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GLEICHHEIT/4125: Neuwahlen in Nordrhein-Westfalen


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Neuwahlen in Nordrhein-Westfalen

Von Dietmar Henning und Christoph Dreier
20. März 2012


Der Düsseldorfer Landtag hat am vergangenen Mittwoch einstimmig seine Auflösung beschlossen. Am 13. Mai finden im bevölkerungsreichsten Bundesland vorgezogene Neuwahlen statt.

Es ist nach dem Ende der Jamaika-Koalition im Saarland und dem Rücktritt des Bundespräsidenten Christian Wulff bereits die dritte irreguläre Wahl in diesem jungen Jahr. Die Hektik, mit der die herrschende Elite die Pferde wechselt und Koalitionen schmiedet, verweist auf die heftigen Klassenauseinandersetzungen, die jetzt in ganz Europa auf der Tagesordnung stehen.

In Nordrhein-Westfalen hat die Regierung mit Täuschungen und Manövern Neuwahlen durchgesetzt, um sich in einer stabileren Koalition auf die bevorstehenden sozialen Angriffe vorzubereiten, die gegen die Bevölkerung geführt werden sollen. Doch die Bedeutung der Ereignisse geht weit über NRW hinaus.

Bisher konnte sich die rot-grüne Minderheitsregierung von Hannelore Kraft auf die Linkspartei verlassen, die ihr bei den Haushalten 2010 und 2011 die Mehrheit gesichert hatte. Allein im ersten Regierungsjahr unterstütze die Linkspartei 300 Anträge der Regierung. Im letzten Jahr stützte sich Rot-Grün aber zunehmend auf Stimmen der FDP, die wegen niedriger Umfragewerte und der Angst vor Neuwahlen zu fast allen Zugeständnissen bereit war.

Für den Haushalt 2012 war die Regierung daher in der komfortablen Situation, dass sowohl die FDP als auch die Linkspartei vorbehaltlich einiger Änderungen ihre Unterstützung zugesagt hatten.

Die FDP hatte sich bei der ersten Abstimmung im Haushalt- und Finanzausschuss enthalten. Nach Kritik von Seiten der CDU dachte sich der FDP-Fraktionsvorsitzende Gerhard Papke dann den Fahrplan aus, bei der zweiten Lesung gegen die Einzeletats der Ministerien zu stimmen, um dann in der entscheidenden dritten Lesung Ende März nach Verhandlungen mit Rot-Grün doch noch die Zustimmung zu geben.

Die Linkspartei kündigte die gleiche Vorgehensweise an, nachdem Ministerpräsidentin Kraft sie trotz der Angebote von Linkspartei-Fraktionschef Wolfgang Zimmermann nicht zu Absprachen eingeladen hatte.

Trotz dieser sicheren Position entschied sich die Regierung, die Auflösung des Landtags zu provozieren und Neuwahlen zu erzwingen. Zunächst signalisierte sie Zustimmung zu den Plänen der beiden Oppositionsparteien, um dann nur einen Tag vor der Abstimmung ein juristisches Gutachten der Landtagsverwaltung in Stellung zu bringen, das besagt, der Plan von FDP und Linkspartei sei rechtswidrig. Man könne laut diesem Gutachten nicht die Einzeletats der zehn Ministerien ablehnen und später in der Gesamtheit doch passieren lassen.

Am Dienstagmorgen wurde Landtagspräsident Eckhard Uhlenberg (CDU) darüber informiert und ihm eine schriftliche juristische Ausarbeitung überreicht. Uhlenberg informierte daraufhin das Landtagspräsidium und die Fraktionsspitzen aller Parteien.

Weder FDP noch Linkspartei waren in der Lage, ihr geplantes Vorgehen innerhalb eines Tages umzuwerfen. Die Linkspartei wollte eigentlich auf einem kleinen Parteitag am Wochenende die Basis befragen, wie sie sich in der Haushaltsabstimmung positionieren solle. Daher stimmten beide Parteien mit Nein.

Ministerpräsidentin Kraft nutze nun das Gutachten der Landtagsverwaltung, um den Haushalt endgültig für gescheitert zu erklären. Ohne Zustimmung sei sie nicht bereit, die Regierung weiterhin zu führen. Ihre Fraktion beantragte die Selbstauflösung des Parlaments, die einstimmig angenommen wurde.

Bei der Wahl am 13. Mai droht der FDP mit hoher Wahrscheinlichkeit der Auszug aus dem Landtag, und womöglich könnte die Linkspartei das gleiche Schicksal erleiden. In einer Blitzumfrage des Instituts infratest dimap vom Mittwoch erzielten die FDP zwei und die Linkspartei vier Prozent.

Was in den meisten Medien als Folge eines "Fauxpas" oder einer "Panne" bezeichnet wurde, war in Wirklichkeit eine bewusste Aktion der Regierung. Die beiden Autoren des Gutachtens, Hans-Josef Thesling und Olaf Schade, sind nicht nur Mitglied von CDU und SPD, sondern stehen auch deren Fraktionen nahe, so dass es mehr als unwahrscheinlich ist, dass sie nicht mit diesen zusammenarbeiteten.

Thesling arbeitete bis vor einigen Jahren in der Staatskanzlei, wurde aber noch von der früheren CDU-Landtagspräsidentin Regina van Dinther in die Parlamentsverwaltung berufen. Olaf Schade war einst Fraktionsjustiziar der SPD und auch persönlicher Referent der aktuellen SPD-Landtagsvizepräsidentin Carina Gödecke, als diese parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Landtagsfraktion war.

Das Gutachten, das zur Auflösung herangezogen wurde, ist alles andere als unstrittig. Die Ablehnung eines Einzelplans in der zweiten Lesung ziehe nicht zwangsläufig einen Abbruch des Verfahrens nach sich, erklärte die Frankfurter Allgemeine Zeitung gestützt auf die Einschätzung verschiedener Verfassungsrechtler.

Der Staatsrechtslehrer und Haushaltsfachmann Rainer Wernsmann, der sowohl für die rot-grüne als auch für die frühere schwarz-gelbe Landesregierung schon Gerichtsverfahren führte, stellte die Relevanz der Frage für die Gültigkeit des Haushalts in Frage. Ein Verstoß gegen die Geschäftsordnung führe nicht zur Verfassungswidrigkeit des Haushalts.

Der Staatsrechtslehrer Ralph Alexander Lorz (CDU) bezeichnet die Aussagen des Gutachtens sogar als "schlichte Behauptungen, die nicht zwingend sind". Keiner sei "offenbar auf den Gedanken gekommen, das juristisch zu hinterfragen".

Nimmt man all dies zusammen, so ist offensichtlich, dass die Auflösung des Parlaments auf die Initiative der Regierungskoalition zurück ging. Der Grund hierfür liegt zunächst darin, dass mithilfe der Neuwahlen eine stabile Regierung entstehen soll, die in der Lage ist, radikale Kürzungen durchzusetzen.

Zwar wurden bereits im Haushalt 2011 etwa 620 Millionen Euro eingespart, und auch der gescheiterte Entwurf sah für 2012 Millionen-Kürzungen vor, doch die Pläne der Regierung gehen noch viel weiter. Die Schuldenbremse, die die große Koalition im Bund 2009 ins Grundgesetz geschrieben hat, verpflichtet die Bundesländer dazu, bis 2020 keine neuen Schulden mehr aufzunehmen.

Zurzeit hat NRW noch ein Haushaltsdefizit von knapp vier Milliarden Euro. Selbst wenn die Konjunktur wider Erwarten stabil bliebe, müssten jedes Jahr weitere 450 Millionen Euro eingespart werden. Realistischer ist hingegen ein konjunktureller Einbruch und damit verbundener Steuerausfall, den die Regierung zum Vorwand nehmen würde, noch weitere soziale Kürzungen durchzusetzen.

Die Spitzenkandidatin der Grünen, Sylvia Löhrmann, kündigte gegenüber der Tageszeitung Die Welt bereits tiefere Einschnitte in den Haushalt an. Die SPD sei dabei die verlässlichste Partnerin. "Wir überlegen gemeinsam, wo man bei der Haushaltskonsolidierung durch differenzierte Einsparvorschläge nachsteuern muss." Bei den Neuwahlen mit einer echten Mehrheit ausgestattet, würde die bisherige Minderheitsregierung umso radikaler gegen die sozialen Rechte der Bevölkerung vorgehen.

Doch die Ereignisse der letzten Woche lassen sich nicht allein aus NRW heraus erklären. Die Beteiligung des Christdemokraten Thesling an der Erstellung des Gutachtens und das Abstimmungsverhalten der Fraktion weisen darauf hin, dass die CDU den Coup mindestens bewusst toleriert hat.

In den Augen vieler CDU Abgeordneter ist die FDP nicht mehr geeignet, die auf Bundesebene geplanten Kürzungen gegen die Bevölkerung durchzusetzen. Zu offensichtlich ist ihre Nähe zu reichen Finanzkreisen und ihre Arroganz gegenüber der einfachen Bevölkerung. Unter den Wählern ist die Partei vollständig diskreditiert und liegt in Umfragen bei drei Prozent.

Daraus resultieren die heftigen Auseinandersetzungen zwischen FDP und CDU, die in den letzten Wochen immer schärfere Formen angenommen haben. Verfehlen die Liberalen im Mai den Wiedereinzug in den Landtag des bevölkerungsreichsten Landes, könnte dies der Bundeskanzlerin dazu dienen, die Koalition zu beenden und zur Großen Koalition zurück zu kehren. Schon die Kündigung der Jamaika-Koalition im Saarland wies in diese Richtung.

Mit einer rot-grünen Mehrheitsregierung in NRW stünde als Alternative auch eine solche Koalition bereit, um die Agenda 2010 der Regierung Schröder-Fischer fortzuschreiben und den europäischen Fiskalpakt gegen die Bevölkerung in Deutschland durchzusetzen.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 20.03.2012
Neuwahlen in Nordrhein-Westfalen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2012