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GLEICHHEIT/4329: Was Danny Boyles Olympiafeier über Großbritannien aussagt und was nicht


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Was Danny Boyles Olympiafeier über Großbritannien aussagt und was nicht



Es spricht für Danny Boyle, dass die von ihm inszenierte Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele eine solch feindselige Reaktion von Teilen der konservativen Rechten erfuhr.

Boyles Zeremonie war ehrgeizig, an vielen Stellen spektakulär und zuweilen engagiert. Die öffentliche Reaktion weltweit war positiv. Im Vereinigten Königreich, wo die unzähligen Anspielungen weit vertrauter sind, war die Reaktion sogar herzlich und dankbar.

Es ist nicht schwer zu verstehen, warum.

Boyles historische Anfangsszene, angeregt durch die chiliastische Vision (1) des Dichters William Blake, zeigte ein "grünes und liebliches Land", das in die Feuersglut der industriellen Revolution versetzt wurde. In seiner Darstellung des 20. Jahrhunderts ließ Boyle seine Schauspieler und Tänzer Frauenrechtlerinnen, Jarrow-Hungermarschteilnehmer (2), Antiatomaktivisten und karibische Einwanderer, die 1948 auf der Empire Windrush in Großbritannien eintrafen (3), darstellen.

Sein kultureller Teil begann mit Edward Elgars "Nimrod" und umfasste die Hymne "Jerusalem" von Charles H.H. Parry sowie das Kirchenlied "Abide with Me". Emeli Sande trug aufs Erfreulichste vor. Im Mittelpunkt stand allerdings Popmusik. Hier kamen nicht nur die kommerziellen Giganten, sondern auch kleinere Gruppen zum Zuge, die kulturellen Einfluss hatten: die Rolling Stones und die Beatles, aber auch die Sex Pistols, Clash und die Specials.

Natürlich wurden die unebenen Stellen glattgebügelt. "Going Underground" ("So wie ihre Lügen dich wegspülen und ihre Zusagen verschimmeln, wirst du sehen, wird das Dialysegerät durch Raketen und Schusswaffen ersetzt werden") von den Jam und "God Save the Queen" ("Es liegt keine Zukunft in Englands Träumerei") von den Pistols wurden gesampelt, sodass niemand Anstoß nehmen konnte. Und Boyle tunkt die Königin selbst in seine eklektische Mischung hinein um sie als Bondmädchen wieder herauszuziehen.

Es gab eine ausgedehnte Hommage an den National Health Service (NHS, den Nationalen Gesundheitsdienst); ein schrilles Soap-Opera-Busserl und ein Anthem von Frankie Goes To Hollywood; Tim Berners-Lee und das World Wide Web; eine Feier auf die britische multiethnische Gesellschaft. Doreen Lawrence, die Mutter des ermordeten schwarzen Jugendlichen Stephen Lawrence, trug eine olympische Fahne.

Dies alles sind Dinge, die die Menschen in ihrer Auflistung all dessen nennen würden, was es heißt Brite zu sein - weit eher als das Drum und Dran der Monarchie, des Militarismus und des Empire, das viele unwichtig, nicht real und abstoßend finden.

Genau dies hat den Zorn eines Teils der Toryrechten geweckt.

Am unverhohlensten äußerte sich Aidan Burley, der letztes Jahr gezwungen wurde, als Ministerialreferent zurückzutreten, nachdem er einer faschistischen Themen-Party beigewohnt hatte. Er beschrieb das Ereignis als "Multikultischeiße" und als "die linkeste Eröffnungsfeier, die ich je gesehen habe."

Andere, darunter Bildungsminister Michael Gove und Kulturminister Jeremy Hunt, haben Berichten zufolge ihren Widerwillen im privaten Rahmen vernehmen lassen.

Doch die positiven Kommentare anderer politischer Persönlichkeiten sind genauso bezeichnend. Natürlich haben die führenden Labour-Leute mit ihrem Frohlocken Ekel erregt. Alastair Campbell, einer von Tony Blairs Spitzengefolgsleuten, vermeldete auf seinem Twitterblog: "Verflucht prächtig, dass ein Sozialist die Eröffnungsfeier gemacht hat."

Der Parlamentarier Paul Flynn bejubelte ihre "wunderbare fortschrittlich sozialistische Stimmung" und Carl Sargeant, Minister für Gebiets-und Gemeinderegierung in der Waliser Assembly, nannte sie "die beste politische Sendung der Labour Party, die ich seit langem gesehen habe."

Dass sich solche Gestalten als "Sozialisten" produzieren können, die Boyles Blick auf die Gesellschaft teilen, geht zurück auf künstlerische Grenzen, die in der konfusen Weltanschauung des Regisseurs selbst wurzeln.

Auch die heitere Aufnahme durch die Regierung, darunter von Premierminister David Cameron und dem Londoner Bürgermeister Boris Johnson, geht hierauf zurück. Diese Aufnahme sollte nicht als einfacher Versuch der Schadensbegrenzung aufgefasst werden.

In seiner typischen aufgeblähten Art erklärte Johnson: "Die Leute sagen, dies sei alles linkes Zeug gewesen. Das ist Unsinn. Ich bin Konservativer und ich hatte von Beginn an schmerzende Tränen patriotischen Stolzes in den Augen."

Seine Beschwörung des Patriotismus mag zynisch gemeint gewesen sein, leider ist sie aber nicht völlig unangemessen.

Boyle (Trainspotting, Slumdog Millionaire) hat eine Reihe von Dingen zusammengetragen, auf die man stolz sein kann, und darüber hinaus auch Gründe, um darüber stolz sein zu können, Brite zu sein. Solch eine Herangehensweise kann indessen keine Alternative zu den rechten sozialen und politischen Patentlösungen bieten, die das offizielle heutige Großbritannien beherrschen.

Er bedient sich einer unkritischen Nostalgie für die Vergangenheit und eines sentimentalen Blickes auf die Gegenwart um seinen Glauben aufrechterhalten zu können, dass Großbritannien innerhalb einer gemeinsamen Kultur von Toleranz und Mitgefühl geeint werden könne.

"Wir können Jerusalem errichten, und es wird für jedermann da sein", schrieb er in der olympischen Broschüre.

"Wir wollten nichts anderes zweigen als Werte, die wir für echt halten," sagte er. "Wir hoffen, die Show hinterlässt den Eindruck eines Fests der Großzügigkeit."

Seine Darbietung begann mit einem Shakespearezitat aus dem Sturm, vorgetragen von Kenneth Branagh, der Caliban als Isambard Kingdom Brunel (dem gefeierten Ingenieur, Brücken- und Tunnelerbauer aus dem 19. Jahrhundert) darstellte: "Sei nicht in Angst! Die Insel ist voll Lärm, voll Tön' und süßer Lieder, die ergötzen, und niemand Schaden tun."(4)

Ist irgendetwas davon auf das Großbritannien des 21. Jahrhunderts übertragbar? Nach jahrzehntelangen und sich beständig verschärfenden Angriffen auf die Arbeiterklasse und ihre sozialen Errungenschaften - und inmitten einer sich vertiefenden Weltwirtschaftskrise? Ist dies ein Platz für jedermann? Ein Fest der Großzügigkeit? Wird hier niemandem Schaden getan?

Boyle möchte das Bild einer geeinten Nation zeichnen, aber Großbritannien ist von extremer Ungleichheit geprägt. Die Olympischen Spiele, ausgetragen in London, der am meisten von sozialer Polarisierung gekennzeichneten Stadt, wurden zu einem Monument tiefgehender, zersetzender und unüberbrückbarer Klassenspaltung.

Eine Eröffnungsfeier, die allumfassend zelebrieren wollte, fand in einer Stadt statt, die unter erdrückender Militär- und Polizeiaufsicht steht. Das Publikum zahlte zwischen 212 und 2.012 Pfund für die Eintrittskarten. Die Spiele werden dominiert und gestaltet vom Diktat der kommerziellen Sponsoren. Zu diesen zählt auch Dow Chemicals, ein Unternehmen, das sich weigerte, eine Entschädigung für die 20.000 bis 25.000 Opfer der Bhopalkatastrophe in Indien zu zahlen.

Wenn man diese Umstände berücksichtigt: was ist dann von Boyles Wunschdenken zu halten?

Im Mittelpunkt seines Panoramas stand ein Lobgesang auf den NHS. In einer Sequenz wurden Kinder des Great Ormond Street Hospital von J.K Rowlings Voldemort und dem Kinderfänger aus Chitty-Chitty-Bang-Bang bedroht.

Doch die wahren Bösewichte, die den National Health Service bedrohen, sind Cameron und sein Stellvertreter Nick Clegg. Und Labour wird nicht die Rolle von Mary Poppins übernehmen und zur Rettung herbeieilen. Vielmehr waren sie diejenigen, die mit den Privatisierungen begannen, welche unter den Tories zur totalen Zerschlagung des NHS zu werden drohen.

Niemand im heutigen Vereinigten Königreich kann es sich leisten, teilnahmslos auf eine mythologisierte Vergangenheit zurückzugreifen, die ihres wesentlichen Zuges beraubt wurde: der erbitterten Klassenkämpfe. Ebenso unzureichend ist es, positive Aspekte der britischen Gesellschaft zu bejubeln, die trotz der Verkommenheit der herrschenden Elite noch bestehen, von dieser aber bald vollständig zerstört werden sollen.

Um ein Großbritannien zu errichten, das einer Feier wahrhaft würdig ist, muss die Arbeiterklasse die im Wesentlichen beschränkten und selbstgefälligen Ansichten, die Boyle reflektiert, zurückweisen. Es heißt, die gegenwärtige Wirklichkeit offen und ehrlich zu betrachten und die notwendigen Schlüsse zu ziehen: Klassenkampf und sozialistischer Internationalismus müssen sich zu Eigen gemacht, populistische Appelle an nationale Einheit abgewiesen werden.


Anmerkungen:

(1) Chiliasmus (von griech. chilias = tausend) bzw. Millenarismus (von lat. millennium = Jahrtausend) ist der Glaube an die Errichtung eines tausendjährigen Reiches nach der Wiederkehr Jesu. Der englische Dichter und Maler William Blake (1757-1827) war Anhänger solcher Vorstellungen. Das obige Zitat ist Blakes Gedicht And did those feet in ancient time entnommen, das Teil des Vorwortes zu seinem Werk Milton (1804-1810) ist. (Anm. d. Üb.)

(2) Der Jarrowmarsch fand im Oktober 1936 statt. Die Teilnehmer marschierten von der nordöstlichen Stadt Jarrow 480 Kilometer nach London, um gegen Arbeitslosigkeit und extreme Armut zu protestieren. (Anm. d. Üb.)

(3) Am 22. Juni 1948 traf auf dem Dampfer Empire Windrush die erste große Gruppe karibischer Einwanderer (493 Personen aus Jamaika) in Großbritannien ein. (Anm. d. Üb.)

(4) Übersetzung von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 03.08.2012
Was Danny Boyles Olympiafeier über Großbritannien aussagt und was nicht
http://www.wsws.org/de/2012/aug2012/olym-a03.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2012