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GEGENWIND/773: Die Diskussion um #Aufstehen braucht Sachlichkeit


Gegenwind Nr. 361 - Oktober 2018
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

Die Diskussion um #Aufstehen braucht Sachlichkeit

von Andreas Meyer


Schon bevor die Sammelbewegung # Aufstehen, unterstützt von hunderttausend Befürworter*innen, mit ihrem Aufruf und einer Pressekonferenz am 4. September das Licht der Welt erblickte, tobte bereits die Kontroverse um Sinn und Zweck einer solchen Bewegung auf Hochtouren. Dass das Führungspersonal von SPD und Grünen eine solche Bewegung ablehnt und demagogisch kritisiert, ist nicht verwunderlich. Denn diese Bewegung will in ihren Zielen die politischen und sozialen Verhältnisse in diesem Land weitgehend verändern, für die eben diese Parteien eine erhebliche Mitverantwortung tragen (z.B. Hartz IV und Kriegseinsätze der Bundeswehr). Innerhalb der LINKEN ist der Streit um diese Bewegung mit Macht- und Strategiefragen und mit persönlichen Animositäten verbunden.

Auch die überwiegende Zahl der sogenannten Leitmedien schießt aus allen Rohren. Von gesellschaftlicher Spaltung, Nationalismus, Querfront und dem Bündnis der Verlierer (Vorwärts) ist die Rede. Letztlich haben auch diese Medien kein Interesse an grundlegenden Veränderungen der politischen und sozialen Verhältnisse, denn sie stabilisieren mit ihrem Mainstream-Journalismus nicht nur den Status Quo, sondern haben sich mit ihm auch gut eingerichtet. Allein diese Bemerkung würde schon reichen, um mit dem Hinweis auf die "Lügenpresse" der AfD als Querfrontler einsortiert zu werden. Das ist schon eine fast automatische und reflexhafte Reaktion auf die Kritik an diesen Medien.

Doch auch im linken Spektrum gibt es deutliche Kritik an "Aufstehen". Auch sie kommt nicht immer sachlich daher. So unterstellt beispielsweise Björn Thoroe im letzten Gegenwind, dass es auch ein Ziel dieser Bewegung sei, "autoritäre Charaktere" zu gewinnen, für die "Freiheit und Selbstbestimmung" eine "größtmögliche Provokation" sei. (Gegenwind 360, September 2018, S. 26) Oft wird diese Art der Kritik mit Sahra Wagenknechts Position zur Migrationspolitik unterlegt. Sie lehnt offene Grenzen für Armutsmigranten ab, weil sie eine Überforderung der Sozialsysteme und Lohndumping befürchtet. Mit ihrem Focus auf die nationalstaatliche Entwicklung und die Ablehnung offener Grenzen wird Wagenknecht eine Annäherung an AfD-Positionen bis hin zum Rassismus unterstellt.

Umgekehrt kommen auch von etlichen "Aufstehen"-Anhängern ebenso polemische Repliken, indem sie beispielsweise die Vertreter offener Grenzen zu neoliberalen Wasserträgern erklären, die eine marktliberale Politik des Lohndumpings unterstützen oder sie zu völlig realitätsfernen, moralisierenden Träumern erklären.

Ich möchte mich hier auf die Auseinandersetzung im linken Spektrum beschränken. Neben den Machtkämpfen und Strategiefragen innerhalb der Partei die LINKE fokussiert sich diese Auseinandersetzung weitgehend auf die Frage, wie man mit Migration umgehen sollte und was das für die nationalen Grenzen bedeutet. Allerdings sind für das linksradikale Spektrum die Forderungen im Aufruf von "Aufstehen" sicher insgesamt zu reformistisch und nicht systemkritisch genug.

Sieht man einmal von den oft dümmlichen wechselseitigen Polemiken ab, zeigt sich, dass sowohl die linken Befürworter als auch die Gegner von "Aufstehen" auf gesellschaftliche und politische Verhältnisse verweisen, an denen eine soziale und emanzipatorische Bewegung nicht vorbeikommt. Es geht einerseits um die globale Solidarität mit Menschen, die zu Flucht und Migration gezwungen werden und andererseits um einen eher nationalstaatlich orientierten Kampf um Umverteilung, Demokratie und soziale Gerechtigkeit.

Dabei gehen beide Seiten davon aus, dass die Basis für die globalen Fluchtursachen und die soziale Schieflage auf nationaler Ebene weitgehend dieselbe ist, ein sich stetig entgrenzender Kapitalismus.

Die universalistische Perspektive

Die Position der offenen Grenzen entstammt einem menschenrechtlichen Universalismus oder auch einem solidarischen Internationalismus, der weltweit Selbstbestimmung und ein gutes Leben für alle Menschen fordert. Aus dieser Sicht sind Kriege und das bestehende globale Reichtums- und Armutsgefälle die Folge eines globalen Kapitalismus, von dem vor allem große Konzerne des Nordens, aber auch die Produzenten und Konsumenten dieser Weltregion profitieren. Da die Politik dieser Staaten und deren Auswirkungen vorwiegend die Ursachen für Migrations- und Fluchtbewegungen sind, erscheint aus dieser Sicht die Forderung nach offenen Grenzen als eine gerechte und humanitäre Notwendigkeit.

In diesem Zusammenhang stellt Hans Jürgen Urban (1) in einem meines Erachtens sehr guten und differenzierten Aufsatz zu Migration fest: "Das unverdiente Privileg, in eine Weltregion hineingeboren zu sein, in der dem Kapitalismus ein beachtliches Maß an Wohlfahrt abgekämpft werden konnte, darf nicht in eine Abschottungsmentalität gegen die umschlagen, die von Rechts als Gefahr für dieses Privileg inszeniert werden." (Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2018, S. 107)

Wagenknecht u.a. propagieren eine wirksame Bekämpfung der Fluchtursachen in den Herkunftsländern. Doch der Verweis auf diese Notwendigkeit ist inzwischen zu einem allseits beliebten Feigenblattargument verkommen; um die Schließung der Grenzen zu rechtfertigen.

Für eine wirksame Fluchtursachenbekämpfung wären mindestens eine grundlegende Umgestaltung der Welthandelsbeziehungen und enorme politisch bedingungslose Investitionsförderungen in die Infrastruktur und lokalen Unternehmen der betroffenen Staaten notwendig. Genau das erscheint aber unter den bestehenden globalen Machtverhältnissen äußerst unwahrscheinlich. Es bleibt also die Frage: Was geschieht mit Migrant*innen solange sich diese Verhältnisse nicht ändern?

Die sozialstaatliche Reformperspektive

Die linke nationalstaatliche Reformperspektive, die auch in # Aufstehen zum Ausdruck kommt, stimmt zwar weitgehend mit den genannten Gründen für Flucht und Migration überein, setzt aber vor allem den Focus auf den Demokratieabbau, die soziale Schieflage und Prekarisierung breiter Bevölkerungsschichten in diesem Land. Während auch hier ein umfassendes und uneingeschränktes Asylrecht befürwortet wird, werden eine ungehinderte Arbeitsmigration und offene Grenzen abgelehnt, was aber im Aufruf von # Aufstehen nicht explizit ausgedrückt wird.

Neben der politischen und sozialen Notwendigkeit einer linken Reformpolitik ist sie aus Sicht der Befürworter von Aufstehen auch strategisch zwingend, um dem wachsenden Rechtstrend zu begegnen. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Gefühle vieler Menschen, sozial abgehängt zu sein und politisch nicht mehr gefragt zu werden, wesentliche Gründe für den Frust und die Wut sind, die von der Rechten rassistisch gegen Geflüchtete und Migranten gewendet werden. Als Indiz dafür wird die Hinwendung von Nichtwählern und von vielen Wählern der SPD und der LINKEN zur AfD angesehen. Der Anteil der Wahlberechtigten, die die AfD bevorzugen, liegt bei Beschäftigten mit einfacher Qualifizierung und bei Arbeitern bei 36 %. Er ist damit fast doppelt so hoch wie im Bundesschnitt. Selbst bei Gewerkschaftsmitgliedern hat er inzwischen 24 Prozent erreicht (vergl. "Junge Welt" vom 5.9.2018, S.12)

Wenn aus dieser Sicht diese Entwicklung nicht durch eine mehrheitsfähige reformorientierte sozialstaatliche Bewegung gestoppt werden kann, erübrigt sich rein faktisch jede fortschrittliche und humanitäre Migrationspolitik. Da würden auch keine moralischen Gerechtigkeits- und Universalismus Appelle helfen. Es bliebe dann nur noch der Rückzug in die eigene vermeintliche Unfehlbarkeit.

In diesem Zusammenhang schreibt Urban: "Der menschenrechtliche Universalismus macht es sich schlicht zu leicht, wenn er Fragen des ökonomischen oder sozialen Unterbaus einer solidarischen Migrationspolitik oder wachsende Zukunftsängste der Globalisierungsgegner in den Zielländern ignoriert oder gar als rechtsaffine Solidaritätsverweigerung qualifiziert." (a.a.O. S. 10)

Gegen Spaltungsgefahren hilft nur eine solidarische Debatte

Aus den oben skizzierten Positionen wird deutlich, dass beide im Kern Bestandteile im Denken vieler Menschen mit einem linken und emanzipatorischen Selbstverständnis sind. Daher ist es fatal, die eine gegen die andere Position auszuspielen und diese Kontroverse auch noch bei Gefahr der Spaltung gemeinsamer Bündnisse zu polarisieren. Menschen, die sich wechselseitig als Nationalisten oder Rassisten bzw. als neoliberale Wasserträger des Kapitals bezeichnen, sind gemeinsam nicht mehr bündnisfähig.

Es ist sicher schwer, beide Positionen unter den gegebenen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in einer politischen Strategie zu verbinden, die über das linke Spektrum hinausgeht und politisch wirksam ist.

Dieses Problem ist aber weder der einen noch der anderen Seite zuzurechnen, sondern ergibt sich aus den nationalen und globalen Verhältnissen eines entfesselten Kapitalismus. Er produziert in erster Linie das zunehmende Gefälle von Arm und Reich national und international, Flucht- und Migrationsbewegungen und Rassismus. Die Auseinandersetzung mit diesen Verhältnissen sollte für uns alle weiterhin das Verbindende bleiben.

Migration und Fluchtbewegungen spielen in diesem Zusammenhang besonders zurzeit in ganz Europa eine wichtige politische Rolle, und dazu gibt es die hier skizzierten unterschiedlichen Positionen. Dennoch sollte dieses Thema nicht zum Gefallen von AfD & Co monothematisch überhöht werden. Es gibt schließlich noch eine Vielzahl anderer relevanter gesellschaftlicher Themen zu denen es Gemeinsamkeiten gibt (z.B. Kampf gegen Kriegs- und Rüstungspolitik, gegen Demokratieabbau und für soziale Gerechtigkeit, der Kampf gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, der politische Einsatz für bezahlbare Wohnungen für alle - und, und, und).

Es wäre ein Desaster, wenn sich das linke und emanzipatorische Spektrum bei vielen Gemeinsamkeiten durch eine unterschiedliche Position in der Frage offener Grenzen zerlegen würde. Ich finde es für die Zukunft zwingend notwendig, diese Unterschiede mit gegenseitigem Respekt zu ertragen und weiter bündnisfähig zu bleiben. Das gilt auch im Umgang mit Aufstehen. Anderenfalls freut sich nur der politische Gegner. Das hat er schon immer bei den fast chronischen Spaltungstendenzen linker gesellschaftlicher Kräfte in diesem Land.


Anmerkung:

(1) Hans Jürgen Urban: Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und überzeugter Vertreter einer Mosaiklinken

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Quelle:
Gegenwind Nr. 361 - Oktober 2018, Seite 10 - 11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2018

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