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GLEICHHEIT/4109: Politische Filme bei der Berlinale


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

62. Internationale Filmfestspiele in Berlin - Teil 2
Politische Filme bei der Berlinale

Von Stefan Steinberg
3. März 2012


Zweiter Teil einer Artikelserie über die Internationalen Filmfestspiele Berlin (Berlinale) vom 9. bis 19. Februar 2012


Wie im ersten Teil dieser Serie erklärt wurde, betonte der Festivalleiter der Berlinale Dieter Kosslick den politischen Inhalt des Programmes der 62. Filmfestspiele.

Mehrere Filmkritiker waren schnell dabei, Parallelen zwischen den Revolutionen in der arabischen Welt im Verlauf des vergangenen Jahres und dem Eröffnungsfilm der Berlinale,Leb wohl, meine Königin, von dem französischen Regisseur Benoit Jacquot zu ziehen. Die Hauptfigur des Films ist eine Dienerin der französischen Königin Marie Antoinette. Die Handlung findet im Palast von Versailles zu Beginn der Französischen Revolution im Juli 1789 statt.

Schauspielerin Diane Kruger, die die Rolle von Marie Antoinette einnimmt, erklärte in Berlin vor der Presse: "Jede Revolution, besonders diese [die französische] richtet sich gegen den Missbrauch von Macht und Geld, das ist auch heute noch so." Der offensichtlichste Aspekt der Revolutionen während des "Arabischen Frühlings" war, dass breite Massen der Bevölkerung erstmals am politischen Leben teilnahmen. In Jacquots Film sind die Massen außerhalb der Kamera, ein kaum definierter Mob, der sich vor den Toren versammelt. Der Regisseur entscheidet sich dafür, über das Dilemma des Gefolges von Ludwig XVI nachzudenken, das in Versailles lebte (besser gesagt, eingesperrt war).

Über die Figur der Marie Antoinette gab es bereits im Jahr 2006 einen beklagenswerten Film von Sophia Coppola. Jacquots Film vermeidet die beschönigenden Exzesse von Coppolas oberflächlichem und ärgerlichem Film, aber zeigt andere Schwächen. Leb wohl, meine Königin beleuchtet die Reaktionen der verschiedenen Schichten des Hofes als die hungernden Massen von Paris die Bastille stürmen und Waffen und Munition erbeuten. Die Protestierenden haben eine Liste von 300 führenden Persönlichkeiten des ancien regime zusammengestellt und verbreitet, und fordern ihre Enthauptung.

Verständlicherweise hat Antoinettes Ehemann Ludwig alle Hände voll zu tun. Die Königin versucht, mit zunehmenden Schwierigkeiten, wie bisher weiterzuleben, liest Modemagazine und spekuliert über die Modefarben der kommenden Saison an den Höfen Europas. Wir beobachten die Vorgänge am Hof und das Treiben der Königin durch die Augen einer ihrer Hofdamen, Sidonie Laborde (Lea Seydoux), die sich scheinbar zur Königin hingezogen fühlt.

Der Film zeigt die große Kluft zwischen den sozialen Schichten, die auch im Palast bestand. Die herrlichen Apartments und Luxusbetten der Königin stehen in Kontrast zu dem ärmlichen, schrankartigen Raum, in dem Laborde versucht, aggressive Stechfliegen zu vertreiben und etwas Schlaf zu bekommen.

Die Zeichen des Niedergangs sind unverkennbar. Bei einer eigentlich entspannenden Bootstour auf dem Grand Canal des Palastes schwimmen tote Ratten im Wasser. Die Zeit läuft ab für die versammelte Aristokratie. Bewaffnete Arbeiter und Bauern marschieren auf den Palast zu. Es ist vorbei! Ein wahnsinniger Andrang auf die Ausgänge beginnt, Fürsten, Grafen und vertraute Berater streiten sich um einen Platz in der nächsten Kutsche ins Ausland, in Sicherheit vor dem "Mob."

Die Darstellung des Chaos unter den aristokratischen Lakaien Ludwigs ist überzeugend in Szene gesetzt; gleichzeitig kann die Darstellung des tiefen Opportunismus und Egoismus der herrschenden Elite Frankreichs kaum einen ganzen Film tragen. Man erfährt wenig über die Motive des "wütenden Mobs", der auf die Tore des Palastes zuströmt. Der nervigste Aspekt in Jacquouts Film ist sein Versuch, das Ganze mit der Andeutung zu würzen, Antoinette sei von ihrem Mann vernachlässigt worden und hätte in der Beziehung mit einer anderen Frau Trost gefunden - mit der Hofdame Gabrielle de Polignac. In Kombination mit der Begeisterung Labordes für die Königin ergibt dies, wie ein Kritiker es formuliert, eine "rein weibliche Dreiecksbeziehung im Schutz von Versailles."

Man fragt sich, was im Kopf des Regisseurs vorgeht. Meint er wirklich, ein Film über die Französische Revolution wäre ohne einen solchen zusätzlichen Anreiz nicht massentauglich genug? Die Französische Revolution ist das klassische Beispiel für eine Revolution aufgrund massiver nationaler und internationaler Klassenantagonismen, wie sie die soziale Ungleichheit in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Darin liegt die Bedeutung der Revolution für die Gegenwart. Jacquot schreckt scheinbar vor diesem Schluss zurück und hält es für nötig, einen Handlungsfaden einzufügen, der die dramatische Darstellung der Todeszüge des Feudalregimes untergräbt.

In The Land of Blood and Honey (Im Land, wo Blut und Honig fließen) ist das Regiedebüt der Schauspielerin Angelina Jolie. Der Film spielt in Serbien vor dem Bosnienkrieg von 1992-95. Nichts an der Geschichte ist überzeugend, beginnend mit einer Verabredung in einer Disco zwischen dem serbischen Polizisten Danijel und der bosnisch-muslimischen Malerin Ajla kurz vor Beginn der Kämpfe.

Obwohl sich die beiden in der Disco offensichtlich zum ersten Mal treffen, sollen wir glauben, Danijel sei bereit, in dem beginnenden Krieg alles zu riskieren, um seine Geliebte zu beschützen - sogar seine Karriere beim Militär. Die Explosion einer Bombe vor der Disco ist der Beginn größerer Kämpfe.

Ajla wird von bosnisch-serbischen Soldaten gefangengenommen und mit einer Gruppe anderer Frauen in ein Internierungslager gebracht. Die Frauen sollen hier untergeordnete Arbeiten erledigen und die sexuellen Gelüste der serbischen Soldaten befriedigen - die jetzt von Danijel geführt werden. Die Haft beginnt mit einer öffentlichen Massenvergewaltigung einiger Frauen durch ihre serbischen Wärter. Den ganzen Film über werden die serbischen Soldaten nur als waffenschwingende, mörderische Vergewaltiger dargestellt.

Die einzige Ausnahme davon ist Danijel, der jetzt zum Hauptmann der Soldateska befördert worden ist. Obwohl er der Sohn eines ultranationalistischen serbischen Generals ist, wird er als die einzige Stimme der Vernunft unter den Serben dargestellt, stets bereit, seine schützende Hand über Ajla zu halten.

Um nicht den Vorwurf zu nähren, voreingenommen gegen Serben zu sein, baut Jolie zwei wenig überzeugende Szenen mit hölzernem Dialog ein. In einer kurzen Kampfpause wendet sich Danijel einem Kameraden zu und gratuliert ihm kurz angebunden zur Neuigkeit, dass seine Frau ein Baby bekommt. Wir lernen: auch Serben haben Familien.

In einer anderen Szene versammelt sich eine Gruppe bosnischer Muslime ums offene Feuer. Einer erklärt: "Ich hasse nicht alle Serben, nur die Tschetniks" (ultramonarchistische paramilitärische Verbände während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts). Ein anderer bestätigt: "Ja, nur die Tschetniks."

Das größte Defizit des Films, und ein Zeichen für seine Einseitigkeit, ist das Fehlen einer Erwähnung der internationalen Kräfte, die die Kämpfe in Bosnien provoziert haben.

Der Autor dieses Artikels war bei der Premiere des Films in Berlin dabei. Dort waren außerdem gleich zwei deutsche Außenminister - der derzeitige, Guido Westerwelle (FDP) und der ehemalige Außenminister Joschka Fischer (Grüne) - sowie Grünen-Chef Jürgen Trittin. Keiner von ihnen hatte ein Problem mit Jolies Film, der ihre eigene Rolle im Konflikt in Bosnien völlig beschönigt.

Westerwelles Parteikollege und Ex-Außenminister Hans Dietrich Genscher begünstigte die Zerschlagung des ehemaligen Jugoslawiens durch seine Unterstützung für die Unabhängigkeit Kroatiens. Als sich die Kämpfe in Bosnien ausbreiteten, gossen die USA Öl ins Feuer, indem sie sich auf die Seite Bosniens stellten und den Antrag des Kleinstaates auf UN-Mitgliedschaft im Jahr 1992 unterstützten.

Sieben Jahre später, 1999, organisierte Außenminister Fischer die erste aggressive Intervention Deutschlands seit 1945. Grundlage dafür war die Behauptung, es müssten "serbische Kriegsverbrechen" verhindert werden.

Für Jolie, die seit langem Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen ist, ist die Rolle dieser internationalen Kräfte ein Buch mit sieben Siegeln. Sie sagt nichts über die Rolle des amerikanischen und europäischen Imperialismus, weil sie ihn unkritisch unterstützt. An der "internationalen Gemeinschaft" kritisiert sie, dass sie nicht schnell genug auf die "Verbrechen" anderer Nationen reagiert. Deshalb hat Jolie vor kurzem offen die imperialistische Intervention in Libyen unterstützt.

Jolies Film wird zweifellos Anklang finden bei einer politischen Schicht, die Militäraktionen der internationalen Gemeinschaft auf Grundlage ihrer eigenen Ansichten über Menschen- und Frauenrechte unterstützt, aber nicht in der Lage ist, auf dieser Grundlage etwas von Wert hervorzubringen.

Der britische Filmemacher Sean McAllister (Liberace of Baghdad, 2005; Working for the Enemy, 1997) ist hin- und hergerissen in der Frage ausländischer Interventionen in die Massenaufstände in arabischen Ländern.

In einer Fragestunde nach der Vorführung seines neuen Dokumentarfilms The Reluctant Revolutionary fragte ich ihn nach seiner Meinung über die imperialistische Intervention in Libyen. McAllister antwortete, seine erste Reaktion sei gewesen, diese Intervention zu unterstützen, um die Unterdrückung durch das libysche Regime zu beenden. Gleichzeitig, sagte er weiter, sei ihm bewusst, dass es Argumente gibt, warum bei solchen Interventionen langfristig nie etwas Positives herauskommt.

Das Verdienst von McAllisters neuem Film über die revolutionären Aufstände im Jemen ist es, dass er einen echten Einblick in die Dynamik der Massenbewegung gibt, die nach acht Monaten zur Absetzung des verhassten Präsidenten Ali Abdullah Saleh führte. Der titelgebende "widerwillige Revolutionär" ist Kai, ein 35-jähriger Vater von drei Kindern mit Eheproblemen, der im Reisebüro seines Vaters arbeitet.

Nachdem wir einige Hintergrundinformationen über die turbulente Situation im Land gehört haben, auch über die langjährige Unterstützung der USA für das diktatorische Regime, begleiten wir Kai und McAllister mit seiner Handkamera zu einer Reihe von Demonstrationen, beginnend am 18. März 2011 - dem sogenannten "Freitag der Würde", als 52 friedliche Demonstranten von Regierungsagenten erschossen wurden.

Während der ersten Proteste auf dem Platz, der heute Change Square (Platz des Wandels) heißt, steht Kai den Demonstrationen skeptisch gegenüber - mit gutem Grund. Er sieht in der aufkeimenden Bewegung keine klare Perspektive. Die anfangs lokalen Proteste werden schnell zu großen Widerstandsdemonstrationen. Jede gewaltsame Intervention des Staates und jedes Opfer verstärkt die Entschlossenheit der Demonstranten, das Regime zu stürzen. In einer beeindruckenden Szene sehen wir das mutige Paar Kai und McAllister in einem Krankenhaus, wo unter chaotischen Bedingungen Dutzende blutiger Opfer der Staatsmacht, Verletzte, Sterbende, darunter auch Kinder, behandelt werden.

Der Film macht klar, dass es angesichts solcher Umstände unmöglich ist, neutral zu bleiben. Kai erklärt seine vollständige Unterstützung für die Revolution. Die Frage der Perspektive der Massenbewegung nach dem Sturz des Präsidenten wird nicht angesprochen. McAllisters eigene Ansichten über die Rolle westlicher Militärinterventionen zeigt, dass er in der Hinsicht auch nichts anzubieten hat.

Ein bemerkenswerter Film mit explosivem politischem Inhalt war die Dokumentation Revision des deutschen Regisseurs Philip Scheffner.

Im Juli 1992 wurden auf einem Feld nahe der deutsch-polnischen Grenze zwei Männer erschossen. Einer davon war der Roma Grigore Velcu. Er war mit seiner Familie im Jahr 1990 aus Rumänien vor einer Welle der Feindschaft gegen die Roma nach dem Zusammenbruch des stalinistischen Ceaucescu-Regimes geflohen. Velcu und seine Familie reisten nach Deutschland, wo sie in einem Flüchtlingszentrum unterkamen.

Grigores Mutter starb kurze Zeit später und wurde auf dem örtlichen Friedhof begraben. Nach der Schändung ihres Grabes kehrte Grigore illegal nach Rumänien zurück, um die Papiere für die Rückführung ihrer Leiche anzufordern. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland mit einer kleinen Gruppe illegaler Flüchtlinge wurden er und Eudache Calderar, ebenfalls Rumäne, mit einem Jagdgewehr erschossen.

Fast zwanzig Jahre danach kehrt Revision an den Tatort zurück. Der Film wechselt zwischen Deutschland und Rumänien, wobei viele der Beteiligten interviewt werden - die Familien der Opfer, die Bauern, die die Leichen auf ihren Feldern fanden, die Polizei- und Justizbeamten, die an dem Fall arbeiteten. Ein Interviewter aus Rumänien sagt, er sei ein Mitglied der Gruppe gewesen, die nach Deutschland wollte und habe die Erschießung miterlebt. Laut seiner Darstellung kam der Schuss von Polizisten, die mit Scharfschützengewehren von der Motorhaube eines Polizeiautos schossen.

Wir erfahren, dass zwei Männer deswegen angeklagt wurden. Einer von ihnen ist ein ehemaliger Polizist, der im Jahr 1990 im Grenzgebiet Jagdausflüge machte. Die deutschen Medien berichteten damals über die Todesfälle und spekulierten, Jäger hätten die Flüchtlinge in der Dunkelheit für Wildtiere gehalten. Als damals klar wurde, dass es zu der Zeit hell genug war, um sie erkenntlich zu machen, wurde die Geschichte geändert. Die Zeitungen schrieben Sensationsgeschichten über Jäger, die fälschlicherweise Menschenschieber an der deutschen Grenze erschossen hätten.

Die Überlebenden aus der Gruppe, die zusammen mit Grigore und Eudache nach Deutschland wollten, kamen in ein Asylantenheim im norddeutschen Rostock.

Ein Fotograf, der im August 1992 in Rostock war, erzählt, wie schockiert er war, als er merkte, dass sich die Polizei von ihren Posten um das belagerte Asylantenheim zurückgezogen hatte, so dass der neofaschistische Mob es in Brand setzen und zerstören konnte. Nach dem Pogrom wurden die verbliebenen Roma nach Rumänien ausgewiesen, damit sie nicht im Prozess um die zwei Getöteten aussagen konnten. Bis Scheffner zwanzig Jahre später mit ihnen Kontakt aufnahm, haben die Familien von Velcu und Calderar kein einziges Wort der Entschuldigung von Deutschland für die Umstände der Tode an der Grenze gehört.

Kurz nach den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen und einer Hetzkampagne der Medien gegen Immigranten wurde das deutsche Asylrecht mit Unterstützung aller großen Parteien, auch der SPD, praktisch abgeschafft. Diese Abschaffung war der Startschuss für die Abschiebung von zehntausenden von Immigranten, die hier Zuflucht suchten, darunter tausende Roma.

Nach einer Reihe von langen gerichtlichen Verfahren wurden die beiden Verantwortlichen für die Schüsse an der Grenze im Jahr 1999 von allen Anklagepunkten freigesprochen.

An einer Stelle gibt der Film die Information, dass laut der NGO Festung Europa zwischen 1988 und August 2009 14.687 Menschen bei dem Versuch, die Grenze zu Europa zu überschreiten, gestorben seien. Scheffners Film stattet diese erschreckende Statistik mit Fleisch und Blut aus.

Teil 1 der Artikelserie siehe unter:
Internationale Filmfestspiele Berlin 2012
Einige Glanzstücke der 62. Berlinale
http://www.wsws.org/de/2012/feb2012/berl-f25.shtml

wird fortgesetzt


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Quelle:
World Socialist Web Site, 03.03.2012
62. Internationale Filmfestspiele in Berlin - Teil 2
Politische Filme bei der Berlinale
http://www.wsws.org/de/2012/mar2012/ber2-m03.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. März 2012