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GEGENWIND/676: Europa und die Anschläge


Gegenwind Nr. 336 - September 2016
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

Europa und die Anschläge

Von Reinhard Pohl


Zur Zeit gibt es täglich Anschläge des "Islamischen Staates". Nizza und Paris, Brüssel und Ansbach sind Symbole dafür. Und Qamischli. Qamischli? Genau das ist das Problem. In Ansbach wurde außer dem Attentäter selbst niemand getötet. In Qamischli sah es ganz anders aus. Dennoch gilt: Anschläge in Europa und Deutschland finden überall in der Presse Aufmerksamkeit. Ein Anschlag in Qamischli ist höchstens mal auf Seite 12 in der Zeitung zu finden.


Qamischli ist die Hauptstadt von Cizire, einem der drei Kantone des kurdischen Proto-Staates Rojava im Norden Syriens. Die beiden anderen Kantone, Kobane und Afrin mit gleichnamigen Hauptstädten, sind hierzulande bekannter. Qamischli ist aber mit rund 200.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, dazu kommen ungezählte Flüchtlinge, sehr viel größer.

Die Stadt wurde 1926 von Assyrern gegründet, die dem Genozid in der Türkei entkommen waren und hier vor den Soldaten Atatürks Schutz fanden. Heute leben hier Kurden, Armenier, Assyrer und Araber zusammen, wobei die Kurden die große Mehrheit bilden.

Qamischli wurde am 27. Juli 2016 zum Tatort des "Islamischen Staates": Rojava hat in den letzten zwei Jahren sein Gebiet sehr stark erweitert, und zwar regelmäßig auf Kosten des "Islamischen Staates" und damit der Türkei. Im Sommer 2014 wurde Kobane befreit und das gesamte Umland zu Rojava geschlagen. Im Sommer 2015 gelang die Befreiung von Tall Abyad und damit die Vereinigung von Cizire und Kobane, die Nachschubroute des IS von der Türkei nach Raqqa wurde unterbrochen. Im Sommer 2016 schließlich wurde Manbidsch, zwischen Kobane und Aleppo gelegen, befreit. Damit ist die letzte Landverbindung zwischen der Türkei und dem Islamischen Staat unterbrochen.

Die beiden Anschläge vom 27. Juli waren eine Antwort des Islamischen Staates. Zwei Autobomben detonierten an diesem Tag in der Hauptstadt von Rojava. Qamischli liegt 270 Kilometer von Raqqa entfernt, direkt an der türkischen Grenze. Mit diesen beiden Anschlägen wollte der Islamische Staat demonstrieren, dass er trotz der großen Gebietsverluste noch handlungsfähig ist. Rund 50 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt. Es handelte sich wohl um LKWs, die mit Sprengstoff gefüllt waren.

Es waren keineswegs die ersten oder einzigen Anschläge in Qamischli, aber mit Abstand die verheerendsten. Darauf wollten am 29. Juli Kurdinnen und Kurden in Kiel durch eine Mahnwache aufmerksam machen. Obwohl die Lokalzeitung "Kieler Nachrichten" morgens darauf aufmerksam machte, blieben die KurdInnen unter sich. Anwesend waren vor allem Kurdinnen und Kurden aus Rojava, dazu kamen aber auch einzelne aus Kurdistan (Irak), aus dem Iran, der Türkei und natürlich aus Kiel.

Leider war die Vorbereitung und Anordnung ungünstig: Es gab keine Informationen, keine Flugblätter vor Ort, und die Mahnwache stand im Kreis dicht an dicht um einen Kreis von Kerzen und Blumen. Passantinnen und Passanten, die den Ort der Mahnwache direkt vor dem Hauptbahnhof reichlich frequentieren, sahen die beiden Polizeiautos und viele, viele Rücken, allerdings keine Transparente und kaum ein Gesicht. Die Reden wurden zwar mit einem Megaphon verstärkt, waren allerdings weitgehend auf Kurdisch, so dass auch so keine Information zur Bevölkerung transportiert wurde.

Veranstalter war das "Zentrum für Beratung und Integration für kurdische Migranten e.V." in Kiel, das unter dem Namen "Komela kurd ii Kiel e.V." auf Facebook präsent ist, aber leider bisher nicht auf deutsch publiziert. Das Zentrum will sich aber am 6. September beim "Forum für Migrantinnen und Migranten" im Kieler Rathaus vorstellen.

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Quelle:
Gegenwind Nr. 336 - September 2016, Seite 16-17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2016

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