige Konsumwaren, die Kühlschränke von Neckermann und so. Plant die EU wieder so etwas, ein Reservoir billiger Arbeitskräfte?

SOLVEIGH DEUTSCHMANN: Nein, das würde ich nicht sagen. Es wird in dieser Richtung aber auch von einheimischer Seite nichts gebaut. Ich habe keine Möbelgeschäfte gesehn, kein Geschirr in den Supermärkten, kaum Schreibwaren, keine einheimische Mode. Es gibt viele Importe, alles teurer als hier.

GEGENWIND: Ist das Land ein Reservat für abgeschobene Flüchtlinge?

SOLVEIGH DEUTSCHMANN: Nein, so kann man das nicht sagen. Es ist aber tief gespalten. Es gibt nicht nur einen Hass auf die Feinde, sondern auch einen Hass auf die Flüchtlinge, die während des Krieges weg waren und danach wieder kamen, aus Sicht der Dagebliebenen "mit vollen Taschen". Sie gelten oft als Verräter.

GEGENWIND: Deutschland gehört jetzt mit den anderen EU-Ländern zum Abkommen, dass es Kroaten und Serben erlaubt, frei zu reisen. Bosnier brauchen wie Kosovaren ein Visum. Wird das als ungerecht empfunden, dass der ehemalige Kriegsgegner von Deutschland besser behandelt wird?

SOLVEIGH DEUTSCHMANN: Ja, eindeutig. Es ist ja auch ungerecht. Nur in die Türkei darf man frei reisen, ansonsten fühlen sie sich von der EU ausgesperrt. Das ist logisch, oder? Es gibt Wut und Hass deswegen.

GEGENWIND: Wie entwickelt sich der Islam unter diesen Umständen?

SOLVEIGH DEUTSCHMANN: Sarajewo hat mittlerweile um die 70 Moscheen, das waren vor dem Krieg, besonders unter Tito, wohl deutlich weniger. Und das Straßenbild scheint mir stärker muslimisch geprägt als früher. Dies scheint so, da viele Frauen mit einem Kopftuch auf die Straße gehen, von fast überall ein Minarett zu sehen ist und Du morgens, wenn Du es nicht gewöhnt bist, immer wieder aufwachst, wenn der Muezzin zum Gebet ruft. Bei meinen letzten Reisen ist mir dies nicht aufgefallen. Eine Veränderung scheint begonnen zu haben viel mehr. Vieles im Land wirkt auf mich männlich dominiert.

In den Moscheen gibt es viele Bibliotheken, aber wenig wird ausgestellt, viel wird im Keller gelagert, erzählte mir eine Studentin an der islamischen Fakultät. Und man sieht, dass das Geld in Sarajewo aus der Türkei und anderen muslemisch geprägten Ländern kommt, dort kommt die Hilfe her. Die große Bibliothek von Sarajewo, die im Krieg abgebrannt ist, ist immer noch nicht wieder aufgebaut, da steht immer noch ein Gerüst. Aber Geldgebern ist dies offensichtlich nicht wichtig. Immerhin stellen heute bosnische Künstler ihre Werke dort aus.

GEGENWIND: Willst Du Dich weiter für Bosnien engagieren?

SOLVEIGH DEUTSCHMANN: Es bleiben meine Freunde. Aber über die aktuelle Situation im Land bin ich überrascht, enttäuscht und befremdet. Mir macht am meisten zu schaffen, wie unbeliebt die Menschen sind, die aus dem Westen zu Besuch kommen. Ich werde immer für die Menschen da sein.


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Quelle:
Gegenwind Nr. 266 - November 2010, Seite 21-23
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. November 2010