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GLEICHHEIT/4737: Massenproteste in Brasilien und die Krise der revolutionären Führung


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Massenproteste in Brasilien und die Krise der revolutionären Führung

Von Bill Van Auken
25. Juni 2013



Seit zehn Tagen kommt es in Brasilien zu den größten Protesten seit Ende der Militärdiktatur 1985. Dieser Ausbruch von Massenkämpfen zeigt vor allem die Krise der revolutionären Führung der Arbeiterklasse.

Der ursprüngliche Auslöser für die Proteste war eine Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr. Sie wurde mittlerweile zurückgenommen, um die sozialen Unruhen zu beschwichtigen. Dennoch demonstrierten vergangenen Donnerstag bis zu zwei Millionen Menschen in Rio de Janeiro, Sao Paulo und Dutzenden anderen Städten im ganzen Land. Sie forderten mehr Investitionen in Bildung und Gesundheit und gaben der Wut der Bevölkerung Ausdruck, dass auf ihre Kosten Milliarden für die Fußball-WM ausgegeben werden.

Mehrfach kam es zu brutalen Zusammenstößen mit der Polizei, die Tränengas, Gummigeschosse und berittene Einheiten einsetzte.

Die starke Mobilisierung ist nicht allein mit den unmittelbaren Ereignissen zu erklären, die sie ausgelöst haben (in Brasilien die zwanzigprozentige Fahrpreiserhöhung; im Falle der Türkei der Versuch, den Gezi-Park zu zerstören). Die Unruhen haben ihre Wurzeln in den tiefen Widersprüchen dieser Gesellschaft, die von der historischen Krise des Weltkapitalismus immens verstärkt werden.

Brasilien wurde, wie die Türkei, in den letzten Jahren als Wirtschaftswunderland dargestellt. Aber das "Wunder von Brasilien" ist offenbar gescheitert.

Es hat zwar etwa fünfzig Milliardäre und über 150.000 Millionäre hervorgebracht, doch konnte es in der Infrastruktur das Vermächtnis imperialistischer Unterdrückung und wirtschaftlicher Rückständigkeit nicht beseitigen. Die halbherzigen Hilfsprogramme werden gelobt, weil sie die extreme Armutsrate etwas reduzieren und eine neue "Mittelschicht" schaffen, doch haben sie wenig daran geändert, dass Brasilien eine der stärksten sozialen Polarisierungen der Welt aufweist.

Es gibt zunehmend Anzeichen für eine Wirtschaftskrise: So ist die Wachstumsrate im Jahr 2012 auf 0,9 Prozent gesunken, im ersten Quartal dieses Jahres auf 0,6 Prozent. Die industrielle Produktion ist um 0,3 Prozent zurückgegangen, was zu Entlassungen und ausbleibenden Lohnerhöhungen führte. Die Verbraucherausgaben sinken, bei der Mehrheit der Bevölkerung steigt die Schuldenlast. Die Inflation ist auf den offiziellen Stand von 6,5 Prozent gestiegen, und die Kosten für grundlegende Lebensmittel sind noch stärker angestiegen.

Während sich die Zahl der Universitätsabgänger in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat, ist die große Mehrheit der Graduierten nicht in der Lage, Stellen in ihrem Bereich und mit angemessener Bezahlung zu finden.

Diese Jugendlichen, Studenten und Universitätsabgänger, machen einen Großteil der Demonstranten aus, die diese Woche in Brasilien auf die Straße gingen. Die meisten von ihnen nahmen zum ersten Mal an gesellschaftlichen Massenveranstaltungen teil.

Die unweigerliche politische Verwirrung einer solchen spontanen Bewegung wurde dann am Donnerstag von rechtsextremen Kräften ausgenutzt. Schlägertrupps wurden auf Gruppen von linken Demonstranten und die wenigen Gewerkschaftsmitglieder gehetzt, die an den Demonstrationen teilnahmen. Ihre Banner wurden zerrissen und verbrannt; sie wurden mit Pfefferspray, Blendgranaten und Metallstangen angegriffen und letzten Endes gezwungen, die Demonstration zu verlassen. Dies geschah in Sao Paulo, Rio und mehreren anderen Städten. Das deutet auf eine gut organisierte Kampagne hin, die zweifellos mit der Polizei und vielleicht auch mit dem Militär koordiniert war.

Die Rechte versucht, die politische Richtung der Proteste von einem Kampf für soziale Gleichheit abzubringen. Sie riefen Parolen wie: "Keine Parteien" und kritisierten politische Korruption, hohe Steuern und Verbrechen.

Obwohl die Mehrheit der Demonstranten nichts von diesen unheimlichen Ereignissen erfuhr, ist die Tatsache, dass faschistische Schläger ungestraft handeln können, politisch bedeutsam.

Viele Demonstranten haben ihr ganzes politisch bewusstes Leben unter der Regierung der Arbeiterpartei (PT) und ihrer Präsidenten, des ehemaligen Gewerkschaftsführers Luiz Inacio da Silva und seiner handverlesenen Nachfolgerin Dilma Rousseff verbracht. Die Arbeiterpartei war die letzten zehn Jahre über an der Macht.

Die PT wurde im Jahr 1980 nach großen Massenstreiks gegründet, welche die Militärdiktatur erschütterten. Sie und der ihr nahestehende Gewerkschaftsbund CUT verfolgten von Anfang an das Ziel, diese militante Bewegung der brasilianischen Arbeiterklasse wieder unter die Kontrolle des bürgerlichen Staates zu bringen.

Dennoch hat sich eine ganze Reihe von pseudolinken Organisationen der Aufgabe gewidmet, Illusionen zu schüren, die PT könnte zu einer revolutionären Organisation werden, die in Brasilien den Sozialismus aufbauen werde.

Als die PT auf kommunaler und bundesstaatlicher Ebene Wahlen gewann, rückte ihre Politik immer weiter nach rechts, bis Lula schließlich im Jahr 2002 zum Präsidenten gewählt wurde. Das brasilianische und internationale Kapital sah die PT als die beste Verteidigerin seiner Interessen gegen eine Revolution von unten. Lula hatte zugesagt, die vom IWF diktierte Wirtschaftspolitik seiner Vorgänger fortzusetzen.

Mehrere pseudolinke Organisationen wurden aus der PT ausgeschlossen, während andere blieben und ihre Mitglieder in Führungspositionen aufstiegen. Was das pablistische Vereinigte Sekretariat angeht, traf beides zu.

Ein Teil seiner brasilianischen Sektion wurde ausgeschlossen und gründete eine neue Partei, die der ursprünglichen PT ähnelte, die Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL). Andere blieben, und eins ihrer Mitglieder, Miguel Rossetto, wurde Minister für Landwirtschaftsreformen und ein Handlanger der Interessen der Großgrundbesitzer.

Auch andere, die sich bisher als Trotzkisten bezeichnet hatten, machten Karriere: So wurde Antonio Palocci Finanzminister der Lula-Regierung, und Luiz Gushiken übernahm als Direktor das Amt für soziale Kommunikation. Beide wurden seither wegen Skandalen um Korruption und Stimmenkauf im Umfeld der PT-Regierung angeklagt.

Diese pseudolinken Elemente, die allesamt eine völlig nationalistische Orientierung vertreten, spielen die kriminelle Rolle, einer rechten kapitalistischen Partei ein "sozialistisches" Mäntelchen umzuhängen, obwohl diese Partei sämtliche sozialen Kämpfe systematisch den Interessen des Großkapitals und des brasilianischen Staates unterordnet. Sie tun dies vor allem, indem sie die Gewerkschaften unterstützen, die von der Bevölkerung schon lange nicht mehr als Kraft für sozialen Wandel angesehen werden, und die sich heute deutlich von der aktuellen Protestbewegung distanzieren.

Dies hat es der brasilianischen Rechten ermöglicht, die Wut der Bevölkerung über den korrupten, pro-kapitalistischen Apparat der PT auszubeuten und reaktionären Populismus zu schüren, der sich bei den jüngsten Protesten gezeigt hat. Daraus erwachsen große Gefahren für ein Land, das zwanzig Jahre von einer Militärdiktatur beherrscht wurde, und in dem kein Verantwortlicher je für die Morde, Folterungen, illegalen Verhaftungen und andere Verbrechen vor Gericht gestellt wurde.

Wie in der Türkei und anderen Ländern werden auch in Brasilien bald die Grenzen der spontanen Massendemonstrationen sichtbar werden. Angesichts dieser Ereignisse und der Krise des brasilianischen und internationalen Kapitalismus besteht die dringende politische Aufgabe darin, sich der Arbeiterklasse zuzuwenden und eine neue revolutionäre Führung auf der Grundlage von Sozialismus und Internationalismus aufzubauen.

Dies erforderte eine gnadenlose politische Kritik an der PT und den pseudolinken Gruppen und Gewerkschaften in ihrem Umfeld. Dies ist notwendig, um die brasilianischen Arbeiter mit einer revolutionären Perspektive zu bewaffnen und ihre Unabhängigkeit von allen Teilen der Bourgeoisie herzustellen.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 25.06.2013
Massenproteste in Brasilien und die Krise der revolutionären Führung
http://www.wsws.org/de/articles/2013/06/25/bras-j25.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2013