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GLEICHHEIT/2801: Russland - Wirtschaftskrise führt zu Differenzen im Kreml


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Russland: Wirtschaftskrise führt zu Differenzen im Kreml

Von Andrea Peters
26. November 2009
aus dem Englischen (25. November 2009)


Die Folgen der globalen Finanzkrise für die russische Wirtschaft heizen Konflikte in der herrschenden Elite des Landes über die Verteilung staatlicher Mittel an. Seit Wochen zeigen sich immer neue taktische Differenzen zwischen den verschiedenen Schichten der Staatsbürokratie und der Wirtschaftsoligarchie im Umfeld von Präsident Dmitri Medwedew und Ministerpräsident Wladimir Putin.

Seit 2008 befindet sich die russische Wirtschaft in einer schweren Rezession. Anfang November berichtete das Staatliche Amt für Statistik, dass das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) im dritten Quartal gegenüber dem Vorjahr um 8,9 Prozent geschrumpft sei. Seit Oktober letzten Jahres ist die Industrieproduktion um 11,2 Prozent gesunken, deutlich stärker, als von Experten erwartet.

Nächstes Jahr wird zwar eine Besserung erwartet - Voraussagen gehen von einem Wachstum des BIP um ein bis drei Prozent aus -, aber das ist weit von den hohen Wachstumsraten entfernt, an die das Land Anfang des Jahrzehnts gewöhnt war. Damals gab es durchschnittliche Wachstumsraten von sieben Prozent. Vor dem Jahr 2012 wird eine Rückkehr zu solchen Werten nicht erwartet.

Der wirtschaftliche Niedergang hat einen destabilisierenden Effekt auf die russische Gesellschaft. Die offizielle Arbeitslosigkeit betrug im Oktober 7,7 Prozent, doch sie unterzeichnet das tatsächliche Problem, weil viele Menschen außerhalb der offiziellen Ökonomie beschäftigt sind. Das Problem ausstehender Löhne hat seit Beginn der Krise stark zugenommen.

Der Rückgang der Industrieproduktion hat sich besonders in den so genannten "Mono-Städten" verheerend ausgewirkt, d.h. städtischen Zentren, deren lokale Wirtschaft völlig von einer Handvoll von Unternehmen abhängt. Im Sommer und Herbst gab es in vielen dieser Mono-Städte im ganzen Land Proteste. Ausgelöst wurden sie von den Aktionen der Bewohner von Pikalewo Anfang des Jahres, als Demonstranten die Straßen blockierten und eine Verbesserung ihres Lebensstandards und die Wiederaufnahme der Produktion in den örtlichen Betrieben verlangten.

Die Position der kleinen, aber nicht unbedeutenden Mittelschicht, die sich mit der Ausbreitung des Ölreichtums in bestimmten Bereichen der Wirtschaft herausgebildet hatte, ist im letzten Jahr wieder unterhöhlt worden. Diese Schicht, die einen bedeutenden Teil von Putins Basis in der Bevölkerung ausmacht, hat ihre wirtschaftlichen Erfolge eingebüßt. Dieses Phänomen zeigt sich z.B. an der großen Anzahl geplatzter Hypotheken.

Die wichtigste Ursache für den wirtschaftlichen Abstieg Russlands ist der scharfe Verfall des Ölpreises auf den Weltmärkten, der die Wirkungen der Kreditklemme und der Kapitalflucht noch verstärkte.

Unter diesen Bedingungen scheint es in der herrschenden Elite Meinungsverschiedenheiten zu geben, wie der Reichtum des Landes verwaltet und zwischen der Staatsbürokratie und der Wirtschaft aufgeteilt werden soll. Ein Thema ist die Rolle der so genannten russischen "Staatskonzerne".

Präsident Medwedew forderte in seiner Rede zur Lage der Nation am 12. November eine "umfassende Modernisierung" des Landes und kritisierte Russlands "chronische Rückständigkeit", "primitive Wirtschaftsstruktur", "erniedrigende Abhängigkeit von Rostoffen" und "Korruption".

"Die globale Finanzkrise hat alle betroffen", bemerkte Medwedew, "aber Russland hat einen tieferen Einbruch erlitten als die meisten Länder." Er fügte hinzu: "Wir sollten die Schuld nicht nur beim Ausland suchen."

Medwedew forderte eine Diversifizierung der Wirtschaft, die auf den Feldern der Medizintechnologie, der Nuklearenergie und der Telekommunikation führend werden müsse. Außerdem betonte er, Russlands sieben Staatskonzerne, die unter Putin geschaffen worden waren, müssten grundlegend umgestaltet werden.

Die Staatskonzerne sind im Wesentlichen große Privatkonzerne, die mit staatlichen Geldern gebildet wurden. Obwohl sie privilegierten Zugang zu staatlichen Mitteln haben, steuerlich bevorzugt werden und in der russischen Wirtschaft eine zentrale Rolle spielen, ist ihr Finanz- und Verwaltungsgebaren außerordentlich undurchsichtig.

Sie befinden sich nicht direkt im Besitz des Staates, stehen auch juristisch nicht unter seiner Aufsicht und müssen ihm nicht Rechenschaft über ihre Aktivitäten ablegen. Über ihre Beteiligungsverhältnisse oder ihre interne Struktur liegen nur wenige Informationen vor, aber es ist bekannt, dass Ministerpräsident Putin während seiner Präsidentschaft führende Positionen in diesen Unternehmen mit engen Gefolgsleuten besetzt hat.

Kurz gesagt, diese Staatskonzerne verleihen dem Putin-Clan bedeutende politische Macht und Reichtum. Durch ihre Kanäle werden große Summen staatlicher Mittel in die Taschen von Putins Gefolgsleuten gelenkt.

Die Staatskonzerne haben umfangreiche Staatshilfen erhalten. Rostechnologii z.B., die den fast bankrotten Autohersteller AvtoVaz in Togliatti betreibt, erhielt im Sommer einen Zuschuss von 50 Mrd. Rubel (1,1 Mrd. Euro) von der Regierung. Dieses Geld wurde verschleudert, ohne dass Verbesserungen in dem Autowerk vorgenommen wurden. Am Ende wurden Pläne bekannt gegeben, bis zu 27.600 Arbeiter zu entlassen.

Einige Tage vor Medwedews Rede gab der Justizminister das Ergebnis einer Untersuchung in die Arbeitsweise dieser Unternehmen bekannt. Einem Artikel vom 11. November in RIA-Nowosti zufolge entdeckte die Regierung zahlreiche Unregelmäßigkeiten kriminellen Charakters. Dazu gehörte das Verschleudern von Geld für Managerboni."

In seiner Rede erklärte Medwedew: "Ich denke, diese juristische Form von Unternehmen hat in der modernen Welt keinerlei Zukunft."

Er forderte die Umwandlung der Staatskonzerne entweder in reguläre Privatunternehmen, die dann auch den Gesetzen für solche Unternehmen unterworfen wären, oder in "Aktiengesellschaften unter Kontrolle des Staates."

Darüber hinaus setzte er sich für die Einführung "moderner Modelle von Unternehmensführung" bei Unternehmen mit nennenswerter staatlicher Beteiligung ein, sowie für ein System unabhängiger Kontrolle.

Es wird erwartet, dass der Präsident bis zum 1. März 2010 konkrete Vorschläge für die Reform der russischen Staatskonzerne vorlegen wird.

Medwedews kritische Haltung gegenüber der Arbeitsweise der russischen Staatskonzerne war kein Geheimnis. Im September publizierte er einen Artikel mit dem Titel "Vorwärts Russland!", in dem er schon zahlreiche Themen formulierte, die auch in seiner Rede zur Lage der Nation wieder vorkamen.

Kurz zuvor hatten zwei dem Präsidenten nahe stehende Wissenschaftler einen viel beachteten Bericht mit dem Titel Russland nach Pikalewo vorgelegt, der recht detailliert die Mechanismen untersuchte, mit denen führende Oligarchen aus Putins Umfeld unter dem Vorwand krisenbedingter Rettungsmaßnahmen Steuermittel in großem Umfang in ihre Hände brachten. Der Bericht wies auf den Zusammenhang hin, der zwischen ihren Aktivitäten und dem Anwachsen sozialer Unruhen besteht.

Informationen aus diesem Bericht von Vladislav Inozemtsev, dem Direktor eines Studienzentrums für die postindustrielle Gesellschaft, und Nikita Krichevskii, dem wissenschaftlichen Leiter des Instituts für Nationale Strategie, waren im Sommer schon an die Presse durchgesickert. Sein Inhalt wurde als glänzende Entlarvung der Manipulation der russischen Wirtschaft durch die mächtigen Oligarchen verstanden, und es war unübersehbar, dass Teile der Kreml-Bürokratie daran beteiligt waren. Der Bericht machte deutlich, dass Wirtschaft und Staatsfinanzen des Landes dadurch gefährdet sind, dass niemand die Plünderungen dieser Kräfte, die eng mit den Staatskonzernen verbunden sind, verhindert.

Wenn Medwedew mit der Arbeit der Staatskonzerne unzufrieden ist, und seine Fraktion Bedenken über die Machenschaften der Kreml-Oligarchen äußert, dann nicht etwa, weil sie grundsätzlich dagegen wären, dass Russland von einer kriminellen Bande von Bürokraten, siloviki (ex-Mitgliedern des Militär- und Geheimdienstes) und mafiösen Geschäftsleuten beherrscht wird. Vielmehr fürchtet dieser Teil der herrschenden Elite, bei der Verteilung der Beute zu kurz gekommen zu sein, während die Clans im Umfeld von Putin profitiert hatten. Außerdem fürchten sie die langfristigen Folgen der Politik und Methoden, mit denen sich die Putin-Clique ihren Reichtum sichert, für die russische Wirtschaft insgesamt und das nationale Interesse des Landes.

Die globale Wirtschaftskrise hat die Schwächen der russischen Wirtschaft offen gelegt, die in ihrer übermäßigen Abhängigkeit vom Öl und ihrer rückständigen technologischen Basis bestehen. Hauptsächlich deshalb sind diese Schichten der Meinung, dass in der Wirtschaftsführung gewisse Anpassungen notwendig seien.

Die schlimmsten Exzesse der russischen Oligarchen müssen einigermaßen zurückgedrängt werden, und die vom Staat finanzierten Konzerne müssen zumindest einer gewissen Kontrolle der Regierung unterworfen werden. Man erhofft sich transnationale Investitionen in den industriellen Sektor Russlands, um ihn zu modernisieren und auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu machen.

Alexander Schokin, Präsident der Russischen Union der Industriellen und Unternehmer, unterstützt Medwedews Kritik an den Staatskonzernen. Am 11. November gab Schokin der offiziellen Staatszeitung Rossiskaia Gazeta ein Interview. Darin machte er klar, dass er sich vor allem um die Gesundheit des russischen Kapitalismus sorge, wenn er erwarte, dass auch die Staatskonzerne sich nach den Regeln des Marktes richten müssten.

Er sagte: "Der Staat tummelt sich mit den Staatskonzernen im Wesentlichen auf dem Gebiet der privaten Wirtschaft. Dabei gewährt er sich selbst Vorzugsbedingungen. Der Wettbewerb wird verzerrt, das Geschäftsklima verschlechtert sich, und die private Initiative wird erstickt."

Momentan sieht es so aus, als ob Putin einer gewissen Reform der Staatskonzerne zustimme, doch es muss sich noch erweisen, wie sich dieser Prozess entwickelt, und wie weit die Differenzen in der herrschenden russischen Elite gehen.

Auch wenn Medwedews Position als Präsident ihm die Autorität gibt, bedeutende Veränderungen in Wirtschaft und Politik anzustoßen, verfügt Putin immer noch über enorme Macht. Medwedew weiß, dass jeder Versuch seinerseits, dem Ministerpräsidenten und seinem Gefolge ernsthaft Grenzen zu setzen, wahrscheinlich in der herrschenden Elite zu einem regelrechten Bürgerkrieg führen würde. Ein solcher Kampf würde das gesamte politische System Russlands destabilisieren. Die Morde an Kreml-Kritikern in den letzten Jahren haben gezeigt, dass politische Gegensätze im heutigen Russland oft genug mit der Waffe ausgetragen werden.

Die Männer an den Schalthebeln der Macht befürchten, dass Meinungsverschiedenheiten zwischen Medwedew und Putin sich zu einer umfassenden Krise entwickeln könnten. Bei den Regionalwahlen im Oktober kam es zu Wahlbetrügereien von Seiten Einiges Russland. Die Partei, an deren Spitze Putin steht, wollte damit einen entscheidenden Sieg sicherstellen, und das trotz der Tatsache, dass sie auch ohne solche Methoden leicht gewonnen hätte. Das hatte damit zu tun, dass bestimmte herrschende Kreise den Eindruck einer überwältigenden politischen Einheit im Land vermitteln wollen.

Mehrere westliche Medien schrieben, die offensichtlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen Medwedew und Putin seien Ausdruck einer wirklichen Spaltung im "regierenden Tandem". Dahinter steht möglicherweise der Wunsch, den Präsidenten zu ermutigen, der allgemein als dem Westen gegenüber aufgeschlossener gilt. Aber bisher war Medwedews Kritik jedenfalls noch recht vorsichtig und allgemein.

Medwedew stützt sich auf die gleiche gesellschaftliche Basis wie Putin. Außerdem regiert er ein Land, in dem die Unzufriedenheit über Korruption, niedrigen Lebensstandard und die entschwindenden Chancen zum Aufstieg in die Mittelschicht groß ist. Ein Bericht von Transparency International führte Russland kürzlich auf seinem Korruptionsindex auf dem 146. Platz von 180 Ländern. Bestechung und Bestechlichkeit soll demzufolge in Russland ein 300 Mrd. Dollar schwerer Industriezweig sein und fast ein Fünftel der Wirtschaftsleistung des Landes ausmachen.

Würde sich eine Kampagne tatsächlich gegen Korruption und die unkontrollierte Macht der Oligarchie und der Staatsbürokratie wenden, dann fände sie in der breiten Bevölkerung zweifellos Unterstützung. Aber Medwedew vermeidet bei seiner Kritik am Zustand der russischen Gesellschaft sorgfältig, solche Stimmungen zu mobilisieren. Sie könnten leicht außer Kontrolle geraten.

Siehe auch:
Korruption und das kapitalistische Russland
(9. April 2009)


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Quelle:
World Socialist Web Site, 26.11.2009
Russland: Wirtschaftskrise führt zu Differenzen im Kreml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. November 2009