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GLEICHHEIT/3279: Debakel in Afghanistan - Briten ziehen Truppen aus Sangin ab


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Debakel in Afghanistan: Briten ziehen Truppen aus Sangin ab

Von Robert Stevens
25. September 2010


Am 20. September haben die letzten tausend britischen Soldaten Sangin (Südafghanistan) verlassen. Nach mehr als vier Jahren haben sie ihre Stützpunkte an die Vereinigten Staaten übergeben.

Der Rückzug wird offiziell als eine Umgruppierung hingestellt, in deren Rahmen die Truppen, Teil einer britischen Gesamtstreitmacht von 9.500 Soldaten, in die zentrale Provinz Helmand verlegt werden. Aber nichts kann darüber hinwegtäuschen, dass Großbritannien eine bedeutende Niederlage erlitten hat. Und zwar nicht nur, weil, wie einige Medien behaupten, Sangin für die Taliban zum "Trainingsfeld" geworden sei. Die britischen Truppen wurden als Besatzer von einer entschlossenen, in der Bevölkerung verankerten Aufstandsbewegung vertrieben.

Deswegen gestand die Daily Mail ein: "Hohe Vertreter der Armee versuchen verzweifelt, den Anschein zu erwecken, es handle sich nicht um eine Niederlage oder einen Rückzug. Doch es waren die härtesten Gefechte, in die britische Soldaten seit dem zweiten Weltkrieg je verwickelt waren."

Der Rückzug unterstreicht die kriminelle Vernichtung von Leben in diesem schmutzigen, imperialistischen Krieg. Medienberichte zeichnen ein verheerendes Bild von der Situation, mit der es die Soldaten Jahr für Jahr zu tun hatten. Bis zu ihrem Abmarsch haben in dieser kleinen Stadt und ihrer Umgebung 104 britische Soldaten ihr Leben verloren, das ist fast ein Drittel aller 337 in Afghanistan getöteten britischen Soldaten.

Unter der Überschrift "Sangin: Endlich verlassen wir die Hölle" wies der Daily Express außerdem darauf hin, dass in den ersten viereinhalb Jahren nach 2001 nur fünf britische Soldaten getötet worden waren. Die große Mehrheit ist erst seit Anfang 2006 gestorben, als britische Truppen in Helmand stationiert wurden. Die Londoner Times berichtete im April, die UK 3 Rifles Battle Group in Sangin habe mehr als zehn Prozent der Verluste der Besatzungstruppen in ganz Afghanistan erlitten, obwohl diese Soldaten nur 0,8 Prozent der Nato-Truppen in Afghanistan ausmachen.

Die britische Armee wurde sogar noch während der Übergabezeremonie angegriffen. Die Daily Mail berichtete über "heftige Feuergefechte ... nur 800 Meter von der Hauptbasis entfernt im Bezirkszentrum".

Wie nicht anders zu erwarten, hatten Politiker und die Medien nichts zu den Tausenden Afghanen zu sagen, die getötet und verwundet wurden. Stattdessen legte Premierminister David Cameron Wert auf die Feststellung: "Die Soldaten, die in Sangin ihr Leben verloren haben, sind nicht umsonst gestorben."

Solche Erklärungen zeigen nur die Verachtung der herrschenden Elite für die, welche sie zum Sterben nach Afghanistan geschickt haben. Auch das Geschwätz über die Unterstützung "für unsere Jungs" kann daran nichts ändern. Cameron glaubt, deren Tod sei kein zu hoher Preis, aber er kann nicht ehrlich sagen, wofür.

Die Invasion in Afghanistan wurde der britischen und amerikanischen Bevölkerung auf der Grundlage von Lügen verkauft. Sie war angeblich Teil des "Kriegs gegen den Terror" nach dem 11. September und sollte das Regime eliminieren, dass Obama bin Laden beherbergte und als Operationsbasis für al-Qaida diente. Amerikanische Militär- und Geheimdienstsprecher haben zwischenzeitlich zugegeben, dass sich in ganz Afghanistan nicht mehr als hundert al-Qaida-Mitglieder aufhielten.

Später sollte die Besatzung durch den Sturz der Taliban angeblich Demokratie nach Afghanistan bringen. In Wirklichkeit wurde ein verhasstes Marionettenregime unter Hamid Karzai eingesetzt, das sich auf das amerikanische Militär stützt und unsägliche Bedingungen für die Masse der Bevölkerung verantwortet.

In Wirklichkeit wurde die Besetzung im Interesse der räuberischen geostrategischen Ziele Washingtons und Londons durchgeführt. Sie war schon geplant, ehe die Zerstörung der Zwillingstürme den willkommenen Vorwand lieferte. Den USA ging es wie beim folgenden Krieg im Irak darum, ihre Kontrolle über die gesamte "eurasische" Region und vor allem über die enormen Öl- und Gasreserven im Nahen und Mittleren Osten und in Zentralasien zu sichern. Großbritannien erhoffte sich einen Teil der Beute und eine Stärkung seiner globalen Position, um die Herausforderung durch seine Rivalen Deutschland und Frankreich in Schach zu halten.

Dies hat nun schon zweimal zu einem erniedrigenden militärischen Rückzug für Großbritannien geführt, zuerst in Basra im Irak, und jetzt in Sangin. Der Independent gab letzte Woche zu: "Die Briten hätten sich Sangin und die dort erlittenen Verluste theoretisch schon früher vom Hals schaffen können. Aber da spielte ein heikles Kapitel anglo-amerikanischer Beziehungen hinein. Es steht außer Frage, dass hohe amerikanische Offiziere das Verhalten der britischen Truppen gegen Ende ihres Einsatzes im Irak kritisch sahen...und besonders, als sie dann auch noch ganz abzogen, obwohl Washington sie bat, noch zu bleiben."

Der britische Rückzug wird trotz offizieller Dementis von der US-Armee sehr kritisch gesehen. Letztlich besagt das nur, dass Probleme der Briten auch ein politischer Rückschlag für Washington sind. Großbritannien ist die einzige militärische Kraft in Afghanistan, die zumindest einen Anschein von Unabhängigkeit bei der Besatzung aufrechterhält. Die Aufgabe dieses Anspruchs bedeutet, dass der Krieg in Afghanistan heute mehr denn je Amerikas Krieg ist.

Außerdem ist die Behauptung, die Übernahme der Kontrolle in Sangin durch die USA werde eine Stärkung der Kontrolle in der ganzen Region zur Folge haben, unzutreffend. Der Daily Telegraph schilderte den enormen Widerstand der Bevölkerung, der die USA erwartet, und sagte düster voraus: "Die Übergabe von Sangin: Nur die Nationalität auf den Grabsteinen wird sich ändern."

Die Position der USA in ganz Afghanistan verschlechtert sich ständig, und im eignen Land wächst die Opposition gegen den Krieg. Das war schon so, als Präsident Obama im letzten Dezember die Entsendung weiterer 30.000 Soldaten bekanntgab, um den Widerstand im Blut zu ertränken. Aber auch dadurch konnten die USA den starken Widerstand nicht brechen. Der Tod von 21 Soldaten bei einem Hubschrauberabsturz am 21. September in der Provinz Zabul hat das Jahr 2010 für die Nato-Truppen zum tödlichsten Jahr seit der Invasion von 2001 gemacht. Bis jetzt sind in diesem Jahr schon mindestens 529 Nato-Soldaten getötet worden.

In hohen amerikanischen Militärkreisen regt sich derweil der Widerstand gegen den Plan Präsident Obamas, im Juli 2011 mit dem Truppenrückzug zu beginnen.

Dem Wall Street Journal vom 21. September zufolge versuchen hohe Militärs, "die Erwartungen auf einen schnellen Fortschritt in Afghanistan zu dämpfen". Sie sagen angeblich "nur wenige bedeutsame Kriegserfolge bis Ende des Jahres" voraus. Weiter heißt es im Journal, anstatt "ganze Bataillone oder Brigaden" abzuziehen, sollten besser die Fronttruppen "ausgedünnt" und Einheiten in Kompaniegröße nach Hause geschickt werden.

Die Besetzung Afghanistans ist ein brutales und verkommenes Unternehmen. Ein verarmtes Land mit weniger als dreißig Millionen Einwohnern wird gewaltsam unterdrückt. Unabhängig davon, ob sich einzelne Soldaten heroisch oder niederträchtig verhalten, hat sich die militärische und politische Führung eines unsagbaren Verbrechens schuldig gemacht. Arbeiter auf der ganzen Welt müssen fordern, dass der Krieg beendet und alle amerikanischen, britischen und anderen internationalen Truppen sofort abgezogen werden. Die Planer und Organisatoren dieses Raubkrieges müssen vor ein Kriegsverbrechertribunal gestellt werden. Sie müssen sich vor dem Gericht der weltweiten öffentlichen Meinung verantworten.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 24.09.2010
Debakel in Afghanistan: Briten ziehen Truppen aus Sangin ab
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. September 2010