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GEGENWIND/679: Jemen - Vergessener Krieg?


Gegenwind Nr. 337 - Oktober 2016
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

FLUCHT & ASYL
Vergessener Krieg?
Jemen 2016: Krieg, Flucht und Asyl in Schleswig-Holstein

von Reinhard Pohl


Seit 2011, seit Beginn des "Arabischen Frühlings", herrscht im Jemen Krieg. Begonnen hatte es 2011 mit Protesten gegen den langjährigen Präsidenten Saleh, die schließlich zu seinem Sturz führten. Doch die Auseinandersetzungen um die Nachfolge mündeten in einen Bürgerkrieg, in dem die Huthi-Miliz die Oberhand gewann. Ende März 2015 griff Saudi-Arabien an der Spitze einer Koalition von 14 Staaten ein, aus dem Bürgerkrieg wurde ein internationaler Krieg. Tausende Menschen sind seitdem getötet worden, Hunderttausende sind geflohen. Das Land, bereits vorher das ärmste Land Arabiens, ist weitgehend zerstört.


Jemen: Grunddaten

Der Jemen ist mit 528.000 qkm ungefähr eineinhalb mal so groß wie Deutschland. Das Land hat rund 28 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, ungefähr 40 % sind Zaiditen (Konfession des Islam), rund 60 % sind Sunniten.

Der heutige Jemen entstand 1990 aus der Vereinigung der Arabischen Republik Jemen (Nordjemen) und der Demokratischen Volksrepublik Jemen (Südjemen). Präsident war seit 1990 Ali Abdullah Saleh (geboren 1942), der den Nordjemen bereits seit 1978 als Präsident regiert hatte. Der Nordjemen war ein konservativer, westlich orientierter Staat. Dagegen war der Südjemen mit der Sowjetunion verbündet, allerdings hatte sich die Sowjetunion 1990 aufgelöst (Juni 1990, offizielle Auflösung Dezember 1991).

1994 gab es einen Aufstand im Südjemen zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit vom Norden, der aber von der Armee niedergeschlagen wurde.

Arabischer Frühling

Die Proteste, die 2010 in begannen, richteten sich dort so in Libyen, in Ägypten, in Marokko, in Jordanien und in Syrien gegen die Regierungen. Gefordert wurde Demokratie und ein Ende der Korruption. Während in Tunesien und Ägypten die Regierungen stürzten, konnten sie in Marokko und in Jordanien die Protestierenden mit Reformen besänftigen. In Syrien, Libyen und Jemen führten die Proteste zum Krieg.

Saleh hatte 1001 die Verfassung ändern lassen, danach wurde die Zahl der Amtszeiten auf zwei beschränkt (seine vorigen Amtszeiten nicht mitgerechnet), die Amtszeit allerdings von fünf auf sieben Jahre verlängert. 2011 entwarf er dann eine neue Verfassung, in der die Zahl der Amtszeiten nicht beschränkt war - ohne diese Verfassungsänderung hätte der 2013 nicht noch mal kandidieren können. Die Demonstranten forderten seinen Rücktritt, vor allem wegen der Korruption. Am 3. Juni 2011 traf eine Rakete den Präsidentenpalast, der Präsident wurde schwer verletzt und nach Saudi-Arabien ausgeflogen. Nach einigem Hin und Her trat Saleh am 23. November 2011 zurück, nachdem ihm Straffreiheit und freie Ausreise in die USA zugesagt worden war.

Nachfolger wurde Vizepräsident Abed Rabbo Mansur Hadi, der ihn schon 2011 vertreten hatte. Er wurde bei den Präsidentschaftswahlen im Februar 2012 zum "Übergangspräsidenten" für zwei Jahre gewählt mit der Aufgabe, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden und eine neue Verfassung auszuarbeiten. Die Proteste gingen aber weiter und gingen in einen Bürgerkrieg über.


Die Kriegsparteien
Huthi-Miliz

Die Huthi-Miliz wurde vermutlich 1994 von Hussein al-Huthi gegründet und nahm 2004 den Kampf gegen die Regierung auf (oder die Regierungsarmee gegen die Huthi-Miliz). Hussein al-Huthi wurde im September 2004 getötet, danach übernahm erst sein Vater Badr al-Huthi, danach der Bruder Malik al-Huthi die Führung. Der Eigenname der Miliz ist "Ansar Allah" (Helfer Gottes). Sie berufen sich auf die rund 1000-jährige Herrschaft der zaiditischen Imame über den (Nord-)Jemen, die 1962 mit einem von Nasser unterstützten Militärputsch zuende ging. Die Familie Huthi kämpfte noch bis 1970 in dem damaligen Bürgerkrieg um die Macht und den Erhalt der Monarchie, damals im Bündnis mit Saudi-Arabien.

Die Familie al-Huthi führt die eigene Abstammung direkt auf den Propheten Muhammed zurück und beansprucht die Imam-Herrschaft über die Zaiditen, die sich selbst auf Zaid beziehen, den fünften Nachfolger (Iman) des Propheten. Sie werden deshalb auch "5er-Schiiten" genannt.

Die Miliz stand bei den Protesten gegen Saleh in der ersten Reihe und trug zum Sturz des Präsidenten bei. Nach dessen Sturz setzten sie den Kampf gegen die Armee und gegen den Nachfolger, Präsident Hadi, fort. Die jemenitische Armee löste sich ab 2012 auf, weil die meisten Generäle dem neuen Präsidenten Hadi nicht folgen wollten. Die Huthi-Miliz eroberte im September 2014 die Hauptstadt Sanaa und stellte den Präsidenten Huti unter Hausarrest, der konnte allerdings kurz danach nach Saudi-Arabien entkommen.

Inzwischen hat die Huthi-Miliz sich mit dem Ex-Präsidenten Saleh verbündet. Die Mehrheit der aktiven Armee-Einheiten stehen auf Seiten der Huthi-Miliz, die deshalb auch im Besitz schwerer Waffen und Raketen ist. Mehrfach hat die Huthi-Miliz auch Ziele in Saudi-Arabien angegriffen.

Die Huthi-Miliz rückte in den Süden vor und eroberte im Frühling 2015 auch Aden, die ehemalige Hauptstadt des Südjemen. Daraufhin griff Saudi-Arabien in den Krieg ein.

Südlicher Widerstand

Der Aufstand im Süden des Jemen begann offiziell am 27. April 2009, dem (ehemaligen) Unabhängigkeitstag des (ehemaligen) Südjemen. Angeführt wird der Widerstand von Ali Salem Al Baidh, geboren 1939, dem früheren Generalsekretär der Sozialistischen Partei (Regierungspartei Südjemens) und nach der Vereinigung 1990 bis zum Bürgerkrieg 1994 Vizepräsident des Jemen.

Nach dem Scheitern des Aufstandes 1994 ging Al Baidh für fünfzehn Jahre ins Exil nach Oman. Die Regierung im Norden entließ viele Verantwortliche in Behörden und Sicherheitskräften in Südjemen und ersetzte sie durch Nachfolger aus dem Norden. Das führte seit 2007 zu neuen Protesten, die durch Einrücken der Armee in die Orte des Südens beantwortet wurde - der Hauptgrund dafür, dass die Unabhängigkeitsbewegung seit 2009 bewaffnet kämpfte.

Auch der südliche Widerstand ("Hirak") bekämpfte und bekämpft die Regierung Saleh, allerdings aus anderen Motiven: Für die Unabhängigkeit des Südens. Nach dem Sieg der Huthis in Sanaa und dem Vorrücken auf Aden hat sich der südliche Widerstand mit Präsident Hadi und Saudi-Arabien verbündet. Aber während Saudi-Arabien Präsident Hadi wieder zum Präsidenten des gesamten Jemen machen will, will der Südliche Widerstand innerhalb des Krieges für die Unabhängigkeit vom Norden kämpfen.

Saudische Truppen

Die Truppen Saudi-Arabiens sind über den Nordosten und den Süden (Aden) ins Land einmarschiert. Entgegen ihren Ankündigungen hatten sie große Probleme. Die Muthi-Miliz erwies sich als weitaus stärker als von Saudi-Arabien angenommen.

Die Verluste der saudischen Armee scheinen hoch zu sein, werden aber geheim gehalten. Zeitweise wurden Pläne verfolgt, den Sudan zur Entsendung von Truppen gegen Bezahlung zu bewegen. Bisher nehmen andere Koalitionspartner nur im kleinen Rahmen am Krieg teil oder haben die Beteiligung beendet (z.B. Emirate).

Der von Saudi-Arabien unterstützte Präsident Hadi wurde 2013 in einer Wahl mit 99,8 Prozent ohne Gegenkandidaten als "Übergangspräsident" gewählt. Die Wahl wurde im Jemen in großen Gebieten boykottiert, teils auch von al-Qaida verhindert. Hadi hatte als Übergangspräsident die Aufgabe, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, eine neue Verfassung zu entwerfen und Neuwahlen zu organisieren. Nichts davon hat er gemacht. Das Mandat ist 2015 abgelaufen. Insofern ist es umstritten, ob er der "rechtmäßige" Präsident des Jemen ist.

In den kontrollierten Gebieten im Süden des Jemen wird versucht, eine neue jemenitische Armee aufzubauen. In diesen Gebieten, in denen die Huthi-Miliz nicht oder nicht mehr aktiv ist, hat sich al-Qaida sehr stark ausgedehnt, es haben sich auch Gruppen als "Islamischer Staat" abgespalten.

al-Qaida und Islamischer Staat

"al-Qaida auf der arabischen Halbinsel" gibt es im Jemen seit Anfang 2009. Lange Zeit wurde al-Qaida angeführt von Nasir al-Wuhaishi (Jemen) mit Stellvertreter Ali ash-Shihri (Saudi-Arabien). 2011/2012 griff al-Qaida vor allem Armee und Polizei an, es gab Hunderte von Attentaten. Al-Qaida versucht im Jemen (im Gegensatz zu al-Qaida in Pakistan), ein eigenes Gebiet zu beherrschen. Dort verbündet sich al-Qaida mit sunnitischen Stämmen, kümmert sich um die Versorgung mit Trinkwasser, Elektrizität und Gesundheitsdienstleistungen. Das Gebiet in Shabwa (Azzan) und Abyan (Zanjibar) bezeichnet die Organisation als "Emirat".

"Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel" nennt sich im Jemen inzwischen auch "Ansar ash-Sharia" (Helfer der Scharia). Sie sorgen in "ihrem" Gebiet für die Grundversorgung und Ende des Bürgerkrieges, allerdings auch für strenge Regeln bei Verhalten und Bekleidung. Verstöße werden mit öffentlichen Hinrichtungen geahndet. Anfang April 2016 eroberten sie die Hafenstadt Mukalla, die inzwischen von saudischen Truppen zurückerobert wurde.

Al-Qaida stellt den Krieg gegen die Huthi-Miliz auch als konfessionellen Krieg gegen "Feinde des Islam" dar. Seit, der Eroberung von Sanaa durch die Huthi-Miliz 2014 sieht al-Qaida die Huthis als ihren Hauptgegner an. Die Huthi-Miliz wird als Befehlsempfänger des Iran dargestellt.

Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel ist verantwortlich für versuchte Anschläge auf US-Flugzeuge Weihnachten 2009 und Oktober 2010. Sie gibt das Online-Magazin "Inspire" heraus, aus dem auch der Bombenbauer vom Boston-Marathon 2013 seine Anleitungen bezog. Direkter Kontakt bestand auch zu Nidal Malik Hasan, einem US-Major palästinensischer Abstammung, der im November 2009 13 Kameraden in der Basis Fort Hood umbrachte. Der größte Anschlag von al-Qaida aus dem Jemen war der Anschlag auf die Zeitschrift "Charlie Hebto" im Januar 2015 in Paris.

Die USA haben inzwischen alle bekannten Führungspersonen von al-Qaida im Jemen bei Drohnen-Angriffen getötet. Das kam auch denen zugute, die sich im November 2014 unter dem Namen "Islamischer Staat" abgespalten hatten. Dabei handelt es sich vor allem um Freiwillige aus Saudi-Arabien, die sich "im Jemen von al-Qaida trennten. Ein Kommandant war Jalal Balidi ("Abu Hamza az-Zanjibari"). Im März 2015 gab es zwei Selbstmordanschläge auf zaiditische Moscheen in Sanaa mit über 150 Toten, im Mai 2015 einen weiteren Anschlag auf eine Moschee in Sanaa - zeitgleich mit einem Anschlag auf eine schiitische Moschee in Qatif/Saudi-Arabien.

Andere Kriegsparteien

Es gibt noch weit mehr Konfliktparteien. Es gibt lokale (meist sunnitische) Stammesmilizen, außerdem mischen sich die USA, Iran und weitere Länder ein. Insbesondere die ausländische Beteiligung sorgt dafür, den Krieg ins Unendliche zu verlängern.


Humanitäre Situation

Der Jemen war schon vor dem Krieg das ärmste arabische Land. Schon vor dem Krieg gab es eine hohe Kindersterblichkeit und kein Schulsystem, kein Gesundheitssystem, das für alle reichte.

Ein besonderes Problem ist Khat, eine Kaudroge, die das Hungergefühl betäubt und für ein paar Stunden wach hält, keine Miliz kommt ohne Khat aus. Khat ist auch allgemein in der Bevölkerung weit verbreitet. Es verbraucht rund 30 Prozent der landwirtschaftlichen Anbaufläche und bis zu 50 Prozent der Ressourcen für die Bewässerung.

Heute gibt es vermutlich um die Millionen Flüchtlinge, von ihnen hat rund eine Million das Land verlassen. Die Flucht über Saudi-Arabien und die Türkei nach Europa gelingt nur selten. Wenige können auch mit dem Flugzeug fliehen, mit echtem oder falschem Visum. Die Mehrheit der Flüchtlinge flieht nach Saudi-Arabien, Oman oder aufs afrikanische Festland, zunächst also nach Somaliland oder nach Dschibouti.


Asylantrag in Deutschland

In Deutschland wurden Asylanträge aus dem Jemen bis vor Kurzem nur in Schleswig-Holstein bearbeitet. Deshalb leben hier vermutlich rund 1.500 Flüchtlinge aus dem Jemen. Einige sind anerkannt und durften deshalb umziehen. Die meisten sind noch im Verfahren, das nach Auskunft des BAMF (Ende März 2016) durchschnittlich 35,4 Monate dauert.

Seit Ostern 2016 werden Asylanträge aus dem Jemen auch in Düsseldorf bearbeitet, auch dort leben inzwischen Flüchtlinge aus dem Jemen.

Die meisten Asylanträge werden positiv entschieden. 2015 gab es keine Ablehnung, 2016 gab es eine Ablehnung. 30 bis 40 % bekommen den Bescheid "Unzulässig", weil sie in ein anderes europäisches Land zurückgeschickt werden sollen.

Bei den positiven Entscheidungen überwiegt der "subsidiäre Schutz" (Bleiberecht wegen des Krieges), nur wenige werden als Flüchtlinge anerkannt (persönliche Verfolgung).

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Quelle:
Gegenwind Nr. 337 - Oktober 2016, Seite 4-6
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Oktober 2016

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