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GLEICHHEIT/3378: Ägyptische Parlamentswahlen inmitten staatlicher Repression


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Ägyptische Parlamentswahlen inmitten staatlicher Repression

Von Johannes Stern
27. November 2010


Die ägyptischen Parlamentswahlen am Sonntag finden in einer Atmosphäre offener staatlicher Repression statt. In den vergangenen Tagen und Wochen überzogen Sicherheitskräfte das Land mit einer Welle von Unterdrückungsmaßnahmen und Gewalt gegen oppositionelle Parteien und die Bevölkerung.

Dies verdeutlicht ein Bericht mit dem Titel "Elections in Egypt, State of Permanent Emergency Incompatible with Free and Fair Vote" von Human Rights Watch (HRW), der am Mittwoch veröffentlicht wurde. Das ägyptische Regime habe in den Wochen vor den Wahlen willkürlich Massenverhaftungen vorgenommen, systematisch die Wahlkampagnen der Opposition eingeschränkt und deren Kandidaten und Aktivisten massiv eingeschüchtert, heißt es in dem Bericht. Vor allem gegen die Muslimbruderschaft sei die ägyptische Regierung brutal vorgegangen.

Die Muslimbruderschaft gilt als größte Oppositionsgruppe des Landes und wird von einem Flügel der ägyptischen Bourgeoisie unterstützt. Moneim Abdel Maqsud, der Hauptanwalt der Bruderschaft, sagte gegenüber HRW, dass Sicherheitskräfte bislang 1.306 Mitglieder festgenommen hätten, darunter fünf Kandidaten.

Am letzten Wochenende hatte das Regime die Maßnahmen zur Unterdrückung der Muslimbruderschaft in Ägypten weiter verschärft. Vor allem in der Hafenstadt Alexandria ging die Polizei massiv gegen ihre Anhänger vor, führte Massenverhaftungen durch und setzte Tränengas und Gummigeschosse ein.

Am Montag wurde der Vorsitzende des parlamentarischen Blocks der Muslimbrüder, Saad al-Katatni, von Schlägern angegriffen. Wenige Stunden zuvor hatte er auf einer Pressekonferenz das Vorgehen der Regierung angeprangert. Das Büro Katatnis beschuldigt Anhänger des Kandidaten der regierenden Nationaldemokratischen Partei (NDP), Shadi Aboul Ela, einen Mordanschlag gegen ihn geplant zu haben.

Menschenrechtsgruppen befürchten, dass die Gewalt am Wahltag weiter eskalieren wird, und erheben schwere Vorwürfe gegen das vom Westen unterstütze Regime Hosni Mubaraks. Dieser ist seit 1981 an der Macht und regiert das Land seitdem ununterbrochen mit Notstandsgesetzen.

Hafez Abu Seada, der Vorsitzende der Egyptian Organisation for Human Rights (EOHR), sagte auf einer Pressekonferenz vor wenigen Tagen: "Bis jetzt gab es bereits vier Tote im Laufe des Wahlkampfs. 2005 kamen 14 Menschen ums Leben. Wir befürchten, dass die Zahl der Opfer in diesem Jahr viel höher ausfallen wird."

Bei den letzten Wahlen in Ägypten waren Wähler der Opposition mit Gewalt daran gehindert worden, ihre Stimme abzugeben, und die Wahlergebnisse systematisch gefälscht worden. Der HRW-Bericht geht davon aus, dass der Grad an Manipulation bei diesen Wahlen sogar noch zunimmt. Joe Stork, der Vertreter von HRW im Nahen Osten und Nordafrika, sagte, die wichtigsten zivilgesellschaftlichen Organisationen hätten bislang keine einzige Genehmigung für ihre Wahlbeobachter erhalten. Die ägyptische Regierung hatte internationale Wahlbeobachter bisher immer mit der Begründung abgelehnt, dass ägyptische Organisationen diese Aufgabe übernehmen würden.

Mohamed Abdel Quddous, der Chef des Liberties Committee des Egyptian Press Syndicate, sprach vor diesem Hintergrund in der unabhängigen Tageszeitung Al Masry Al Youm von den "schmutzigsten Wahlen in der Geschichte der ägyptischen Nation".

Mit dem brutalen Vorgehen während der Parlamentswahlen versucht das Mubarak-Regime bereits jetzt die Weichen für die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr zu stellen. Die Zusammensetzung des Parlaments ist für die Präsidentschaftswahlen nicht unbedeutend. Nach der Änderung des Wahlgesetzes im Jahr 2005 benötigt ein unabhängiger Kandidat 250 Unterschriften aus dem Ober- und Unterhaus, um an den Wahlen teilnehmen zu können.

Bei den Wahlen 2005 hatten die unabhängigen Kandidaten der verbotenen aber tolerierten Muslimbruderschaft 20 Prozent der Sitze gewonnen und waren als mit Abstand größte Oppositionsgruppe ins Parlament eingezogen. In der vergangenen Woche verkündete das bekannte Mitglied der Regierungspartei NDP, Moufeed Shehab, dass der Wahlerfolg der Islamisten 2005 "ein Fehler" gewesen sei, der sich nicht wiederholen werde.

Zu einem Zeitpunkt, an dem in der herrschenden NDP selbst heftige Flügelkämpfe über die Frage der Nachfolge des gesundheitlich angeschlagenen 81-jährigen Präsidenten Hosni Mubarak toben, soll verhindert werden, dass die Bruderschaft eine große Anzahl an Sitzen gewinnt und damit in der Lage wäre, für einen alternativen Präsidentschaftskandidaten zu mobilisieren.

Politische Beobachter gehen davon aus, dass die Muslimbrüder einen großen Teil ihrer 88 Parlamentssitze an andere Parteien verlieren werden. "An diesem kritischen Punkt braucht das Regime eine politische Kraft, die ihr hilft, die Muslimbrüderschaft zu schlagen", sagte der ägyptische Experte für islamistische Gruppen, Hossam Tammam, gegenüber Al Masry Al Youm. Er gehe davon aus, dass die Muslimbrüder nicht einmal mehr den größten Oppositionsblock im Parlament stellen werden, sondern die liberale Al-Wafd Partei.

Al-Wafd war die traditionelle Partei der ägyptischen Bourgeoisie vor der Revolution von 1952. Sie hat im Moment lediglich sechs Parlamentssitze. In den unabhängigen ägyptischen Medien wurde in den letzten Tagen über einen Deal zwischen der Regierung und Al-Wafd spekuliert. Ihr Vorsitzender Sayyed al-Badawi war in die Absetzung von Ibrahim Eissa, Chefredakteur der regierungskritischen Tageszeitung Al Dostour involviert, und es steht im Raum, dass Al-Wafd als Gegenleistung eine größere Anzahl an Sitzen erhalten wird.

Der Großteil der ägyptischen Bevölkerung betrachtet diese Wahlfarce mit Ablehnung und Verachtung. Schätzungen gehen davon aus, dass die Wahlbeteiligung bei lediglich 20 Prozent liegen wird. Die meisten Ägypter beurteilen die Wahlen wie der junge Hisham, der in einem Krankenhaus in Kairo arbeitet: "Wählen zu gehen macht keinen Sinn, denn verändern kann man als Wähler nichts. Alle Kandidaten, die der Regierung und die der Opposition, vertreten ihre eigenen Interessen und die der Elite und nicht die der verarmten ägyptischen Bevölkerung."

Die Wut der Ägypter über das politische und ökonomische System hat in den letzten Monaten noch einmal zugenommen. Innerhalb nur weniger Monate haben sich die Preise für Fleisch und Gemüse verdoppelt oder gar verdreifacht. Die offizielle Teuerungsrate für Lebensmittel steht in diesem Jahr bei 22 Prozent.

Erst am Dienstag erschien in Al Masry Al Youm ein Artikel unter der Überschrift: "Die ägyptische Regierung fürchtet Arbeiter, nicht Wähler". Khaled Ali, der Vorsitzende des Egyptian Centre for Economic und Social Rights, erklärt in dem Artikel, dass lediglich die Wirtschaftselite des Landes von den hohen Wachstumsraten der vergangene Jahre profitiert habe, während sich die Situation für Arbeiter verschlechtert habe. Er warnte: "Arbeiter werden weiter protestieren und die Proteste werden heftiger werden als die 2008."

Im Jahr 2008 war es in der Industriestadt Mahalla El Kubra nach einem Jahr voller Streiks und Massenproteste gegen niedrige Löhne und Privatisierungen zu heftigen Straßenschlachten zwischen Arbeitern und Sicherheitskräften gekommen. Die ägyptische Bourgeoisie weiß, dass sie auf einem Pulverfass sitzt. Das Hochfahren des Sicherheitsapparats vor den Parlamentswahlen ist eine Vorbereitung auf soziale Unruhen, die jederzeit wieder aufflammen können.

Einen Aufstand der ägyptischen Massen fürchten auch die offiziellen Oppositionsparteien und Gruppierungen, die von der staatlichen Unterdrückung betroffenen sind.

Trotz des massiven Vorgehens gegen seine eigene Organisation sagte der Führer der Muslimbruderschaft, Mohamed Badie, in einem Interview mit dem Nachrichtensender Al-Jazeera am Dienstag, die Parlamentswahlen am Sonntag seien "entscheidend für Ägypten". Freie und faire Wahlen seien "essentiell für die Legitimität des Parlaments", welches wiederum dem nächsten Präsidenten Legitimität verleihen werde. Die herrschende NDP und Hosni Mubarak hätten wiederholt unter Beweis gestellt, dass sie bankrott seien. Nun wäre es an der Zeit für sie, auf friedlichem und legalem Wege abzutreten.

Auch die US-Regierung, die bislang zur Repression in Ägypten weitestgehend geschwiegen hatte, beobachtet die angespannte Lage mit zunehmender Sorge. Philipp Crowley, der Sprecher des US-Außenministeriums, sagte gegenüber Pressevertretern: "Wir denken, dass dies eine überaus wichtige Periode für die Zukunft Ägyptens ist, und ermutigen sie, alles mögliche zu tun, um freie, faire und gleiche Wahlen zu garantieren."

Michele Dunne, eine ehemalige Expertin des Außenministeriums für den Nahen und Mittleren Osten, sagte, nachdem sie an einem Treffen von US-Präsident Barack Obama und nationalen Sicherheitsberatern teilgenommen hatte: "Es gibt wachsende Sorgen, diesen Verbündeten zu halten, und wir wollen ihn halten. Aber ich denke, dass man nicht jeden Wandel unterdrücken sollte, wann man größere Stabilität anstrebt."


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Quelle:
World Socialist Web Site, 27.11.2010
Ägyptische Parlamentswahlen inmitten staatlicher Repression
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. November 2010