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GLEICHHEIT/2419: 59. Berlinale - Die Kraft unspektakulärer Alltagsbilder


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI)

59. Berlinale
Die Kraft unspektakulärer Alltagsbilder
Zwei Dokumentarfilme

Von Bernd Reinhardt
12. März 2009


Gute Dokumentarfilme erweitern den Blick. Wir reisen in ferne Länder, lernen Menschen kennen, denen wir nie begegnen würden, tauchen in Milieus, die uns sonst unzugänglich wären. Die beiden folgenden Filme sind sehenswert, weil sie dabei nicht das Besondere, Originelle hervorkehren. Die Aufmerksamkeit der Regisseure gilt dem oft unauffälligen, unbeachteten, schweren Lebensalltag einfacher Menschen in verschiedenen Ländern.


Der Yilmaz-Clan von Hans-Georg Ullrich / Detlef Gumm

Einer der deutschen Höhepunkte der diesjährigen Berlinale war ohne Zweifel, die in einer Sonderreihe und abseits vom Festivalrummel gezeigte Dokumentarserie Berlin - Ecke Bundesplatz.

Der Yilmaz-Clan ist einer von fünf Filmen, in denen Hans-Georg Ullrich und Detlef Gumm über einen Zeitraum von 22 Jahren Bewohner rund um den Bundesplatz in Westberlin porträtieren.

Der Film über Deutsche türkischer Abstammung begleitet die Protagonisten zur Arbeit, zur Schule, zum Fußballplatz, zum Deutschsprachkurs, schließlich in verschiedene Orte der Türkei.

Verschiedene Generationen kommen zu Wort. Die Eltern der Brüder Erol und Erdogan Yilmaz kamen in den 60er Jahren aus dem Süden der Türkei nach Deutschland, als Siemens dort Arbeitskräfte anwarb. Archivaufnahmen zeigen, wie mit deutscher Gründlichkeit dank penibler Gesundheitstests die Leistungsfähigsten herausgefiltert werden. Doch die Hoffnungen, sich das Geld für ein Haus zusammenzusparen und dann in die Türkei zurückzukehren, zerschlagen sich bald.

Siemens bezahlt die Arbeiter so, dass es gerade zum Leben reicht. Man spricht schlecht deutsch, weil die Schichtarbeit am Fließband das Erlernen der neuen Sprache gar nicht zulässt. Lesen und Schreiben lernt man autodidaktisch von Kollegen. Die Hoffnung gilt den Kindern, die bei den Großeltern in der Türkei leben und als Jugendliche nachgeholt werden. Die Plackerei, die Ruinierung der Gesundheit durch Wechselschichten soll sich wenigstens für sie gelohnt haben. Der Film ist voll Mitgefühl gegenüber der alten Mutter, räumt ihr viel Platz ein, wenn sie über die schwere Anfangszeit berichtet und der schmerzhaften Trennung von den Kindern. Noch immer spricht sie kaum deutsch.

Sohn Erol will Archäologie studieren. Als sich das zerschlägt, wird er Chef einer Reinigungsfirma, die er mit dem Bruder, dann mit der Frau, schließlich mit einem deutschen Angestellten betreibt. Wieder sind es die Kinder, die es besser haben sollen. In ihrem Kietz leben kaum türkische Familien. Die Familie hält sich bewusst von den Bezirken Wedding und Neukölln fern, wo viele Türken leben. Mit diesen habe man wenig gemeinsam, deutet Erol an. Viele von ihnen seien Leute vom Land mit strengen Traditionen.

Ist die Familie ein Beispiel für die Verleugnung der eigenen Kultur?

Ortswechsel: eine sommerliche Reise durch den Süden der Türkei, zu den Großeltern. Sie sind Nomaden, leben in Zelten und züchten Schafe in den Bergen.

Gezeigt werden keine alten Männer mit interessanten Falten, Pfeife rauchend am Lagerfeuer, genügsam, weil sie im Einklang mit der Natur leben. Nicht auf solcherart fragwürdige Magie sind die Bilder aus. Sie zeigen sehr prosaisch, in eher beiläufigen Bildern, das Nomadenleben in karger Berglandlandschaft. Ihre Kultur, ihre Regeln und Bräuche, ihre Weltsicht, mit denen ihre Kinder und Enkel aus Berlin nicht mehr soviel anfangen können, haben sich ganz offensichtlich aus dieser archaischen, entbehrungsreichen Arbeitsweise, die ihr Leben ausmacht, abgeleitet und haben nur hier ihren Sinn.

Erols Familie ist eine typische Großstadt-Familie. Sie legt zwar Wert auf das wöchentliche Grill-Picknick im Freien, greift sich aber im Wesentlichen aus beiden Kulturen das jeweils Beste heraus, so erklärt Erol. Religion spielt eine untergeordnete Rolle, seine Frau trägt kein Kopftuch und die Kinder sollen später heiraten wen sie wollen, wenn sie nur glücklich werden. Traditionell wird der Junge beschnitten, um nicht ausgegrenzt zu werden. Als in der Türkei mit den Verwandten das traditionelle Beschneidungsfest gefeiert wird, ist Vater Erol das übliche Herumwerfen mit Geldscheinen peinlich.

Höhepunkt des Films: die Ankunft der Großeltern in Berlin, die einmal im Leben sehen wollen, wie ihre Kinder leben. Der kulturelle Sprung von mehr als 1000 Jahren wird per Flugzeug in vier Stunden zurückgelegt.

Man erhält einen plastischen Eindruck davon, wie schwer den türkischen Menschen, die aus den ländlichen Gebieten nach Deutschland kommen, die Umstellung fallen muss. Viele kommen aus den zahlreichen vom türkischen Staat in den 90er Jahren bombardierten Kurdendörfern. Es erfordert viel Sensibilität und Aufmerksamkeit, ihnen den Neustart zu erleichtern. Das Zusammenstreichen diverser Fördermittel und vor allem, keine Aussicht auf eine gute und gut bezahlte Arbeit zu haben, ist für sie eine Katastrophe.

Erol Yilmaz hat eine vergleichsweise gute Arbeit und auch sein Umfeld ist nicht von Verwahrlosung und Armut geprägt. Wenn aber fast ganze Stadtbezirke auf der Grundlage von Harz IV Almosen und 1-Euro-Jobs leben müssen, welche neue Tradition soll sich auf dieser Grundlage bilden, was für eine Lebenskultur? So bleibt für viele türkische Familien als Halt die Rückbesinnung auf alte, eigentlich überlebte Traditionen, die ihre Isolation verstärken.

Die beiden Regisseure bedauerten, ihre Langzeitdokumentationen beenden zu müssen, weil momentan die politische Bereitschaft dafür fehle, so etwas weiter zu finanzieren und zu unterstützen.


Doctor Ma's Country Clinic von Cong Feng

Die etwa vierstündige chinesische Dokumentation ist einer jener Filme, die sich nicht durch raffinierte Kunstmittel auszeichnen, sondern durch Einfachheit beeindrucken. Der Regisseur begab sich in einen kleinen Ort der Provinz Gansu im Nordwesten Chinas, um Dr. Ma Bingcheng, einem Arzt der traditionellen chinesischen Medizin zu besuchen. Der Warteraum ist gleichzeitig das Behandlungszimmer, es ist immer voll, der Regisseur hat mittendrin seine Kamera aufgestellt, beobachtet den Arzt, die Patienten und lauscht den Gesprächen der Wartenden.

Über die Krankheiten der Patienten nähert sich der Film dem Leben, das sie hervorbrachte, ein Leben in Armut, Unwissenheit und vor allem äußerst harter Arbeit. Die meisten Patienten sind Bauern. Da das Klima sehr trocken ist, werfen die Felder nicht viel ab, manche Jahre gar nichts. Man pflügt den staubigen Boden, über den stets ein scharfer Wind hinwegfegt, mit Ochsengespannen. Die Landschaft ist kahl, die Bäume dem inzwischen eingestellten Kohlebergbau zum Opfer gefallen. Übrig geblieben ist im Ort ein alter Mann mit Staublunge.

Jeder hier arbeitet, sobald die eigenen Felder bestellt sind, als Saisonarbeiter bei Bauern in fruchtbareren Gegenden, auf Baustellen, in den Minen. Dabei ist es gang und gäbe, dass sie um ihren Lohn betrogen werden und nach Monaten mit leeren Händen wieder ins Dorf zurückkehren.

Die Lebenserwartung ist nicht hoch. 68 Jahre sind schon enorm. Viele Menschen sterben Mitte fünfzig oder früher. Entfliehen kann man diesen Lebensbedingungen nicht. Und so trifft man auf eine zunächst befremdende Eigenart: Genügsamer zu sein als andere Menschen, mehr Entbehrungen ertragen zu können, gilt als besonders tugendvoll. Diese Lebenshaltung spielt auch eine zentrale Rolle in der asiatischen Religion.

Diejenigen, die sich wehren, sind immer wieder die Frauen, die in diese tote Gegend eingeheiratet haben, keine davon freiwillig. Im Westen Chinas, wo selbst die Wohlhabenden nicht reich sind, ist es üblich, heiratsfähige Töchter zu verkaufen. Einige Männer im Warteraum zeigen ihre Entrüstung, dass wieder Frauen weggelaufen sind und das viele investierte Geld verloren ist.

Vor dem Haus unterhalten sich zwei Arbeiter über einen Kollegen, dessen Bein in der Mine von einem Felsbrocken eingeklemmt und zerschmettert wurde. Als der Felsen beim Bemühen von Kollegen, ihn beiseite zu schaffen, deren Händen entglitt, zerschmettere er noch das andere Bein. Die beiden grinsen wie über einen gelungenen Witz. Ein weiteres Bild. Ein farbenfroher Holzsarg wird den Begräbnishügel hinaufgeschleppt. Es schneit. Die bunte, naive Malerei scheint ein Verweis auf das schönere Leben zu sein, das mit dem Tod beginnt. Wenige Meter vom dem an der Grube abgesetzten Sarg veranstalten Männer, um Wartezeit zu überbrücken, ein Saufspiel mit hochprozentigem Schnaps.

Der Film dramatisiert nicht. Es dominiert Echtzeit mit langen Einstellungen. Gesprächen wird großer Raum gegeben, ohne besondere Zwischenschnitte. Die Landschaftsaufnahmen sind nicht mit süßlich-asiatischer Musik unterlegt. Stattdessen ist das Bollern des Windes auf dem Mikrophon zu hören. Den barbarischen Existenzbedingungen, der unheimlich harten Arbeit entsprechen entsprechende gesellschaftliche Regeln und ein bestimmtes Lebensgefühl, das auch vom Wissen bestimmt ist, von der chinesischen Regierung allein gelassen zu werden. Immer wieder taucht in den Gesprächen der Patienten die Empörung über die staatlichen Behörden auf, denen es völlig gleichgültig ist, ob sie ihre Löhne bekommen oder nicht.

Teilt Dr. Ma die Verherrlichung traditioneller chinesischer Medizin durch Teile der esoterisch angehauchten, nach neuen ganzheitlichen spirituellen Erfahrungen suchenden Mittelklasse Europas?

Dr. Ma, äußert sich nicht dazu. Nur soviel: Er wollte Arzt werden, als die Mutter schwer krank war und es im Dorf keinen Arzt gab. Ohne finanzielle Mittel für ein modernes Medizinstudium, begann er autodidaktisch sich mit der alten überlieferten Volksmedizin zu befassen. Als sie dann in chinesischen Großstädten Mode wurde, konnte er ein mehrjähriges Fernstudium absolvieren. Die Medizin ist teuer. Die meisten Patienten kaufen auf Kredit und er hofft, dass er nach Ende der Saisonarbeit davon einen Teil wiederbekommt. Westliche Medikamente sind für die Menschen hier unerschwinglich. - Auf Dr. Ma's Tisch steht ein modernes Blutdruckmessgerät.

Man kann allgemein sagen: Wer nicht weiß, wie Menschen ihren Lebensunterhalt bestreiten, wie und unter welchen Bedingungen sie arbeiten, kann ihre Kultur nicht verstehen. Erst der Blick auf das, was Kultur hervorbringt, ermöglicht auch den kritischen Vergleich. Beide Filme tragen zu einem solchen Verständnis bei.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 12.03.2009
59. Berlinale
Die Kraft unspektakulärer Alltagsbilder - Zwei Dokumentarfilme
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. März 2009