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GLEICHHEIT/4723: Russland - Kreml zerschlägt Gesundheitssystem


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Russland: Kreml zerschlägt Gesundheitssystem

Von Clara Weiss
11. Juni 2013



Die russische Regierung setzt massive Kürzungen und Privatisierungen im Gesundheitswesen durch. Bereits jetzt ist das Gesundheitssystem finanziell unterversorgt. Der Anteil der Gesundheitsausgaben liegt in Russland bei nur 3,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Nun sollen die Ausgaben noch weiter gekürzt werden. Der Staatshaushalt für 2013-2015 sieht vor, die Gesundheitsausgaben von 507 auf 373 Mrd. Rubel zu reduzieren. Auch im Bildungsbereich werden umfassende Sparmaßnahmen vorgenommen: jede fünfte Hochschule und 30 Prozent der Hochschulinstitute sollen wegen "Ineffizienz" geschlossen werden.

Darüber hinaus steht eine Rentenreform an, die die derzeitigen Hungerrenten weiter zusammenkürzen soll. Ähnliche soziale Angriffe werden seit der Krise 2008 in allen anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropas vorgenommen. Das Ziel besteht darin, alle sozialen Rechte und Errungenschaften der Arbeiterklasse zu zerschlagen, die nach der kapitalistischen Restauration übriggeblieben sind.

Die Kürzungen im Gesundheitssystem und anderen sozialen Bereichen sind in der Bevölkerung zutiefst unpopulär. Bei einer Umfrage des Levada-Zentrums 2012 gaben die meisten an, dass der miserable Zustand des Gesundheitssystems ihrer Ansicht nach das größte Problem im Land sei. Im ganzen Land fanden in den letzten Monaten Demonstrationen, Streiks, und Hungerstreiks von tausenden Patienten, Ärzten und Pflegern gegen die Schließungen von medizinischen Einrichtungen, Lohnkürzungen und die Abschaffung kostenloser Gesundheitsvorsorge statt.

In zahlreichen Städten werden seit Anfang des Jahres Kliniken privatisiert. Moskau hat im Mai die teilweise Privatisierung eines der wichtigsten Stadtkrankenhäuser bekannt gegeben. Vierzig Prozent der Einrichtung des Krankenhauses gehören nun weiterhin der Stadt, während 60 Prozent an einen privaten Investor verkauft wurden. Dementsprechend wird auch nur noch 40 Prozent der Gesundheitsversorgung in dem Krankenhaus umsonst sein. Der Anteil des Privatinvestors wird voraussichtlich weiter steigen. Die Stadtverwaltung von Moskau erklärte bereits, dass diese Privatisierung nur den Auftakt bilden soll zu einer umfassenden Restrukturierung und Privatisierung der städtischen Krankenhäuser.

Gleichzeitig werden landesweit Abteilungen in staatlichen Krankenhäusern und Geburtshäusern geschlossen, die die Schließung der gesamten Einrichtungen vorbereiten sollen. Insbesondere ländliche Regionen sind betroffen. So wurden in der zentralrussischen Region Jaroslawl in dutzenden Geburtenhäusern alle Abteilungen geschlossen. In vielen Dörfern und Kleinstädten stehen schwangere Frauen ohne jede medizinische Versorgung da. Aufgrund des Zerfalls der Infrastruktur seit den 1990er Jahren, sind die nächstgelegenen größeren Städte für Dorfbewohner kaum zu erreichen. Insbesondere für kranke Menschen oder schwangere Frauen ist das Fahren auf den heruntergekommenen Straßen eine Zumutung.

Im Rahmen der "Umstrukturierung" des Gesundheitssystems wurde seit Anfang des Jahres die Bezahlung des medizinischen Personals vom Staatshaushalt ausgelagert und an die Regionen delegiert. Die Folge sind Lohnkürzungen und Personalabbau. In zahlreichen Regionen mussten Ärzte und Pflegepersonal Anfang des Jahres Lohnkürzungen von bis zu 10 Prozent hinnehmen. Auch die Sozialleistungen und Zahlungen für Unterkunft wurden seit 2012 vielerorts zusammengestrichen.

Das vom Gesundheitsministerium vorgeschriebene Mindestgehalt von 33,000 Rubel (rund 775 Euro), so gering es auch ist, wird dabei nur noch in den seltensten Fällen ausgezahlt. Ein Arzt aus der Nähe von Moskau, der im April an Demonstrationen gegen die Kürzungen teilnahm, berichtete, dass er inzwischen nur noch 15,000 Rubel (350 Euro) plus 4,000 Rubel (94 Euro) als Bonus für seine 30-jährige Tätigkeit bekomme.

Diese Kürzungen werden zudem den bereits gravierenden Fachkräftemangel in der Medizin verschärfen. Laut Angaben des Gesundheitsministeriums fehlten im letzten Jahr 152,000 Fachkräfte.

Rechtlich gesehen existiert in Russland noch eine kostenlose Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung. In Wahrheit gibt es jedoch ein Zwei-Klassen-Gesundheitssystem, bei dem sich nur die obere Mittelschicht und die Oligarchie Zugang zu einer angemessen medizinischen Behandlung leisten können. Ein Großteil der staatlichen Kliniken wurde seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion bereits privatisiert. Von einer Versorgung in diesen Einrichtungen kann die große Mehrheit der Bevölkerung nur träumen. Gleichzeitig sind die staatlichen Polikliniken vollkommen überfüllt, das Personal unterbezahlt und die technische Einrichtung veraltet.

Inzwischen wird auch in staatlichen Kliniken parallel zur freien Behandlung eine kostenpflichtige angeboten. Laut einer Umfrage des ROMIR-Zentrums bezahlten im letzten Jahr 65 Prozent aller Russen für medizinische Behandlung und 20 Prozent bezahlten ihre Ärzte "informell". Das Angebot der staatlichen Einrichtungen ist meist so schlecht, dass es bei ernsteren oder seltenen Krankheiten unumgänglich ist, für eine Behandlung in privaten Einrichtungen zu zahlen, wenn man es sich irgendwie leisten kann.

Hinzu kommt, dass der Zugang zu Medikamenten oft äußerst schwer, wenn nicht unmöglich ist. In Moskau werden beispielsweise nach den neuesten Kürzungen nur 50 Prozent des Medikamentenbedarfs für Nicht-Privatpatienten gedeckt. Medikamente für Patienten, die an seltenen Krankheiten leiden, sind überhaupt nicht zu haben. Insgesamt fehlen der Stadt schätzungsweise rund 6 Mrd. Rubel (141 Mio. Euro), um den Bedarf zu decken.

Die Kürzungen und Privatisierungen vertiefen einen Teufelskreis, der bereits seit Jahren im Gange ist: Die neuen Privatisierungsmaßnahmen werden die Versorgungssituation in den verbleibenden staatlichen Einrichtungen, die immer weniger werden, weiter verschlechtern und gleichzeitig allgemein die Preise für medizinische Versorgung in die Höhe treiben. Krankenhausaufenthalte und Behandlungen werden so für viele Menschen nicht mehr bezahlbar sein. Gleichzeitig sinken die Hungergehälter für das medizinische Personal weiter, sodass sich Ärzte und Pflegekräfte, allein um überleben zu können, gezwungen sehen, von Patienten "informelle" Bezahlungen entgegen zu nehmen.

Das Ziel dieser Politik besteht darin, die kostenfreie Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung abzuschaffen. Angesichts der weitverbreiteten bitteren Armut bedeutet dies für die große Mehrheit der Bevölkerung die Verwehrung des Zugangs zu jeglicher medizinischen Versorgung.

Die Zerschlagung des ohnehin zerrütteten Gesundheitssystems ist besonders dramatisch angesichts der schlechten Gesundheitslage in der Bevölkerung. Jahrzehnte brutaler sozialer Angriffe und Armut haben die Gesundheit eines Großteils der Bevölkerung ruiniert.

Bei einer Umfrage der Moscow Higher School of Economics gaben 46 Prozent der Befragten ab 15 Jahren an, chronisch krank zu sein. Die allgemeine Erkrankungsrate ist zwischen 1990 und 2010 ununterbrochen von Jahr zu Jahr gestiegen. Erst seit 2010 lässt sich ein leichter Rückgang beobachten. Die Erkrankungsrate ist dabei umso höher, je jünger die Generation ist. Im Jahr 2008 waren nur 10 Prozent der Kinder und Jugendlichen vollkommen gesund.

Insgesamt ist die Sterblichkeit 1,4 Mal so hoch wie der EU-Durchschnitt und die Lebenserwartung für Männer ist niedriger als in Dritte-Welt-Ländern wie Bangladesch oder Angola. Die Wahrscheinlichkeit, in Russland im arbeitsfähigen Alter (15- 60) zu sterben ist heute fast doppelt so hoch wie in Europa. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist vor allem die Zahl der Fälle gestiegen, die an eigentlich heilbaren Erkrankungen (Ernährungsdefiziten, Infektionen oder Parasiten) starben. Bei Männern hat sich die Zahl dieser Fälle seit 1990 verdoppelt, bei Frauen verdreifacht.

Auch die miserablen Arbeitsbedingungen tragen zur hohen Todesrate bei. Über ein Drittel aller Beschäftigten arbeitet laut offiziellen Angaben an Arbeitsplätzen, die nicht den geringsten Sicherheitsstandards entsprechen.

Die Lebensbedingungen haben sich durch die soziale Konterrevolution der letzten zwei Jahrzehnte dramatisch verschlechtert. Die Hälfte der 140 Mio. Einwohner hat keinen Zugang zu sauberem Wasser und ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung kann sich keine gesunde Ernährung leisten. Frisches Gemüse, Früchte, Fisch, Milch und Fleisch sind für viele Luxusprodukte.

Fast 1 Prozent der Bevölkerung ist HIV-positiv, allein im letzten Jahr stieg die Erkrankungsrate um 12,5 Prozent. Die Sterblichkeitsrate bei HIV-Patienten wuchs 2012 um 14 Prozent. Auch Tuberkulose, eine Krankheit, die vor allem bei mangelnder Hygiene und einem geschwächten Immunsystem entsteht, hat sich enorm verbreitet. In den letzten 15 Jahren hat sich die Zahl der Tuberkuloseerkrankungen mehr als verdoppelt. Russland liegt damit weltweit auf Platz 13 der Länder mit den meisten Tuberkulosekranken.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 11.06.2013
Russland: Kreml zerschlägt Gesundheitssystem
http://www.wsws.org/de/articles/2013/06/11/russ-j11.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2013