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GEGENWIND/682: "Europas Krankheit ist der Nationalismus" (Willy Brandt, 1945)


Gegenwind Nr. 337 - Oktober 2016
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

GESCHICHTE
"Europas Krankheit ist der Nationalismus" (Willy Brandt, 1945)
Erinnerungen an Nachkriegskonzepte aus dem Kreis um Willy Brandt und Hermann Louis Brill

von Jörg Wollenberg


Europäische Friedensziele der demokratischen Sozialisten nach wie vor aktuell

Ähnlich wie Hermann Brill und Klaus Mann setzte Willy Brandt nach Ende des Krieges zunächst weiter auf die Einheitsfront der Arbeiterparteien. Gegen den "Fluch der Zersplitterung" argumentierte er ab Anfang Februar 1945 aus Anlass der von den Alliierten in Jalta beschlossenen Teilung Deutschlands in Besatzungszonen.[1] Folgt man den oben zitierten, von Peter Weiss in den "Notizbüchern" veröffentlichten Aufzeichnungen von Willy Brandt zum 9. Februar 1945, dann finden wir dort weitgehende inhaltliche Übereinstimmungen mit den Zehn-Punkte-Programm und dem Buchenwalder Manifest von Brill".[2] Und noch am 7. November 1945 schreibt er an seinen zur KPD zurückgekehrten politischen Ziehvater aus den Exiljahren Jacob Walcher: "In der Parteifrage wünschen wir (die Lübecker Genossen, J.W.) eine Einigung des gesamten Proletariats.


Aber auch hier sind die Bestrebungen von gewissen alten Führern der SPD und KPD im Gange, die ihre alten Ziele von damals wieder zu verwirklichen suchen."[3] Erst nach zwei vergeblichen Bewerbungsschreiben an Kurt Schumacher vom 19. November 1945 und 13. Januar 1946 [4] begann Willy Brandts Anpassungsprozess an den Kurs der alten Führer in der SPD um Schumacher, Löbe und Ollenhauer, dem Brill nicht zu folgen bereit war. Die Erinnerung an Brill verschwindet in den späteren Aufzeichnungen seiner oppositionellen Parteifreunde von einst, die sich wie Brandt wohl an Fritz Erler, den späteren Vorsitzenden der SPD-Fraktion im Bundestag, erinnern,[5] nicht aber an Brass, Brill oder Ackermann. Brill wiederum berichtet nach 1945 äußerst zurückhaltend über Erlers Mitarbeit in ihrer Widerstandsgruppe und im Rahmen des Prozesses vor dem Volksgerichtshof.[6]

Angesichts der Bedeutung Von Hermann Brill verwundert es, dass dieser Querdenker nach 1945 in Ost und Westdeutschland so in Vergessenheit geraten konnte, dass nicht einmal die beiden Landeszentralen für politische Bildung in Thüringen und Hessen (den Hauptwirkungsstätten von Brill), im Juni 2009 genug Teilnehmer unter den Lehrern beider Bundesländer gewinnen konnten, um seine Bedeutung im Rahmen einer Tagung in Weimar zu würdigen.[7] Es ist also kein Zufall, dass wir über den widerständigen Brill wenig oder gar keine Hinweise in wissenschaftlichen Abhandlungen oder in den großen biographischen Lexika finden. Er gehört mit Klaus Mann und Walter Fabian zu den Repräsentanten einer Generation, die in Zeiten politischer Veränderungen nach 1918 oder 1945 vergeblich für den Neuaufbau demokratischer Bewegungen in Deutschland eintraten, weil sie an den inneren Widersprüchen, Diskontinuitäten und Brüchen zwischen den bürgerlichen Demokratiebewegungen und dem sozialistischen Lager scheiterten. Diese Repräsentanten der "europäischen Deutschen" im "anderen Deutschland", wurde nach 1945 in beiden Teilen Deutschlands ausgegrenzt und vergessen: Nach der Zerschlagung der von ihm im Mai 1945 gegründeten ersten Einheitspartei der Nachkriegszeit, dem "Bundes demokratischer Sozialisten" in Thüringen, und kurz vor der Aufnahme der neuen Tätigkeit als Staatssekretär und Chef der hessischen Staatskanzlei in Wiesbaden schrieb Hermann Brill am 29. April 1946 an Paul Hertz, seinem langjährigen Freund aus den Jahren des Widerstands gegen das NS-System: "Es widerstrebt mir ..., diesen Sumpf von materieller Korruption, Brutalität, Feigheit, Gefühlsduselei, Rührseligkeit, die doch alle zusammen ein verantwortungsloses Verbrechen sind, zu beschreiben. Wenn die beiden Worte, die wir Ende 1933 über unser Leben gesetzt haben, jemals einen tieferen Sinn hatten, so haben sie ihn heute: 'Neu Beginnen'!"[8] Verlorengegangen sind dabei jene Vorstellungen von einer europäischen Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, die exemplarisch von Brill und seinen Mitstreitern als "Buchenwalder Manifest der demokratischen Sozialisten: Für Freiheit, Frieden, Sozialismus" formuliert wurden. Er knüpfte dabei an jene Diskussionen an, die er mit seinen vertrauten Genossen aus den Reihen von "Neu Beginnen" um Richard Löwenthal und Paul Hertz 1934 begonnen hatte. Zeitlich und inhaltlich parallel dazu hatten im schwedischen Exil Willy Brandt, Bruno Kreisky, Fritz Bauer und Gunnar Myrdal mit anderen Emigranten die "Friedensziele der demokratischen Sozialisten" in Stockholm verabschiedet. Die im Exil verfassten Buchpublikationen von Stephan Szende (Europäische Revolution), Gunnar Myrdal (Warnung vor Friedensoptimismus) und Fritz Bauer (Die Kriegsverbrecher vor Gericht), alle 1945 in der Reihe Neue Internationale Bibliothek des Europa-Verlages (Zürich/New York) veröffentlicht, dokumentieren diese Visionen einer neuen 'Gesellschaftsrevolution' als Fundament der Demokratie, die vor dem Hintergrund der leidvollen Erfahrungen der beiden Weltkriege den Begriff der Nation selbst zur Diskussion stellt, mit dem so viel Missbrauch getrieben wurde: 'Europas Krankheit ist der Nationalismus'. Ideen und Projekte aus Buchenwald und Stockholm, die in der europäischen Krise von heute zunehmende Aktualität gewinnen könnten, wenn man sie endlich zur Kenntnis nehmen würde. Der damals 26-jährige Willy Brandt hatte diese Diskussion schon Ende 1939 von Norwegen aus mit dem "Traum von Europas Vereinigten Staaten" und dem Buch vom April 1940 über "Die Kriegsziele der Großmächte und das neue Europa" eingeleitet. Als Voraussetzung einer internationalen Neuordnung hält er dort fest, "dass sich die Gesellschaften von kapitalistischer Profitherrschaft freimachen und zur gesellschaftlichen Planwirtschaft übergehen". Das friedliche Zusammenleben der Völker müsse mit Hilfe gültiger internationaler Gesetze auf der "Grundlage eines gemeinsam erarbeiteten Völkerrechts" abgesichert werden.[9] Ideen und Projekte aus Paris, Berlin, Buchenwald und Stockholm, die in der europäischen Krise von heute wieder an Aktualität gewinnen. Als der gleichaltrige Arno Behrisch, einer der engen Mitstreiter von Brandt im Exil, am 20. Oktober 1986 im damals von mir geleiteten Bildungszentrum der Stadt Nürnberg an die von ihm mit verfasste "Nachkriegspolitik deutscher Sozialisten" von 1944 erinnerte, unterbrach der ehemalige SPD-MdB als entschiedene Gegner der Wiederaufrüstung, der Notstandsgesetze und des Radikalenerlasses seine Ausführungen immer wieder mit dem Stoßseufzer: "Lieber Willy, hast Du das ganz vergessen?"[10]

"Den Grundgedanken der Demokratie, den Sozialismus retten"

Der Einfluss des unverdrossenen Brill reichte nach 1945 noch, um sein seit 1936 immer wieder propagiertes Ziel der "völligen Erneuerung des deutschen Volkes", so in der 1938 vorgelegten illegalen Programmschrift "Freiheit", wenigstens in Ansätzen zur Realität zu verhelfen. Brill setzte sich in Westdeutschland dafür ein, "die deutsche Schuld" abzubauen Vordringlich sei, "das große Ziel, das sich die Verfassungspolitik stellen kann und muss" voran zu treiben, nämlich "aus einer zerrütteten Gesellschaft den Grundgedanken der Demokratie, den Sozialismus zu retten," und schließlich so aus einer erschütterten Welt eine bessere Welt aufzubauen." (vgl. den Nachdruck in Brill, Gegen den Strom, 1946). Dazu trug er zunächst in Hessen bei. Dann ab August 1948 als einer der geistigen Väter des Bonner Grundgesetzes unter den 30 Staatsrechtsgelehrten, die am Verfassungskonvent von Herrenchiemsee teilnahmen und den "Verfassungsentwurf" vorlegten, der am 23. Mai 1949 als "Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland"verabschiedet wurde. Dabei galt sein Hauptaugenmerk den Problemen, die schon 1936 die Forderungen des Zehn-Punkte-Programms ausmachten: dem Aufbau eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates mit gesicherten Bürger- und Menschenrechten, dem Ausbau der Selbstverwaltungsorgane und des Genossenschaftswesens wie auch der Notwendigkeit der Verstaatlichung der Banken, des Großgrundbesitzes, der Schwerindustrie und der Energiewirtschaft. Auch das Buchenwalder Manifest war von der Erwartung ausgegangen, dass Deutschland ein baldiges Mitglied der "Weltorganisation des Friedens" werden möge - bei gleichzeitiger Anerkennung seiner "schuldrechtlichen Verpflichtung der Wiedergutmachung der Schäden", die unter der NS-Diktatur im Ausland angerichtet worden waren. Um diese Aufarbeitung systematisch voranzutreiben, initiierte Brill nach 1950 von Hessen aus als SPD-Bundestagsabgeordneter die Gründung des Instituts für Zeitgeschichte in München. Und Brill plädierte für die Einrichtung von Lehrstühlen für die Wissenschaft von der Politik an den deutschen Universitäten. Diese Initiative verhalf seinen Freunden aus dem Widerstand um Eugen Kogon und Wolfgang Abendroth zu Berufungen nach Darmstadt bzw. Marburg. Und sie erleichterte das von ihm geforderte verspätete Rückkehrangebot an Emigranten von Fritz Bauer über Ernst Fraenkel bis zu Siegfried Landshut, Ossip K. Flechtheim und Franz L. Neumann.

Mit Brill plädierten sie für die "Humanistische Front" (Walter A. Betendsohn) [11] und "für ein europäisches Deutschland, gegen ein deutsches Europa".[12] Einer der vergessenen Freunde von Brill und Brandt im Kampf gegen Hitler und für den demokratischen Neubeginn eines erneuerten deutschen Sozialismus, Kurt K. Doberer, Nürnberger Journalist und Londoner Exil-Autor des Bestsellers "Todesstrahlen und andere neue Kriegswaffen" von 1936, forderte 1944 in seiner Exilprogrammschrift über "The United States of Germany" mit direkten Bezug auf Brill und Brandt die Überführung Deutschlands in eine Volksrepublik mit vollkommener Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des Volkes. Die "Verfassung der Vereinigten Staaten von Deutschland" müsse so beginnen: "Die Deutschen Republiken, einig in dem Willen, organische Glieder eines neuen Europas zu sein, haben sich im Namen des Volkes die Verfassung gegeben".[13] "Getragen vom Vertrauen und bewegt von der Hoffnung aller Deutschen". So begann die von Brill mit initiierte Präambel eines schnell in der Versenkung verschwundenen Grundgesetzentwurfes vom Oktober 1948, der gut 40 Jahre danach noch einmal eine neue Perspektive für Freiheit und Sozialismus zu öffnen schien: "Das deutsche Volk in seiner Gesamtheit bleibt aufgefordert, in gemeinsamer Entscheidung und Verantwortung die Ordnung seiner nationalen Einheit und Freiheit in der Bundesrepublik Deutschland zu vollenden."[14] Nach Brills Blick auf den Trümmerhaufen von 1945 als Aussichtsturm gelang es jedoch auch unter besseren Voraussetzungen nach 1989 nicht, an die von Brill geprägte Plattform eines radikaldemokratischen Neubeginns oder an die Präambel von 1948 anzuknüpfen. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurde erneut die Möglichkeit vertan, eine neue Verfassung vorzulegen, die mit dem Zehn-Punkte-Programm von Brill auf den Ausbau von Bürger- und Menschenrechten setzt, von einer Revision des überkommenen Politikverständnisses geprägt ist und einen politisch-kulturellen Modernisierungsschub voran treibt, der Deutschlands europaweite und weltpolitische Rolle als Mitglied der "Weltorganisation des Friedens" berücksichtigt - und das "im engsten Einvernehmen mit den Nachfolgern der "Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" und in "Zusammenarbeit mit allen sozialistisch geführten Staaten in einer europäischen Staatengemeinschaft", wie Brill schon im Buchenwalder Manifest vom 13. April 1945 postuliert hatte.[15] Weder nach seiner Entmachtung in Thüringen noch nach seinem Rückzug aus den Entscheidungsgremien in Hessen hörte Brill auf, "die Verwirklichung des Sozialismus als eine Gegenwartsforderung zu propagieren."[16]

War es "trotz allem eine große Stunde, die Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit", die Thomas Mann zwei Tage nach der Befreiung Deutschlands vom faschistischen Terror den Deutschen aus seinem US-amerikanischen Exil über den britischen Rundfunk (BBC) verkündete? "So viel Anfang (wie 1945) war (scheinbar) nie". Aber viele der linken politischen Entwürfe von Brill, Brandt und anderen unabhängigen demokratischen Sozialisten fanden schnell ihre Schranken in den vom Kalten Krieg bestimmten Machtstrukturen. Die offene geistige Situation nach der Befreiung und "die kurze Epoche der Selbstbesinnung zwischen 1945 und 1948" (Ludwig Rosenberg) wurde von Anfang an belastet durch die unzulängliche Aufarbeitung der "Schuldfrage", die in der alten BRD über die gescheiterte Entnazifizierung zur Weißwäscherei führte und den Neubau mit verhinderte. Viele der sozialistischen Gegenentwürfe verkümmerten im gespaltenen Land. Das Ende erlaubte wohl einen Neuanfang, jedoch "erfüllten sich die großen Hoffnungen der ersten Nachkriegsjahre nicht. Aber es ist vielleicht gut zu wissen, dass es sie gab." Das schrieb Hans Werner Richter, der Gründer der Gruppe 47, 1962 in der Dokumentation über die von ihm 1946 gegründete Zeitschrift "Der Ruf", den "unabhängigen Blättern der Jungen Generation" im besetzten Deutschland, die noch auf einen gesamtdeutschen Zusammenhalt setzte.

"Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus als Ungeist in den eigenen Reihen thematisieren" (Otto Brenner)

Einflussreiche Sozialisten, Kommunisten und Gewerkschafter versuchten nach 1945 zusammen mit den auf einen Rückruf aus dem Exil wartenden Genossen vergeblich, an die unabhängige und marxistisch geprägte Tradition der Pazifisten, Sozialisten und Kommunisten anzuknüpfen. Als bald nach 1945 an den "Karl-Marx-Schulen der Partei" (Otto Brenner) wieder national gesinnte Nicht-Marxisten unterrichteten, schrieb der von der SAP zur SPD zurückgekehrte spätere Vorsitzende der IG Metall, Otto Brenner Ende 1947 einem Brief an die alten jüdischen SAP-Freunde, die in dem US-Exil auf einen Rückruf warteten (Erna und Joseph Lang), überall würde er als Bezirksleiter der IG-Metall in Hannover die "marxistische Richtung in der Defensive" sehen. Aus der Sicht des international denkenden Sozialisten Brenner sei diese Auffassung mit zurückzuführen auf die unzulängliche Analyse der "Situation von vor 1933 und der faschistischen Epoche nach 1933 [...], um zu den richtigen Schlussfolgerungen für die Zielsetzung der Arbeiterbewegung zu kommen". Für den Rosa-Luxemburg-Verehrer Otto Brenner hieß das auch, den Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus als Ungeist in den eigenen Reihen zu thematisieren, der es schon Gustav Noske erlaubte, Rosa Luxemburg als eine "ostjüdische Marxistin" zu diffamieren und ermorden zu helfen,[17] einen Ungeist, der nicht zuletzt den Nationalsozialisten in die Hände spielte und ihnen half, ihren Kampf gegen die 'jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung' zu exekutierten - mit verhängnisvollen Folgen auch nach 1945.

Und was schreiben wir heute, 25 Jahre nach dem späten Geschenk der Siegermächte an beide deutschen Staaten: der in Ansätzen erkämpften, letztlich aber von oben verordneten deutschen Einheit? Denn so viel Anfang wie nach 1945 war scheinbar noch einmal nach 1989. Erneut prägten - wie in der Vierzonenzeit - Selbstbesinnung und Aufklärung die Köpfe und Herzen vieler Menschen aus allen Teilen Deutschlands. Aber so fragen wir: Wie ist es zu erklären, dass bald darauf der scheinbar unaufhaltsame Weg von der ersten Schuld der Deutschen unter Hitler über die die politische Kultur der Bundesrepublik mitprägende zweite Schuld - "die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945" - (R. Giordano) zur dritten Schuld führte: der allzu langen Akzeptanz eines autoritären SED-Herrschaftssystem durch die Bürger der DDR und der Verleugnung stalinistischer Verbrechen auch in Teilen der BRD-Linken? Die "Schwierigkeiten mit der Wahrheit" (Walter Janka, 1989) "nutzten nicht wenige Deutschen hüben wie drüben ... mit Eifer (dazu), die Gnade der späten Geburt in der Gnade des deutschen Neuanfangs aufgehen zu lassen und die viel beschworene deutsche Verantwortungsgemeinschaft in eine deutsch-deutsche Reinwaschungs-GmbH umzuwandeln".[18] Begleitet wurde dieser Weg von zahlreichen Erinnerungsschlachten, vor allem im Umgang mit den Jahrestagen, besonders der NS-Machteroberung und des Kriegsendes. Niederlage, Kapitulation und Befreiung prägten die Deutungen im Land des amtierenden Weltmeisters der "Vergangenheitsbewältigung". Wie wirkungsvoll führende Vertreter von Politik und Geistesleben das Ende der Nachkriegsordnung zur Entsorgung der deutschen Vergangenheit nutzen, ist u. a. daran abzulesen, dass in der Präambel des "Einigungsvertrages" jeder konkrete Hinweis auf die gesamtdeutsche Verantwortung für die Opfer des Nationalsozialismus fehlt. Die Klage des damaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Berlin, Heinz Galinski, über die für die politische Kultur bezeichnende Unterlassung einer Erwähnung des deutschen Schulderbes verhallte im August 1990 fast ungehört und forderte zu keinen nennenswerten Protesten heraus. Im Gegenteil, die Debatte über den Umgang mit der stalinistischen Vergangenheit in der ehemaligen DDR relativierte oder verdrängte die nationalsozialistischen Verbrechen. Und Teile der Linken sahen in der "Entstasifizierung" die Möglichkeit, das zu verhindern, was nach 1945 in der alten BRD über die gescheiterte Entnazifizierung zur Weißwäscherei führte und aus Westdeutschland eine "Mitläuferfabrik" (Lutz Niethammer) machte.


Anmerkungen

[1] Willy Brandt, Berliner Ausgabe, Bd. 2, Nr. 12, 9.2.1945, S. 239.

[2] Vgl. Aufzeichnungen von Brandt vom 9.2.1945, zitiert bei Peter Weiss, Notizbücher 1971-1980, Bd. 1,1981, S. 78-81.

[3] Brandt, Berliner Ausgabe, Bd. 2, S. 255.

[4] Derselbe, Bd. 2, S. 258-261.

[5] Brandt, Erinnerungen, 1989, S. 113.

[6] Vgl. den Briefwechsel Erler-Brill vom November 1947, zitiert bei M. Overesch, Hermann Brill, 1992, S. 279-281.

[7] Dafür erschien ein Sammelband mit den eingeladenen Referenten der geplanten Tagung: Renate Knigge-Tesche, Peter Reif-Spirek (Hg.), Hermann Louis Brill 1895-1959, Wiesbaden 2011.

[8] Zitiert nach Overesch, Brill, 1992, S. 407

[9] Brandt, Berliner Ausgabe, 2002, Bd.1, 8452-458"; 468-495

[10] Arno Behrisch, Zur Nachkriegspolitik deutscher Sozialisten, in: Wollenberg (Hrsg.), 1991, S.281-293.

[11] Walter A. Berendsohn: Die humanistische Front. Einführung in die deutsche Emigranten-Literatur, Worms 1957.

[12] So der Untertitel der Exil-Zeitschrift "Deutsche Blätter", hrsg. in Santiago de Chile von Udo Rukser und Albert Theile von 1943-1946. Parallel dazu rief die "Bewegung Freies Deutschland" (Alemania Libre) in Mexiko unter dem Vorsitz von Ludwig Renn mit Anna Seghers, Heinrich Mann, Kurt Rosenfeld, Leo Zuckermann und Paul Merker am 8. Mai 1943 dazu auf, aus Deutschland einen "wahrhaft demokratischen Staat des Friedens" zu machen. "Es lebe das kommende freie demokratische Deutschland!" (Unser Kampf gegen Hitler. Protokoll der ersten Landeskonferenz der Bewegung" Freies Deutschland in Mexiko am 8. und 9. Mai 1943, S. 59-62.

[13] Kurt Karl Doberer, Die Vereinigten Staaten von Deutschland", 1947, S. 149f. (deutsche Ausgabe im Willi Weismann Verlag, München nach der Londoner Exilausgabe von 1944).

[14] Wolfgang Benz (Hg.), Bewegt von der Hoffnung aller Deutschen. Zur Geschichte des Grundgesetzes, 1979, S.9 ff., S. 239-251 mit Beiträgen von Hermann Brill zu Verfassungsfragen vom März und April 1947; siehe auch J. Wellenberg (Hg.), Von der Hoffnung aller Deutschen, 1989, S. 10 ff.

[15] Buchenwalder Manifest vom 13. April 1945, zitiert nach Brill, Gegen den Strom, 1946, S.100, unterschrieben von 44 Sozialdemokraten und Kommunisten aus Deutschland, Österreich, Niederlande, Belgien, CSR und dem Saarland. Dazu auch die Rede von Brill auf dem 1. Buchenwalder Volkskongress, 23.4.1945 (Overesch, 1995, S. 150-153).

[16] Brill am 22.4.1947 an Friedrich Adler. Aus dem Nachlass Brills zitiert nach M. Overesch, 1992, S. 363

[17] Vgl. Wolfram Wette, Gustav Noske, Eine politische Biographie, Düsseldorf 1987; Rainer Buntenschön/Eckart Spoo (Hg.), Wozu muß einer der Bluthund sein? Der Mehrheitssozialdemokrat Gustav Noske und der deutsche Militarismus des 20. Jahrhunderts, Heilbronn 1997

[18] Michael Schneider, Die abgetriebene Revolution. Von der Staatsfirma in die DM-Kolonie, Berlin 1990, S. 220

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Quelle:
Gegenwind Nr. 337 - Oktober 2016, Seite 46-49
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2016

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