Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GLEICHHEIT/3687: Spaniens M-15-Proteste und das Autonomie-Konzept


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Spaniens M-15-Proteste und das Autonomie-Konzept

Von Robert Stevens
7. Juni 2011


Auf dem Platz Puerta Del Sol in Madrid haben Protestierende gegenüber Reportern der World Socialist Web Site betont, dass die Proteste der "Zornigen" [Los Indignados] "keine Führung" hätten und von "autonomen" Kollektiven, Kommissionen und Versammlungen organisiert würden. Vor allem legten sie Wert darauf, dass keine Partei "die Bewegung" dominieren dürfe.

Aber in jeder spontanen Bewegung sind politische Tendenzen am Werk. Die Frage ist: welche gesellschaftlichen Kräfte repräsentieren diese unterschiedlichen Tendenzen, und welchen Weg schlagen sie ein?

Die Parole "Keine Politik!" ist so populär, weil die großen Parteien, auch die regierende Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens (PSOE) und die von den Stalinisten geführte Vereinigte Linke, weit herum verhasst sind. Jedoch läuft diese Haltung praktisch darauf hinaus, diesen Parteien eine politische Amnestie zu gewähren, denn sie begünstigt das Treiben der vielen, angeblich linken Gruppierungen, deren gemeinsames Ziel es ist, eine politische Auseinandersetzung mit der PSOE und der Gewerkschaftsbürokratie zu verhindern.

Die Ansichten zweier Teilnehmer des Zeltlagers [an der Puerta del Sol] waren in dieser Hinsicht typisch: Beide sagten, sie gehörten keiner politischen Organisation an, und äußerten heftige Kritik an der PSOE, die eine scharfe Sparpolitik durchsetzt, und an der oppositionellen konservativen Volkspartei (PP).

Zum Beispiel Marian Martinez Mondejas: Was sie beschäftigt, sind offensichtlich die sozialen Probleme kleinbürgerlicher Schichten, die den Kern der 15-M-Proteste bilden. "Die kleinen und mittleren Unternehmen halten das ganze Land am Laufen", sagte sie. "Wenn die bankrott gehen, dann verlieren noch mehr Menschen ihre Arbeit."

Die "Ziele der Bewegung sind sehr klar, sie werden vom ganzen Volk unterstützt. Wir wissen alle genau, was wir wollen. Wir müssen uns alle dafür einsetzen, das Land zu verändern und eine gerechte und verantwortungsbewusste Politik durchzusetzen."

Solche allumfassende Bemerkungen über "das Volk" und "eine gerechte und verantwortungsbewusste Politik" ist bestenfalls naiv. Aber eng damit verbunden ist die Art und Weise, wie die Opposition gegen die PSOE aussieht. "Wir kämpfen nicht für den Sturz der Regierung, sondern für eine Kursänderung der Regierung", betonte sie. "Sie muss auf die Stimme des Volkes hören."

Mondejas legte großen Wert auf die Feststellung, die Massenbewegung gegen Sparpolitik in Spanien habe nichts mit den Bewegungen in Tunesien und Ägypten zu tun. Dort brachen Aufstände gegen Massenarbeitslosigkeit und Armut aus, die mit dem Sturz der verhassten Herrscher endeten. "Die Bewegungen in Tunesien und Ägypten haben nichts mit dem zu tun, was hier in Spanien geschieht", erklärte sie. "Ägypten ist keine Demokratie, aber Spanien."

Tatsache ist aber, dass die Kapitalistenklasse in Spanien, genau wie in anderen Ländern, gerade dabei ist, seit langem existierende demokratische Rechte zu beseitigen, denn sie kann die brutalen Kürzungen im Interesse der Wirtschaft nur gegen die Menschen durchsetzen, die Opfer dieser Angriffe sind. Deswegen stehen Arbeiter und Jugendliche vor einer viel größeren Aufgabe, als den Kurs der Politiker durch Druck zu ändern. Der Kampf muss gegen das gescheiterte kapitalistische System selbst geführt werden, und das verlangt eine sozialistische Perspektive und Führung.

Pablo, 27, Student und Teilzeitbeschäftigter, hilft, den Informationsstand des Lagers zu bemannen. Er erklärte der WSWS das Prinzip des Lagers: "Wir stützen uns nicht auf politische Parteien, sondern wir haben eine Kultur von Versammlungen, wo die Bürger entscheiden und versuchen, die Entscheidungen der Gesellschaft zu beeinflussen, und zwar so stark wie möglich.

In den Versammlungen war von Anfang an klar, dass wir keine Einmischung politischer Parteien wollen", fuhr er fort. "Ich will ganz klar machen, dass dies keine einheitliche Bewegung ist, keine gesellschaftlich-politische Tendenz. Diese Versammlungen sind horizontal aufgebaut."

Aber wenn die Versammlungen die offene Teilnahme politischer Parteien ausschließen, dann führt das nicht zu einer wirklich demokratischen Debatte und Organisation, sondern verleiht ihnen einen völlig undemokratischen Charakter. Ohne eine offene politische Auseinandersetzung bleibt die Diskussion formlos und ergeht sich in Allgemeinplätzen, und so können die konservativsten Kräfte die Vorherrschaft ausüben.

Pablo erklärte auch, die Versammlungen stünden "allen sozialen Gruppen offen".

"Es kann keine Rede davon sein, im Namen bestimmter sozialer Gruppen teilzunehmen, sondern jeder vertritt nur sich selbst, individuell. Die Versammlungen müssen anfangen, mit allen Kategorien zu brechen, die uns früher definiert haben." [Hervorhebung hinzugefügt]

Ähnlich wie Mondejas betonte er: "Entscheidungen über Bailouts und Auslandsschulden dürfen nicht von einer kleinen Gruppe von Bürokraten getroffen werden, sondern müssen von uns allen getroffen werden, weil sie alle spanischen Bürger betreffen." [Hervorhebung hinzugfügt]

Mit der Verurteilung der "Kategorien, die uns früher definiert haben", soll jeder Versuch für unzulässig erklärt werden, die unabhängigen Interessen der Arbeiterklasse zu definieren. So ist es unmöglich, eine revolutionäre sozialistische Perspektive zu entwickeln und zu diskutieren. Alles muss einer allgemeinen Bewegung untergeordnet werden, die "alle gesellschaftlichen Gruppen" und "Bürger" vereint.

Natürlich gibt es politische Tendenzen, die damit ganz glücklich sind. Dazu gehören nicht nur die offenen Anhänger der PSOE, sondern auch ex-linke Gruppen, die ihre Unterstützung für die PSOE üblicherweise hinter sozialistischen Phrasen verbergen.

Pablo machte die entlarvende Bemerkung, natürlich seien verschiedene politische Formationen an dem Protestcamp beteiligt, aber: "Die Leute, die aus unterschiedlichen Parteien und Bewegungen kommen, müssen mit Rücksicht auf die Struktur der Versammlungen ihre Programme und ihre Reden etwas anpassen." [Hervorhebung hinzugefügt]

Was bedeutet das?

Die Gruppen der falschen "Linken" sind in den Versammlungen stark aktiv. Aber sie verstecken ihre Identität und verschleiern ihre politische Perspektive, die auf die Interessen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbürokratie ausgerichtet ist.

Wer Illusionen darüber hat, welche Rolle die Forderung nach "Autonomie" spielt, sollte in dieser Hinsicht die schriftlichen Äußerungen der Gruppe En Lucha (Im Kampf) sorgfältig studieren. Das ist der spanische Ableger der britischen Socialist Workers Party.

Andy Durgan, ein führendes Mitglied von En Lucha, liefert in einem Artikel vom 31. Mai ein perfektes Beispiel dafür, auf welche Weise eine Bewegung, die sich betrügerischerweise als "sozialistisch" und "revolutionär" gebärdet, dafür sorgt, dass die Notwendigkeit des Sozialismus und eines revolutionären Kampfs gegen den Kapitalismus nicht einmal aufgeworfen wird.

Zuerst behauptet Durgan: "Die Forderung nach wirklicher Beteiligungsdemokratie hat revolutionäre Implikationen, selbst wenn diejenigen, die sie fordern, das nicht notwendigerweise so sehen."

En Lucha sieht ihre Aufgabe nicht darin, die "revolutionären Implikationen" von irgendetwas zu erklären. Durgan fährt fort: "Die Zusammensetzung der Lager ändert sich von Ort zu Ort, aber es ist allgemeiner Konsens, dass keine Organisationen zugelassen sind."

In dieser Situation fänden Diskussionen statt, auf welchem Weg die Proteste vorwärts gehen könnten, und "revolutionäre Sozialisten wie wir von En Lucha... greifen darin ein.

Wir sind in den Generalversammlungen der Lager sehr aktiv. Überall wo wir beteiligt sind, bemühen wir uns, dass die Versammlung und das Lager auf jeder Ebene gut funktionieren - Schulter an Schulter mit Aktivisten. Und obwohl wir eigene Vorstellungen davon haben, wie sich die Dinge entwickeln sollten - und diese auch vortragen -, ist es wichtig, die direkte Massendemokratie zu respektieren, nach der die Lager organisiert sind." [Hervorhebung hinzugefügt]

Teilnahme an der Aufrechterhaltung der politischen Sprachlosigkeit wird hier als Respekt vor der "direkten Massendemokratie" verkauft. Aber wenn die Gefahr droht, dass die Bewegung mit der Gewerkschaftsbürokratie und der PSOE brechen könnte, dann macht En Lucha klar, welche Bedeutung die Arbeit "Schulter an Schulter mit den Aktivisten hat".

Durgan gibt zu, dass die Gewerkschaften kurz nach einem symbolischen Generalstreik im September "Vereinbarungen mit der regierenden sozialistischen Partei unterzeichnet haben, die die Rechte der Arbeiter angriffen. Sie machten es leichter, Arbeiter zu entlassen, griffen die Renten an und hoben das Renteneintrittsalter an."

Aber trotz seiner detaillierten Auflistung der Schweinereien der Gewerkschaftsbürokratie betont er: "Wir sind überzeugt, dass wir Anti-Gewerkschaftsstimmungen bekämpfen müssen, wenn die Bewegung breiter und tiefer werden soll. Mit diesem Ziel arbeiten wir mit anderen Antikapitalisten und linken Gewerkschaftsmilitanten zusammen, die in den Lagern aktiv sind."

Wenn man das Lager auf der Puerta Del Sol durchstreift, findet man viele Menschen in lebhaften Diskussionen. Es gibt zahllose Infostände von Feministen, Tierschützern, Umweltschützern, einer Juristengruppe, Vertretern einer Wahlreform und von Künstlern. Jugendliche produzieren eifrig Transparente, entwerfen Parolen und schaffen unterschiedlichste Kunstwerke.

Jedes dieser Kollektive führt regelmäßig Versammlungen durch. Jeden Tag finden Dutzende statt. Aber es fällt auf, dass unter all den Hunderten Parolen, die man überall in diesem Hauptquartier der angeblichen "spanischen Revolution" sieht, nicht eine Parole zu finden ist, die schlicht und einfach den Sturz der PSOE-Regierung fordert.

Eine junge Teilnehmerin an einem Infostand an der Puerta Del Sol sagte dem Autor dieser Zeilen, ihre Gruppe sei dabei, Vorschläge und Lösungsideen von den Teilnehmern zu sammeln, wie die zahlreichen sozialen, wirtschaftlichen, politischen und Umweltprobleme Spaniens zu lösen seien. Sie erklärte, die Vorschläge würden dann in einer Versammlung diskutiert, es werde darüber abgestimmt, und dann würden sie der PSOE-Regierung unterbreitet.

Auf die Frage, ob sie der Meinung sei, die PSOE werde sie ernst nehmen, antwortete sie: "Ich glaube nicht, aber wir hoffen es."

Auf die Frage, ob schon einmal darüber diskutiert worden sei, die PSOE-Regierung zu stürzen, antwortete sie: "Ich glaube nicht, dass so etwas möglich ist."

Hier kann man sehen, in welche Sackgasse der "Horizontalismus" und die "Autonomie-Konzepte" führen. Verantwortlich für diesen Zustand sind Kräfte wie En Lucha, deren politische Funktion darin besteht, die kritischen Fähigkeiten von Arbeitern und Jugendliche abzutöten.


*


Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: wsws@gleichheit.de!.

Copyright 1998-2011 World Socialist Web Site - Alle Rechte vorbehalten


*


Quelle:
World Socialist Web Site, 04.06.2011
Spaniens M-15-Proteste und das Autonomie-Konzept
http://www.wsws.org/de/2011/jun2011/span-j07.shtml
Deutschland: Partei für Soziale Gleichheit
Postfach 040144, 10061 Berlin
Tel.: (030) 30 87 24 40, Fax: (030) 30 87 26 20
E-Mail: info@gleichheit.de
Internet: www.wsws.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juni 2011