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GLEICHHEIT/2498: Türkei - Massaker bei Hochzeit wirft Schlaglicht auf Unterdrückung der Kurden


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Türkei:
Massaker bei Hochzeit wirft Schlaglicht auf Unterdrückung der Kurden

Von Justus Leicht
12. Mai 2009


In dem kleinen Dorf Bilge in der Provinz Mardin im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei sind am letzten Montag 44 Menschen getötet worden. Augenzeugen des Massakers berichteten, dass vier maskierte Männer das Feuer auf eine Hochzeitsgesellschaft eröffnet hätten. Sie seien mit Handgranaten und Sturmgewehren bewaffnet aus unterschiedlichen Richtungen auf den Dorfplatz gestürmt, auf dem eine religiöse Zeremonie für das Hochzeitspaar abgehalten wurde. Das Brautpaar wurde ebenfalls getötet. Anschließend seien die Angreifer in einige Häuser eingedrungen und hätten dort weiter geschossen. Viele der Opfer waren Kinder und Frauen, einige davon schwanger. Nach anderer Darstellung wurden die Teilnehmer der Hochzeitsgesellschaft von den Tätern regelrecht zusammen getrieben und dann systematisch erschossen.

Premierminister Recep Tayyip Erdogan von der gemäßigt islamistischen AKP erklärte die Bluttat schnell zum Ergebnis von "Sitten und Gebräuchen", die ein solches Verbrechen aber nicht entschuldigen könnten. Andere Regierungsmitglieder sprachen von mangelhafter Bildung, Abgeordnete der oppositionellen kemalistisch-nationalistischen CHP von Stammesstrukturen, die überwunden werden müssten. Auch ein Großteil der türkischen wie internationalen Presse führte das Massaker zunächst auf Stammesfehden, Blutrache, Ehrenmorde und dergleichen zurück. Ein Unterton von rassistischer Verachtung gegenüber angeblich "seit jeher rückständigen" Kurden war kaum zu überhören.

Schon bald kam jedoch heraus, dass Täter und Opfer unterschiedlichen Clans von "Dorfwächtern" entstammen, kurdischen Stämmen, die vom türkischen Staat Waffen, Bezahlung und faktisch auch Immunität gegenüber Strafverfolgung erhalten. Sowohl die automatischen Waffen wie die Handgranaten, die bei dem Blutbad eingesetzt wurden, hatten die Täter im Rahmen ihrer Anstellung als Dorfwächter vom Staat erhalten. Selbst wenn Rivalitäten um die Braut oder Animositäten zwischen verfeindeten Familienclans eine Rolle gespielt haben, wäre eine derartige Tat, in der eine ganze Sippe ausgelöscht werden sollte, damit allein nicht zu erklären. Als wahrscheinlicher Hintergrund wird mittlerweile eine Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Dorfwächtern gesehen. Diese rechten Milizen sind oft tief in kriminelle Machenschaften und Verteilungskämpfe verwickelt.

Ihre Ursprünge gehen bis auf die Zerfallsphase des Osmanischen Reiches zurück. Sultan Abdulhamid II. baute die so genannten Hamidiye-Regimenter auf. Diese paramilitärischen Milizen unter dem Kommando von Stammesführern sollten die Grenze zu Russland sichern, vor allem aber die in Ostanatolien stark vertretene armenische Minderheit unterdrücken. Sie waren an blutigen Massakern an Armeniern in den 1890er Jahren führend beteiligt.

Nach Gründung der Republik Türkei erließ das neue Regime unter Atatürk 1924 ein Gesetz zur Einrichtung von Dorfwächtern, die zum Schutz gegen bewaffnete Banden dienen sollten. Diese waren in den entlegenen Kurdengebieten anders als die Staatsgewalt stark vertreten.

Auf dieses Gesetz in modifizierter Form stützten sich 1985 die zivile Regierung von Turgut Özal und Staatspräsident General Kenan Evren, der 1980 einen Militärputsch angeführt hatte und erst als Junta-Chef und dann als Präsident fungierte. Das Militärregime setzte von Beginn auf massiven anti-kurdischen Chauvinismus. Der Gebrauch der kurdischen Sprache selbst im privaten Bereich wurde verboten, kurdische Ortsnamen durch türkische ersetzt. Gleichzeitig wurde offiziell geleugnet, dass es Kurden überhaupt gebe. Widerspruch wurde mit Gefängnis bestraft.

In der kurdischen Südosttürkei begannen die halbfeudalen und Stammesstrukturen bereits in den 1970er Jahren, als die Technisierung der Landwirtschaft und Verstädterung sich auch dort immer mehr durchsetzten, zu zerfallen und zu degenerieren. Die proletarischen und kleinbürgerlichen Schichten, die sich damals herausbildeten, wurden von der türkischen Linken und den Gewerkschaften im Stich gelassen und wandten sich teilweise dem kurdischen Nationalismus zu. Das war insbesondere nach dem Militärputsch von 1980 der Fall, der der von Stalinisten und "linken Kemalisten" dominierten Arbeiter- und Studentenbewegung brutal das Rückgrat brach.

Die kurdisch-nationalistische PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) unter Führung von Abdullah Öcalan eröffnete 1984 den Guerillakampf, ein Jahr darauf antworteten Özal und das Militär mit der Etablierung des Dorfwächtersystems. Dies bedeutete insbesondere in den Grenzregionen zu Iran, Irak und Syrien, Großgrundbesitzern (Aghas) regelrechte Privatarmeen zur Verfügung zu stellen. Dass diese in kriminelle Aktivitäten, besonders alle Arten von Schmuggel, verwickelt waren, war dabei kein Hindernis. Im Gegenteil machten Ortskunde und Rücksichtslosigkeit sie für den Kampf gegen die PKK-Guerillas wertvoll. Die Aghas nutzten ihren neuen Status, um sich Land, Macht und Einfluss gegenüber Konkurrenten zu verschaffen, oft mit Gewalt.

Das Dorfwächtersystem wurde immer mehr ausgebaut und zu einem zentralen Instrument, den kurdischen Nationalismus zu unterdrücken. In den 1990er Jahren soll die türkische Armee in der Kurdenregion die Dörfer systematisch vor die Wahl gestellt haben, entweder Dorfwächter zu werden - oder das Dorf wurde zwangsgeräumt und zerstört. Heute gibt es verschiedenen Schätzungen zufolge etwa 60.000 Dorfwächter, alle vom Staat bezahlt, bewaffnet und beschützt. Angeblich war in den 1980er und 90er Jahren jeder dritte Dorfschützer in Straftaten verwickelt - von Rauschgifthandel über Menschenraub und Vergewaltigung bis hin zu Mord. Offensichtlich wurde die Verflechtung zwischen Staat, organisiertem Verbrechen und staatstreuen kurdischen Clans im Fall Susurluk, als ein Auto mit einem hochrangigen Polizeichef, einem rechtsradikalen Mafia-Killer und dem konservativen Parlamentsabgeordneten und Clanchef Sedat Bucak verunglückte.

Die amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch schrieb 2005: "Vertriebene zögern verständlicherweise, in entlegene Gebiete zurückzukehren, wo ihre Nachbarn, die manchmal einem rivalisierenden Clan angehören, als Mitglieder der Dorfwächter legal Waffen tragen. Viele Dorfbewohner waren gerade deshalb vertrieben worden, weil sie sich geweigert hatten, Dorfwächter zu werden [...] Dorfwächter waren an ihrer Vertreibung beteiligt und haben in den dazwischen liegenden Jahren außergerichtliche Exekutionen und Entführungen durchgeführt. In einigen Fällen haben Dorfwächter das Eigentum gewaltsam Vertriebener übernommen. Manchmal sind sie bereit, das illegal Erworbene mit Gewalt zu verteidigen. Weil mehrere aufeinander folgende türkische Regierungen Mitglieder der Streitkräfte und der Dorfwächter nicht wegen Missbräuchen zur Verantwortung gezogen haben, herrscht ein Klima der Straflosigkeit."

Zwischenzeitlich ist offensichtlich geworden, dass das Dorfwächtersystem eine wichtige Rolle bei dem Massaker in Bilge spielte. Auch manche türkische Zeitungen diskutieren nun darüber, dass der Staat offenbar keine Kontrolle darüber hat. Die AKP-Regierung versucht jedoch, dem zunehmenden Druck, sie solle gegen die Dorfwächter, vorgehen, auszuweichen. Sie spielt auf Zeit und macht bestenfalls vage Versprechungen, eine Kommission einzusetzen, die das System untersuchen solle - ein offenkundiger Versuch die Frage auszusitzen, bis sich die Empörung über das Massaker von Bilge gelegt hat. Vizepremierminister und Regierungssprecher Cemil Çiçek erklärte, das System könnte reformiert oder abgeschafft werden - falls notwendig.

"Wir sollten keine impulsiven Entscheidungen treffen", zitiert ihn die Zeitung Hürriyet. "Das Dorfwächtersystem ist das Ergebnis langer Debatten innerhalb der Regierung. Es mag im Dorfwächtersystem einige geben, die von Zeit zu Zeit nicht angemessen handeln. Aber anstatt ausgehend von einem Zwischenfall eine rasche Entscheidung zu treffen, sollte die Frage von allen Seiten und detailliert beurteilt werden. Sonst macht man denen Vorwürfe, die sich anständig benehmen und für das Wohlergehen des Landes arbeiten", sagte Cicek.

Präsident Abdullah Gül sagte, die Sache betreffe Sicherheitsfragen und müsse gründlich analysiert werden. Experten sollten unter Berücksichtigung aller Möglichkeiten über das System entscheiden.

Es gibt mehrere Gründe für die Zurückhaltung der AKP. Zum einen geht sie in der Kurdenfrage schon seit längerem nach rechts. Im März war sie in den Kommunalwahlen mit dem Versuch gescheitert, in der Südosttürkei die kurdisch-nationalistische DTP als stärkste Kraft zu verdrängen. Kurz nach den Wahlen gab es dann eine massive Verhaftungswelle gegen DTP-Funktionäre. Zum zweiten wäre eine Auflösung der Dorfwächter ohne gleichzeitige tief greifende soziale und politische Veränderungen - die kein Flügel des türkischen Establishments will - in der Tat ein Sicherheitsproblem. Zehntausende kurdischer Männer, die nichts gelernt haben außer mit Waffen umzugehen, sähen sich plötzlich vom türkischen Staat im Stich gelassen und auf die Straße gesetzt. Zweifellos würde sich ein großer Teil entweder als gewöhnliche Kriminelle verdingen, sich der PKK oder anderen bewaffneten Gruppen anschließen, oder auch beides.

Drittens hat sich die türkische Armee ausdrücklich vor das Dorfwächtersystem gestellt. "Wir halten die Versuche, die Dorfwächter als Institution für diesen Zwischenfall verantwortlich zu machen, für voreingenommen und falsch", erklärte ein Armeesprecher.

Die AKP-Regierung vermeidet als Partei eines Flügels des türkischen Establishments gerade in der Kurdenfrage jede Konfrontation mit der Armee. Demokratische Rechte, sozialer Fortschritt und die Auflösung repressiver Institutionen wie der Dorfwächter können nur durch eine gemeinsame Bewegung der türkischen und kurdischen Arbeiter und unterdrückten Massen erkämpft werden.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 12.05.2009
Türkei:
Massaker bei Hochzeit wirft Schlaglicht auf Unterdrückung der Kurden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2009