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GLEICHHEIT/2488: Berlin - Volksentscheid "Pro Reli" klar gescheitert


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI)

Berlin: Volksentscheid "Pro Reli" klar gescheitert

Von Justus Leicht
5. Mai 2009


Die Kirchen und die CDU haben in Berlin eine empfindliche Niederlage erlitten. Der Volksentscheid der Initiative "Pro Reli", der den Religionsunterricht drastisch aufwerten sollte, ist gleich doppelt gescheitert.

Damit der Vorschlag der Initiative angenommen wird, hätten am 26. April die Mehrheit der Abstimmungsteilnehmer und mindestens ein Viertel der Wahlberechtigten - das sind 611.422 Berliner - dafür stimmen müssen. Die Initiative verfehlte beide Ziele. Bei einer Wahlbeteiligung von 29,2 Prozent stimmten 51,3 Prozent der Teilnehmer dagegen. Für die Initiative votierten nur 14,2 Prozent der Wahlberechtigten, insgesamt 346.119.

Dem Entscheid war eine massive, vor allem von der evangelischen und katholischen Kirche getragene und durch CDU und FDP, aber auch einzelnen Prominenten wie dem Fernsehmoderator Günther Jauch unterstützte Kampagne vorausgegangen. Die Schätzungen, wie viel Geld "Pro Reli" dafür zur Verfügung hatte, reichen von mehreren Hunderttausend bis zu über einer Million Euro.

Nicht berücksichtigt ist dabei, dass prominente Werbeträger sich unentgeltlich für Plakate und Radiospots zur Verfügung stellten, die von Pro Reli so massiv eingesetzt wurden, wie man es sonst nur aus heißen Phasen von Wahlkämpfen kennt. Ganz offen wurde von Pfarrern und Priestern auch von der Kanzel im Gottesdienst für Pro Reli Stimmung gemacht. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) warb ebenso für eine Ja-Stimme wie Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse und Außenminister Steinmeier (beide SPD).

Dabei bedienten sich die Kirchen und ihre Parteigänger hemmungslos demagogischen Halbwahrheiten und Lügen. Etwas anderes war ihnen auch kaum möglich. Wären sie ehrlich gewesen, hätten sie sagen müssen: "Bisher war der Besuch von nach Bekenntnissen getrenntem Religionsunterricht, dessen Inhalte wir vorgeben, für alle Berliner Kinder von der ersten bis zur letzten Klasse freiwillig. Nur von der siebten bis zur zehnten Klasse mussten sie alle gemeinsam am Ethikunterricht teilnehmen, durften aber, wenn sie wollten, zusätzlich auch Religionsunterricht belegen. Wir wollen, dass der Religionsunterricht von der ersten bis zur letzten Klasse Pflichtfach wird, benotet und versetzungsrelevant! Wer das nicht möchte, darf deshalb nicht frei bekommen und muss in den Ethikunterricht gehen! Wer aber Religion belegt, darf nicht mehr mit den anderen Schülern zusammen den Ethikunterricht besuchen."

Stattdessen war der zentrale Slogan die mehr als dreiste Behauptung: "Es geht um die Freiheit". Bewusst versuchte Pro Reli den Eindruck zu erwecken, der rot-rote Berliner Senat wolle die Religionsfreiheit unterdrücken und staatlich indoktrinieren. Nicht zufällig erinnerte die Kampagne an den konservativen Schlachtruf aus dem Kalten Krieg: "Freiheit statt Sozialismus".

Prälat Bernhard Felmberg, der seit Beginn dieses Jahres als Bevollmächtigter die Anliegen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gegenüber der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union vertritt, erklärte in einem Interview, er habe "fast den Eindruck, das Godesberger Programm sei in Teilen der Berliner SPD noch nicht in allen Punkten angekommen". Mit diesem Grundsatzprogramm hatte sich die SPD 1959 auch formell von sozialistischen und kirchenkritischen Positionen verabschiedet.

Bischof Huber suggerierte sogar, das Berliner Modell sei verfassungswidrig. "In Berlin ist", so heißt es bei ihm, "Religion - anders als es im Grundgesetz vorgesehen ist und anders als in fast allen Bundesländern - kein ordentliches Lehrfach." In Wirklichkeit sieht das Grundgesetz diese Ausnahme in Artikel 141 ausdrücklich vor. Auch hat das Bundesverfassungsgericht bereits vor zwei Jahren entschieden, dass der verpflichtende Ethikunterricht Eltern oder Schüler nicht in ihren Grundrechten verletzt. Lediglich ein Erfolg des Volksentscheids, der diese Ausnahme ohne Änderung des Grundgesetzes rückgängig gemacht hätte, wäre daher möglicherweise verfassungsrechtlich bedenklich gewesen.

Auch eine demagogische Warnung vor der Gefahr des "Fundamentalismus" durfte in der Kampagne von Pro Reli nicht fehlen. Der freiwillige Religionsunterricht, der von den Religionsgemeinschaften selbst organisiert wird, öffne dafür Tür und Tor. Gemeint war natürlich der islamische Unterricht. Muslime stellen etwa 6 Prozent der Berliner Bevölkerung, wobei es "den" Islam nicht gibt, geschweige denn eine islamische "Kirche", die den christlichen ähnelt. Stattdessen gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppen, Vereine und Strömungen. Diese wären kaum in der Lage, etwas dem christlichen Religionsunterricht Vergleichbares anzubieten. Bezeichnenderweise hat nur der türkische DITIB, der dem türkischen Staat untersteht, Pro Reli unterstützt.

Was die Kirchen mit Freiheit meinten, stellte Bischof Huber in einem Interview mit dem Deutschlandfunk nach der Abstimmung noch einmal klar: "Unsere Kirche hat sich seit 15 Jahren, seit ich Bischof bin, dafür eingesetzt, den Status des Religionsunterrichts an den Berliner Schulen zu verändern, weil Schülerinnen und Schüler vor der Wahl zwischen Religionsunterricht und Freistunde stehen, und das finden wir keinen fairen Umgang mit der Freiheit der Schülerinnen und Schüler."

Die demagogische Kampagne von Pro Reli hat auch viele Christen abgestoßen, die in Berlin knapp ein Drittel der wahlberechtigten Bevölkerung stellen. Weit über die Hälfte ist konfessionslos. Sogar manche Pfarrer - vor allem aus von Nicht-Christen dominierten Stadtvierteln - engagierten sich in der Initiative "Christen pro Ethik", weil sie Wert auf einen gemeinsamen weltanschaulichen Unterricht für Jugendliche unterschiedlicher Konfessionen legten, der nur im Fach Ethik, nicht aber in Religion möglich ist. Angeblich soll die Kirchenführung versucht haben, sie mundtot zu machen.

Alle Ostberliner Bezirke stimmten mehrheitlich gegen die Initiative. Auch in den Innenstadtbezirken Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg überwog das Nein. In den westlichen Bezirken gab es lediglich in einigen konservativen, von Wohlstand geprägten Stadtteilen, wo viele noch Mitglied in den christlichen Amtskirchen sind, deutliche Mehrheiten für Pro Reli.

In einem Interview mit der Berliner Morgenpost nach der Abstimmung griff Bischof Huber den rot-roten Senaten deshalb heftig an: "Im Osten sind offenbar die Anhänger einer Politik mobilisiert worden, für die Christsein und Schule nichts Gemeinsames haben. In diesem Zusammenhang muss man die Politik nennen, die in Berlin gemacht wird. Ich meine, dass die regierenden Parteien die Gesamtverantwortung für die Stadt verkennen. Vergleicht man die Ergebnisse beispielsweise in Spandau und Steglitz [beide in Westberlin] mit denen in Marzahn [Ostberlin], wird klar, wie hier Politik gemacht wird."

Was der Kirchenmann von demokratischen Entscheidungen hält, wenn sie gegen ihn ausfallen, machte er in der Antwort auf die Frage deutlich, ob denn nun das Thema Religionsunterricht als Pflichtfach nicht "vom Tisch" sei. Nun würden "unsererseits Gespräche mit dem Senat folgen", antwortete er. Die gewählte Regierung müsse den Kirchen, die gerade eine massive Abstimmungsniederlage erlitten haben, "ganz genau erklären, wie die Inhalte im Ethikunterricht ausgerichtet sind. Ich denke, dass hier noch eine ganze Anzahl an Kompromissen gefunden werden muss." Der Senat müsse "einen werteorientierten Unterricht gewährleisten". Huber hatte 2006 die Kampagne der evangelischen Kirche gegen den Ethikunterricht namens "Werte brauchen Gott" unterstützt. Außerdem drohte der Bischof: "Im Übrigen könnte es auch einmal andere politische Konstellationen in der Stadt geben."

Der Regierende Bürgermeister Wolfgang Wowereit (SPD) warf den Kirchen zwar vor, sie hätten sich mit ihrer Kampagne selbst geschadet, erklärte aber auch: "Wir stehen zu den Religionen, wir stehen zu den Kirchen in dieser Stadt". Er wäre der Letzte, der sich darüber freuen würde, wenn bekennende Christen nicht mehr in ihren Religionsunterricht gehen. Und der Bundesgeschäftsführer der Linkspartei, Dietmar Bartsch, meinte, er rate seiner im Berliner Senat vertretenen Partei, bei der Ausgestaltung des Ethikunterrichts den Dialog mit den Kirchen zu suchen.

Die Kirchen haben sich in Deutschland seit Jahrhunderten als zuverlässige Stützen der jeweils herrschenden und privilegierten Schichten bewährt. SPD und Linkspartei wollen sie als solche bewahren. Dass dies jedoch in der immer tiefer gespaltenen Gesellschaft zunehmend schwieriger wird, weil die Kirchen an Einfluss verlieren und ihre Felle davon schwimmen sehen, bildete den Hintergrund für ihre aggressive Kampagne Pro Reli - und für deren Niederlage beim Volksentscheid. Eine gute Nachricht!

Siehe auch:
Volksbegehren zum Religionsunterricht in Berlin erfolgreich
(12. Februar 2009)


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Quelle:
World Socialist Web Site, 05.05.2009
Berlin: Volksentscheid "Pro Reli" klar gescheitert
http://wsws.org/de/2009/mai2009/reli-m05.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Mai 2009